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Traurige Jugend

UNICEF-Bericht: 1,1 Millionen Kinder in Deutschland leben langjährig in Armut

Von Simon Poelchau *

Eine bedingungslose Grundsicherung für Kinder könnte effektiv vor Jugendarmut schützen. Davon hätte auch die Gesellschaft etwas.

Vor rund drei Jahrzehnten brachte das Nachrichtenmagazin »Stern« das Buch »Kind in Deutschland« heraus. Der Untertitel lautete »Eine traurige Bilanz«. Für viele Heranwachsende in der Bundesrepublik gilt diese Aussage noch immer. Das zeigt der am Donnerstag veröffentlichte UNICEF-Bericht zu Lage der Kinder in Deutschland. Demnach mussten in den Jahren zwischen 2000 und 2010 rund 8,6 Prozent der deutschen Kinder und Jugendlichen langfristige Armutserfahrungen machen.

Die Lage der Minderjährigen ist also nicht so rosig, wie gemeinhin angenommen. So kann Deutschland zwar Fortschritte bei Bildung und Gesundheit verzeichnen und schneidet im internationalen Vergleich der Industrienationen beim kindlichen Wohlbefinden im oberen Drittel ab. Doch bergen diese Durchschnittswerte die Gefahr, »dass gravierende Probleme eines Teils der Kinder nicht gesehen werden«, erklärt der deutsche UNICEF-Vorsitzende Jürgen Heraeus. Diese 1,1 Millionen jungen Menschen, die mehr als ein Drittel ihrer Kindheit in Armut leben müssen, will das Kinderhilfswerk frühzeitiger und besser unterstützt sehen.

Denn je länger die Phasen der Benachteiligung in den ersten Lebensabschnitten ist, desto gravierender sind die Folgen. Nicht nur materiell, wie die Studie zeigt: Wer als Kind dauerhaft unterhalb der Armutsgrenze leben musste, ist demnach als Erwachsener deutlich unzufriedener mit seinem Leben. Denn früh erlebte Hoffnungslosigkeit macht es schwer, Herausforderungen im weiteren Leben zu meistern.

Dabei sind die Investitionen in die Jugend auch jenseits des moralischen Aspektes gut angelegt. So wies der Nobelpreisträger James Heckman nach, dass sich die Förderung benachteiligter Kinder auch finanziell für die Gesellschaft auszahlt. Denn so gibt es weniger Schulabbrecher, Teenagerschwangerschaften und Kriminalität und dafür bessere Bildungsabschlüsse und eine höhere Produktivität. Je früher diese Kinder gefördert werden, desto höher ist quasi die Rendite.

»Deswegen müssten wir die besten Kitas und Schulen eigentlich in den Bezirken mit den größten Problemen haben«, erklärt der Herausgeber des UNICEF-Berichts, Hans Bertram. Doch reiche der Ausbau von Krippen und Ganztagsschulen nicht aus, um das Wohlbefinden und die Teilhabe von Kindern zu sichern.

Denn oft geht es den Minderjährigen auch schlecht, weil ihnen ein zu großer Erfolgsdruck eingebläut wird. So zeigen Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass fast die Hälfte der Kinder zwischen 11 und 15 Jahren mit ihren Schulleistungen nicht zufrieden sind. Diese Jugendliche orientieren sich deswegen nicht erfolgsorientiert, sondern haben vielmehr Angst vor ihren Misserfolgen.

Um wirklich etwas bewegen zu können, reicht Bertram zufolge die alte Familienpolitik nicht mehr aus. Diese passe nur noch zu einem Teil der heutigen Familien. So sind vor allem Kinder von Alleinerziehenden von Armut betroffen. Und deren Zahl nimmt stätig zu: Wurde im Jahr 1996 jeder siebte Minderjährige von nur einem Elternteil betreut, war es im Jahr 2009 schon fast jeder Fünfte.

Langfristig wäre der UNICEF-Studie zufolge eine bedingungslose Kindergrundsicherung ein effektiver Weg, Kinderarmut drastisch zu verringer. Von der neuen Bundesregierung fordert das Hilfswerk, dass es zumindest mit den Ländern und Kommunen konkrete Ziele zur Überwindung der Mittellosigkeit von Minderjährigen entwickelt und umsetzt. Konkret heißt das für UNICEF, die Anzahl der Betroffenen in den nächsten Jahren zu halbieren.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 25. Oktober 2013


Dem Nachwuchs zuliebe

Von Simon Poelchau **

Kind sein, das ist nicht immer leicht in Deutschland. Zumindest dann nicht, wenn man zu den rund 1,1 Millionen Minderjährigen gehört, die in Armut leben müssen, wie der Bericht des Kinderhilfswerks UNICEF zeigt.

Dabei könnte die Politik einiges machen, um die Lage der jungen Bevölkerung erheblich zu verbessern. Zunächst müsste jedoch mit weiten Teilen der Familienpolitik gebrochen werden. Denn diese ist noch immer auf das überholte Vater-Mutter-Kind-Modell ausgerichtet, obwohl besonders Kinder von Alleinerziehenden von Armut und anderen Benachteiligungen betroffen sind. Konservative Geister könnten nun dem Wohl des Nachwuchses zuliebe die moralische Stärkung der Ehe fordern. Doch ob den Heranwachsenden damit geholfen wird, ist fraglich: Wenn die Eltern sich die ganze Zeit streiten, weil sie nicht zusammen passen, oder sogar Gewalt in der Familie herrscht, ist dies alles andere als gut für die Kindheit.

Aber Kinder Alleinerziehender müssen nicht in Armut leben. Entscheidend ist die ökonomische Situation der Eltern. Diese sollten von der Gesellschaft unterstützt werden, damit sie einer auskömmlichen Arbeit nachgehen können. Dies ist möglich. Doch dürfen Jugendzentren, Ganztagsschulen und andere Orte der Förderung dann nicht dem Sparzwang zum Opfer fallen.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 25. Oktober 2013 (Kommentar)


»Gelernte Hoffnungslosigkeit«

UNICEF: Neun Prozent der Kinder in der BRD mit langjährigen Armutserfahrungen ***

Benachteiligte Kinder und Jugendliche in Deutschland laufen laut einer UNICEF-Studie Gefahr, dauerhaft abgehängt zu werden. Zwischen 2000 und 2010 machten rund 8,6 Prozent der Kinder langjährige Armutserfahrungen, wie aus einem am Donnerstag in Berlin vorgestellten Bericht des UN-Kinderhilfswerks hervorgeht. Die meisten dieser Kinder lebten sieben bis elf Jahre lang in einem Haushalt, der mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens auskommen mußte. Am häufigsten betroffen ist nach wie vor der Nachwuchs Alleinerziehender. 40 Prozent dieser Kinder lebten unterhalb der Armutsgrenze, sagte der Geschäftsführer von UNICEF Deutschland, Christian Schneider, in Berlin. Als arm gelten Familien mit nur einem Elternteil bei einem monatlichen Einkommen bis 1300 Euro. Auch Kinder Arbeitsloser und Migranten sind besonders betroffen.

Von der neuen Bundesregierung forderte die Organisation verstärkte Anstrengungen zur Verbesserung der Lage. »Wir müssen die am stärksten benachteiligten Kinder frühzeitiger und umfassender unterstützen«, sagte der Berliner Sozialwissenschaftler und Herausgeber des aktuellen UNICEF-Berichts zur Lage von Kindern in Deutschland, Hans Bertram. Der Ausbau von Krippen, Kitas und Ganztagsschulen allein reiche nicht aus. Laut Studie haben Armutserfahrungen starke negative Auswirkungen auf die geistige und psychische Entwicklung, wenn sie mindestens ein Drittel der Kindheit andauern. »Gelernte Hoffnungslosigkeit« mache es den Betroffenen schwer, Herausforderungen im weiteren Leben zu meistern, mahnte Jürgen Heraeus, Vorsitzender von UNICEF Deutschland. Er forderte CDU, CSU und SPD auf, im Koalitionsvertrag das Ziel festzuschreiben, die Zahl von rund einer Million langfristig in Armut lebenden Kindern und Jugendlichen zu halbieren. Christian Schneider sprach sich für eine Kindergrundsicherung von 500 Euro im Monat nach dem Modell des Kinderschutzbundes aus. Dagegen hält UNICEF das Kindergeld in seiner bisherigen Form für eine »sehr ineffiziente Maßnahme« zur Armutsbekämpfung. Es müsse vielmehr nach Einkommen gestaffelt gezahlt werden.

Die Organisation verwies darauf, daß benachteiligte Kinder zielgenaue und frühzeitige Förderung sowie gut ausgebildete Lehrkräfte benötigten. Auch sollten die Rechte der Kinder ausdrücklich im Grundgesetz verankert werden.

*** Aus: junge Welt, Freitag, 25. Oktober 2013


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