"Wir werden weiter am Ball bleiben ..."
Wolfgang Kaleck über die Ahndung von Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsverbrechen zum 10. Jahrestag des IStGH *
Es hat über ein Jahrhundert gedauert, der Kalte Krieg zwischen West und Ost musste erst beendet sein, ehe das mit dem Nürnberger Tribunal der Alliierten gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher 1945/46 - vor allem wegen des Jahrhundertverbrechens, für das Auschwitz als Synonym steht - begründete moderne Völkerstrafrecht seine institutionalisierte Form gefunden hat: mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) im niederländischen Den Haag, dessen sogenanntes Rom-Statut vor zehn Jahren, am 1. Juli 2002, in Kraft trat.
Über Chancen und Grenzen der Ahndung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen heute sprach Karlen Vesper für das "neue deutschland" (nd) mit dem Berliner Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck (Jg. 1960), Generalsekretär das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und Autor des Buches "Mit zweierlei Maß. Der Westen und das Völkerstrafrecht".
nd: Seit zehn Jahren gibt es den IStGH: Sind Sie zufrieden, Herr Kaleck?
Kaleck: Ja und Nein. Nein, weil die internationale Strafjustiz stets eine zu späte Reaktion auf schlimme Menschenrechtsverletzungen ist. Priorität sollte deren Vermeidung haben. Unzufrieden bin ich auch, weil die Strafverfolgung auf internationaler Ebene selektiv erfolgt. Aber ja, der IStGH und eine damit korrespondierende Strafverfolgung vor nationalen Gerichten ist ein Schritt in die richtige Richtung. Kein Täter soll sich vor Strafverfolgung sicher fühlen.
Kann die selektive Ahndung von Verbrechen, derzeit vornehmlich von in Afrika begangenen, durch die neue Chefanklägerin aus Gambia korrigiert werden?
Dass vorwiegend afrikanische Tatverdächtige in Den Haag vor Gericht stehen, ist ein Problem, das weniger mit Vorurteilen des Den Haager Personals zu tun hat als viel mehr mit der Konstruktion des Gerichtshofes und den Entscheidungen des UN-Sicherheitsrates. Ich wünschte mir auch eine Strafverfolgung der westlichen Kriegsverbrechen, zum Beispiel von US-Militärs nach dem 11. September 2001 in Irak oder Afghanistan wie auch den von Israel begangenen. Es muss nicht immer die Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofes eingreifen. Aber ich hoffe, dass die neue Chefanklägerin etwas resoluter auch gegen westliche Akteure vorgeht.
Favorisieren Sie die Anklage vor nationalen Gerichten oder internationalem Tribunal?
Gerichtsverfahren können bestenfalls nur ein Mosaikstein in der grundsätzlich notwendigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord sein. Damit sie eine gesellschaftliche Wirkung entfalten können, sollten sie bestenfalls an den Orten stattfinden, wo die Verbrechen begangen oder geplant worden sind. Das gelingt nicht immer, wie wir alle wissen, weil diejenigen, die zur Tatzeit an der Macht waren, noch mächtig genug sind, die Strafverfolgung zu verhindern. Die zweitbeste Lösung wäre dann eine Strafverfolgung auf internationaler Ebene, zum Beispiel durch den IStGH. Und die drittbeste Lösung ist eine Strafverfolgung im Wege der sogenannten universellen Jurisdiktion durch dritte Nationalstaaten. Beispiel: Spanien im Pinochet-Fall.
Der IStGH ist also eher ein »Ausputzer«?
Ja, das ist im Rom-Statut so vorgesehen. Es gilt das Prinzip der Komplementarität: Nur dann, wenn Staaten nicht fähig und nicht willens sind, eigene Verbrechen aufzuarbeiten, kommt als letzte Möglichkeit der IStGH infrage.
Internationalen Tribunale haftet oft der Geruch von »Siegerjustiz« an wie im Fall Jugoslawien.
Schon der Gebrauch des Begriffes »Siegerjustiz« durch die Verteidiger der Nazi-Angeklagten der Nürnberger Prozesse 1945/46 und die deutsche Juristenkaste belegt, wie ambivalent dieser ist. Es herrscht heute Konsens, dass die Nürnberger Prozesse der vier Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkrieges ein großer historischer Fortschritt waren. Als Problem bleibt jedoch, dass die Maßstäbe, die in Nürnberg oder in nachfolgenden Prozessen von Siegern gegen Besiegte Anwendung fanden, nicht auch auf mächtige und nicht-besiegte Staaten angewandt werden. Das ist ein großes Manko und eine Herausforderung für alle, die eine tatsächlich universelle Strafjustiz fordern - auch gegen jene, die scheinbar unberührbar sind, in ihrer Machtvollkommenheit bisher unangetastet.
Sie hatten Anzeige gegen den ehemaligen US-Verteidigungsminister und Architekten des Irak-Feldzuges Donald Rumsfeld sowie CIA-Cef George Tennet in Karlsruhe gestellt. Gehört eine solche nicht vor das IStGH?
Der IStGH wird nur dann aktiv, wenn der UN-Sicherheitsrat das Verfahren nach Den Haag verweist. Und da die USA Veto-Macht sind, wird es nie zu einer positiven Entscheidung kommen. Allerdings hätten europäische Staaten die Möglichkeit, in Guantánamo, in Abu-Ghoraib und sonst wo begangene Kriegsverbrechen der USA zu ahnden. Deshalb haben wir in Deutschland, Frankreich und in Spanien versucht, eine Strafverfolgung zu initiieren. In Spanien läuft immerhin noch ein Verfahren gegen die Verantwortlichen für Folter in Guantánamo.
Aber nicht hierzulande?
Wir haben einen ersten Anlauf gewagt. Wir wissen natürlich, dass wir hier nicht mit einer möglichst intelligent und eloquent geschriebenen Strafanzeige im »Hopplahopp-Verfahren« die konservative Strafjustiz überzeugen können, auch gegen die USA einzuschreiten. Es bedarf eines länger dauernden rechtlichen Kampfes, auch einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung darum. Und deswegen kann ich den zynischen Kommentar auch von vielen Linken überhaupt nicht teilen: »Wir haben es ja gleich gesagt, das ist aussichtslos.« Wer sich nicht bemüht, wird nie Erfolg haben.
Ich bin aber optimistisch, dass in Zusammenarbeit mit lokalen sozialen Bewegungen, mit Nichtregierungsorganisationen und Instanzen in betroffenen Ländern wie auch außerhalb dieser eine Aufarbeitung und Ahndung von Völkerrechtsverbrechen gelingen kann. Wir werden weiter am Ball bleiben, um die deutsche Justiz zu bewegen, auch in politisch nicht genehmen Fällen zu ermitteln.
Wolfgang Kaleck: Mit zweierlei Maß. Der Westen und das Völkerstrafrecht, Wagenbach Verlag, 142 S., geb., 15,90 €
* Aus: neues deutschland, Montag, 2. Juli 2012
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