"Auch Kissinger müsste zittern"
Warum die USA gegen den Strafgerichtshof sind
Der folgende Text von Andreas Zumach, Genf, erschien in der letzten Woche u.a. in der Schweizerischen Wochenzeitung WoZ. Die Kampagne der USA gegenüber der Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH, die englische Abkürzung lautet ICC-International Criminal Court) schlug auch in der Schweiz Wogen, nachdem bekannt wurde, dass die USA auch die Schweiz dazu bringen wollte, mit ihnen ein Immunitätsabkommen für US-Personal abzuschließen. Wir dokumentieren die wesentlichen Aussagen von Andreas Zumach.
Von Andreas Zumach, Genf
... Der aktuelle Versuch der
Regierung von George
Bush, durch bilaterale Abkommen mit rund 150 Staaten
einen weltweiten
Immunitätsschutz für US-BürgerInnen durchzusetzen,
ist Teil dieser
Kampagne. Die Schweizer Regierung hat diesem Ansinnen
letzte Woche
eine deutliche Absage erteilt. Zuvor bemühte sich die
Regierung von Bill
Clinton 1998 in Rom bei den Verhandlungen über das
Statut für den
IStGH um eine Verwässerung dieses Dokumentes. Mit nur
mässigem
Erfolg. Danach scheiterte im Frühjahr dieses Jahres
der Versuch
Washingtons, mit Druck und Erpressungsmanövern die
für das Inkrafttreten
des Statuts erforderliche Ratifikation durch
mindestens sechzig Staaten zu
verhindern. Seit der Konferenz von Rom haben
PolitikerInnen und
KommentatorInnen in Europa immer wieder
«Unverständnis» über die
Bedenken der USA geäussert. Angesichts einer
«funktionierenden
unabhängigen Justiz» in den USA sei es «höchst
unwahrscheinlich», dass
sich jemals einE US-BürgerIn vor dem IStGH
verantworten müsse. Soweit
dieses Argument taktisch eingesetzt wurde, um die
IStGH-KritikerInnen in
den USA zu einer Änderung ihrer Haltung zu bewegen,
ist es gescheitert –
auch deshalb, weil es im Kern falsch ist. ...
Die USA haben durchaus Anlass zur Sorge, der IStGH
könnte eines Tages
gegen BürgerInnen ihres Landes ermitteln. Das zeigt
ein Blick in die
Vergangenheit. Was wäre gewesen, wenn der IStGH schon
in den
sechziger Jahren existiert hätte? Während des
Vietnamkrieges begingen die
US-Streitkräfte in My Lai und dreissig weiteren Orten
Massaker an der
Zivilbevölkerung, die grösstenteils ungeahndet
blieben. Diese Verbrechen,
denen tausende von ZivilistInnen zum Opfer fielen,
gehören zu den heute
vom IStGH-Statut erfassten Straftatbeständen. Doch
vor ein US-Gericht
kam seinerzeit lediglich Lieutenant William Calley,
der
Hauptverantwortliche des Massakers von My Lai. Obwohl
wegen Mordes
verurteilt, wurde er bereits nach kurzer Haft
entlassen. Auch die
Verbrechen in Laos, Kambodscha und beim Militärputsch
in Chile, wegen
deren seit einiger Zeit Staatsanwälte und
Ermittlungsrichter verschiedener
Länder gegen den ehemaligen US-Aussenminister Henry
Kissinger
ermitteln, gehören zu den vom IStGH-Statut erfassten
Straftatbeständen.
Denkbar wäre künftig auch, dass die Verwendung von
Splitterbomben
oder von mit abgereichertem Uran versetzter Munition,
die die USA im
Irak, in Serbien und in Afghanistan einsetzten, wegen
ihrer verheerenden
Wirkung für die Zivilbevölkerung zu einem schweren
Verstoss gegen die
Genfer Konventionen erklärt wird. ... Der
Umstand, dass die
Chefanklägerin des Internationalen Tribunals für das
ehemalige Jugoslawien
eine gegen die USA und ihre Nato-Verbündeten
gerichtete Klage wegen
der Kriegsführung gegen Jugoslawien nicht sofort
verworfen, sondern einer
Vorprüfung unterzogen hat, verstärkte in Washington
die Ahnung, dass
knapp sechzig Jahre nach den wesentlich von den USA
bestimmten
Kriegsverbrechertribunalen von Nürnberg und Tokio
Verfahren gegen
US-BürgerInnen vor Institutionen internationaler
Justiz nicht völlig
undenkbar sind.
Der IStGH ist von grundsätzlicher Bedeutung für die
USA und für die
künftige Entwicklung des Völkerrechts. Er ist erst
die zweite multilaterale
Institution seit der Gründung der Uno 1945, die auch
für die USA
verbindliche Beschlüsse fassen kann – und in der die
US-Regierung nicht
zugleich mit dem Mittel ihrer Vetomacht (wie im
Uno-Sicherheitsrat) den
Gang der Dinge bestimmen kann. Die erste solche
Institution war die 1994
geschaffene Welthandelsorganisation (WTO). In der WTO
sind die USA
einer von 142 formell gleichberechtigten
Mitgliedstaaten. ... Eben aus diesem Grund votierten Anfang der neunziger
Jahre nicht nur
extrem konservative Politiker gegen einen Beitritt
der USA zur WTO. In
der inneramerikanischen Debatte obsiegten aber die
«Realisten», die darauf
vertrauten, dass die USA ihre Interessen innerhalb
der WTO dank ihrer
Wirtschaftsmacht auch ohne formale Privilegien würden
durchsetzen
können. Diese Erwartung hat sich bisher auch
bestätigt. Doch ihre
Wirtschaftsmacht nützt den USA wenig gegen unliebsame
Ermittlungen
oder Urteile des IStGH. Urteile nachträglich nicht
anzuerkennen, wäre im
Fall des IStGH wirkungslos. Zumal sich verurteilte
US-BürgerInnen bereits
im Gewahrsam des IStGH in Den Haag befinden würden,
denn laut
IStGH-Statut sind nur Verfahren gegen Angeklagte
möglich, die anwesend
sind. Eine Umsetzung der vom Kongress formulierten
Drohung, in Den
Haag – auf dem Territorium des Nato-Partners
Niederlande – inhaftierte
US-BürgerInnen notfalls mit militärischer Gewalt zu
befreien (vgl. hierzu
"Es ist den USA streng verboten, mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusammenzuarbeiten"), würde wohl
das Ende der Nato bedeuten.
Die USA waren federführend beteiligt an der
Entwicklung des
Völkerrechts und seiner Institutionen. Gemäss ihren
nationalstaatlichen
Interessen, aber auch zum Wohl anderer Staaten. Eine
Unterstützung der
USA für den IStGH würde in der Tat die Zustimmung zu
einer
Weiterentwicklung des Völkerrechts unter einer
veränderten Bedingung
bedeuten: Erstmals seit 1945 wäre mit dieser
Zustimmung ein
Souveränitätsverzicht der USA verbunden. ...
Aus: Wochenzeitung (WoZ), 22. August 2002
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