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Späte Erkenntnis eines "politischen Irrtums"

Der "Radikalenerlass" in der Regierungszeit von Willy Brandt führte zu einer Welle von Berufsverboten im Öffentlichen Dienst, vor allem an Schulen und Universitäten

Von Frank Behrens *

Es war eine der dunkleren Seiten in Brandts politischer Laufbahn: Linke Gesinnung und Engagement wurden als »verfassungsfeindlich« gestempelt.

»Wir wollen mehr Demokratie wagen« – mit diesem Satz in seiner ersten Regierungserklärung weckte Willy Brandt 1969 zahlreiche Hoffnungen. In mindestens einem Punkt wurden sie herb enttäuscht: Am 28. Januar 1972 fassten die Ministerpräsidenten der Bundesländer unter Brandts Vorsitz den »Extremistenbeschluss«.

Dieser erlaubte, Bewerbern für den Öffentlichen Dienst die Einstellung zu verweigern oder das Dienstverhältnis mit ihnen zu beenden, wenn sie Mitglied einer »verfassungsfeindlichen Organisation« waren. Es traf fast ausnahmslos Linke, vor allem im Schuldienst – in einigen bizarren Fällen auch Postbeamte. Als »verfassungsfeindlich« galten damals neben der DKP und anderen kommunistischen Gruppen unter anderem auch die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes.

Schon vor dem bundesweiten »Radikalenerlass« waren insbesondere SPD-regierte Länder vorgeprescht: In Hamburg durfte 1971 ein DKP-Mitglied nicht Lehrer werden, kurz darauf erhielt die Tochter eines von den Nazis hingerichteten kommunistischen Widerstandskämpfers Berufsverbot als Lehrerin. Ebenfalls 1971 wurde dem Soziologen Horst Holzer vom Bremer Senat die Berufung an die Universität wegen seiner Mitgliedschaft in der DKP verwehrt.

Mich ereilte es ein Jahr nach dem »Extremistenbeschluss«, 1973. Meine Arbeit zur zweiten Lehrerprüfung wurde »aus verfassungsrechtlichen Gründen« von einer »Eins« in »Ungenügend« umgenotet. Der Vorwurf lautete: »Indoktrination« der Schüler und »marxistischer Glaubenseifer«. Mit meinen Schülern hatte ich das Thema »Arbeit – Ein Unterrichtsprojekt in der Grundschule« erörtert. Der Bremer Bildungssenator Moritz Thape (SPD) räumte 1975 nach anfänglichem Bestreiten ein, dass auch in meinem Fall die DKP-Mitgliedschaft der Grund war, mich aus dem Schuldienst entfernen zu wollen.

Dem staatlichen Verdikt folgte nicht selten der Entzug gewerkschaftlicher Solidarität, später die förmlich an den »Radikalenerlass« angelehnten »Unvereinbarkeitsbeschlüsse« der Gewerkschaften mit hundertfachen Ausschlüssen. Die Bitte des Bundesvorsitzenden des Ausschusses junger Lehrer und Erzieher der GEW, Rüdiger Offergeld, dessen Stellvertreter ich damals war, sich für mich einzusetzen, wies der GEW-Vorsitzende Erich Frister mit den Worten ab, dass »Behrens ein führender Funktionär der DKP« sei. Erst nach sechsjähriger gerichtlicher Auseinandersetzung veranlasste der Bremerhavener Magistrat, dass die Vorwürfe zurückgezogen wurden. Glücklicher Ausgang der Geschichte: Gute 20 Jahre nach meiner Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit wurde ich zum Leiter des Lehrerfortbildungsinstituts der Stadt Bremerhaven berufen. 2011 lud der Magistrat zu meiner Verabschiedung aus dem Schuldienst ein.

Für viele meiner Kolleginnen und Kollegen lief es bitterer: Sie blieben vom Berufsverbot betroffen, erlebten existenzielle Nöte, mussten sich einen anderen Job suchen, Rehabilitierungen blieben aus, Lebenswege wurden zerstört. Statistiken zählen zwischen einer und über drei Millionen Ausforschungen durch den Verfassungsschutz bis in die 1980er Jahre. In weit mehr als 10 000 Fällen wurden Berufsverbote eingeleitet oder einschüchternd angedroht, rund 1500 Personen aufgrund des »Radikalenerlasses« aus dem Öffentlichen Dienst geworfen bzw. dort nicht zugelassen.

Dass er und seine Regierung für dieses Gegenteil von »Demokratie wagen« verantwortlich waren, darüber besorgte Willy Brandt sich später, nach massiven Protesten im In- und Ausland: Er sprach von einem »Irrtum« und erklärte es zum »demokratisch-rechtsstaatlichen Gebot«, die »negativen Folgen des einstigen Ministerpräsidentenbeschlusses zu bereinigen«. So ganz unumwunden mochte er den eigenen »politischen Fehler« dennoch nicht einräumen: Der Beschluss habe eigentlich »helfen« sollen, »das gebotene Maß an Rechtssicherheit herzustellen«, es habe jedoch »Missbrauch« und eine »Verselbstständigung« gegeben, »zahlreiche Behörden« hätten eine »Eigendynamik« entwickelt, ihn »restriktiv ausgelegt« (Sozialdemokratischer Pressedienst vom 10. Mai 1978).

Doch Brandt selbst war nicht mehr der tatsächliche Akteur einer Korrektur. Beerdigt wurde der »Radikalenerlass« 1979 von seinem Nachfolger Helmut Schmidt, dem der Ruf, ein forscher Demokrat zu sein, weder voraus- noch nacheilte. Einige Bundesländer hielten indes bis in jüngere Zeit daran fest, in einzelnen Fällen Berufsverbote wegen der politischen Gesinnung zu verhängen

* Aus: neues deutschland, Montag, 16. Dezember 2013


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