Fortschritt oder Stagnation
Hintergrund. Zehn Jahre Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag
Von Wolfgang Kaleck *
In den letzten Wochen tat sich etwas in der internationalen Strafjustiz: Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag verhängte in seinem ersten Urteil gegen den kongolesischen Warlord Thomas Lubanga zwanzig Jahre Freiheitsstrafe das UN-Tribunal für Sierra Leone verurteilte als ersten Staatschef seit Nürnberg den ehemaligen Diktator von Liberia, Charles Taylor, zu fünfzig Jahren Haft, weil er im Nachbarland Sierra Leone Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterstützt hat, und schließlich begann vor dem UN-Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien die Hauptverhandlung gegen Ratko Mladic wegen des Massakers von Srebrenica. Jedes dieser Verfahren wird kritisiert; so wurde beispielsweise bei Lubanga die sechsjährige Verfahrensdauer angemahnt, zumal der Angeklagte diese in Untersuchungshaft verbringen mußte, die Den Haager Ankläger wurden im Urteil vom Gericht erneut dafür gerügt, daß sie versucht hatten, der Verteidigung den Zugang zu Beweismittel zu erschweren und damit die Fairneß des Verfahrens bedrohten.
Vor allem ein Topos steht im Vordergrund: Charles Taylors wortgewaltiger Verteidiger Courtenay Griffiths nutzte jede Gelegenheit, um die Anklage gegen seinen Mandanten als Siegerjustiz der Mächtigen zu brandmarken. Exgeneral Ratko Mladic spricht dem Jugoslawien-Tribunal als NATO-Gericht jedwede Legitimität ab. Der IStGH wird ohnehin vor allem von afrikanischen Staatsmännern als Sondergericht für Afrika diskreditiert.
Nürnberg als Präzedenzfall
Vor einem linken Publikum sollte daran erinnert werden, daß sich bereits die Nazikriegsverbrecher in Nürnberg mit dem Argument verteidigten, die Nürnberger Prozesse und die Nachfolgeverfahren seien bloße Siegerjustiz. Teilweise brachten sie sogar vor, auch die Alliierten hätten sich verbrecherischer Methoden bedient: Auch du – tu quoque – lautete ihr Argument. Noch lange nach Kriegsende lehnten deutsche Juristen die Prozesse ab, und diese Ablehnung war Bestandteil des antikommunistischen Konsens der bundesrepublikanischen Gesellschaft.
Nürnberg und Tokio waren sicherlich von den alliierten Siegern des Zweiten Weltkriegs durchgeführte Tribunale, doch »Siegerjustiz« in dem Sinne, also ohne jeden Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren, wie ihn die sich selbst verteidigenden Nazieliten und später die Geschichtsrevisionisten gebrauchten, waren sie nicht. Für ihre Zeit stellten die Prozesse vielmehr avantgardistische Veranstaltungen dar, die die normative Grundlage für eine internationale Strafjustiz schufen. Auch angesichts der Dimension der Verbrechen des NS-Systems lief der tu-quoque-Einwand der in Nürnberg Angeklagten ins Leere, selbst wenn den Alliierten auch Kriegsverbrechen vorzuwerfen waren. Otto Kirchheimer, der in die USA emigrierte Verfasser des Klassikers »Politische Justiz«, befindet, daß gemessen an dem Kriterium einer »gleichsam schöpferischen Spannung des nicht festgelegten Ausgangs« sei Nürnberg kein Scheinprozeß gewesen. Entlang dieser von Kirchheimer aufgezeigten Pole (politischer Schauprozeß und faires Strafverfahren mit der realen Möglichkeit eines Freispruches und – sehr zum Leidwesen vieler Betrachter – mit dem Recht der Angeklagten auf Verteidigung), bewegen sich alle seitdem durchgeführten Völkerstrafverfahren.
Vor allem die US-amerikanischenAnkläger proklamierten die Prozesse als Auftakt für eine künftige universelle Strafjustiz. Bis heute werden Robert H. Jacksons Worte zur Prozeßeröffnung vom 21. November 1945 oft zitiert: »Lassen Sie es mich deutlich machen: Auch wenn dieses Recht hier erstmals gegen die Aggressoren angewandt wird, gehört zu diesem Recht, wenn es Sinn machen soll, daß es Aggressionen durch jede andere Nation verurteilen muß, einschließlich derer, die hier gerade das Gericht bilden. Wir sind nur dann in der Lage, Tyrannei und Gewalt und Aggression durch die jeweiligen Machthaber gegen ihr eigenes Volk zu beseitigen, wenn wir alle Menschen gleichermaßen dem Recht unterwerfbar machen.«
Jahre der Straflosigkeit
Die Praxis der Verfolgung von Völkerstraftaten seit den Nürnberger Präzedenzurteilen sieht anders aus – wie wir alle wissen. Zwar wurde 1948 die Allgemeine Menschenrechtserklärung verabschiedet, dennoch begingen alle Großmächte und vor allem die westlichen Kolonialmächte Völkerstraftaten, die weitestgehend ungeahndet blieben. Immerhin war die Opposition gegen den Vietnam-Krieg so stark, daß die Kriegsverbrechen der USA weltweit skandalisiert werden konnten; nicht zuletzt in einem Russell-Meinungs-Tribunal, als dessen Ziel Jean-Paul Sartre formulierte: »das in Nürnberg früh geborene Gesetz zum Leben zu erwecken und anstelle des Rechts des Dschungels ethische und juristische Regeln einzusetzen«. Linke Politik bestand also darin, die Einhaltung menschenrechtlicher Standards auch gegenüber den westlichen Staaten zu reklamieren, diese Forderung allerdings mit weit darüber hinaus gehenden politökonomischen Analysen, beispielsweise einer grundsätzlichen Kritik der US-Interventionen in Ostasien und sozialen Kämpfen zu verbinden.
Den gesamten Kalten Krieg hindurch kam es zu keinem weiteren Verfahren vor der internationalen Strafjustiz. Daß dann ausgerechnet die Völkermorde in Jugoslawien und Ruanda zu internationalen Ad-hoc-Tribunalen führten, wird oft mit dem Narrativ der langsamen, aber stetigen Entwicklung und wachsenden Bedeutung der Menschenrechte, vorangetrieben durch die liberalen Demokratien des Westens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erklärt. Doch es war weniger der Glaube an Gerechtigkeit oder eine Prävention weiterer Gewalttaten, der zur Etablierung der beiden Tribunale führte, als der Wunsch, Aktivitäten vorzuweisen und somit vom eigenen politischen Versagen abzulenken. Zudem dachte keine der Vetomächte offensichtlich bei der Etablierung der beiden Tribunale 1993 und 1995 daran, daß die Gerichtshöfe ihre vage formulierte Aufgabe so ernsthaft angehen und daß die Idee der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Völkerstraftaten eine solche Eigendynamik entfalten würde.
Zu Recht ist den beiden Tribunalen der Vorwurf gemacht worden, sie hätten die Strafverfolgung solcher Verbrechen nicht betrieben, die den westlichen Staaten und deren Bündnispartner zugerechnet wurden. Der NATO wurde auch von westlichen Menschenrechtsorganisationen fundiert vorgeworfen, in einer Reihe von Vorfällen Kriegsverbrechen begangen zu haben, vor allem durch Bombenabwürfe auf zivile Ziele wie eine Eisenbahn in der Grdelica-Schlucht, einen Flüchtlingstreck im Westen des Kosovo und eine serbische Fernsehstation in Belgrad. Die Anklagebehörde des Jugoslawien-Tribunals nahm jedoch nicht einmal Ermittlungen auf. Die damalige Chef-Anklägerin, Carla del Ponte, bezeichnet zudem in ihren Memoiren die erfolglos verlaufenen Verfahren gegen Angehörige der kosovarischen Unabhängigkeitsbewegung UCK als ihr frustrierendstes Erlebnis. Es ist wohl diese Erfahrung, die viele Linke dazu veranlaßt hat, die Praxis des 2002 etablierten Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag grundsätzlich zu kritisieren.
Mangelnde Universalität
Die Jurisdiktion des IStGH erstreckte sich zunächst auf Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, wurde aber auf der Konferenz im Juni 2010 in Kampala (Uganda) auf das Verbrechen der Aggression ausgedehnt, das voraussichtlich ab 2017 in beschränktem Umfang verfolgt werden kann. Die schnelle Ratifikation des Statuts des Gerichtshofes, die Einrichtung des IStGH mit Sitz in Den Haag bei Inkrafttreten des Statuts am 1. Juli 2002 sowie die steigende Zahl der Vertragsstaaten (derzeit 120, darunter praktisch alle europäischen und lateinamerikanischen sowie viele afrikanische Staaten) wird als Erfolg angesehen, zumal sich mit den USA der mächtigste Staat der Erde mit allen Mitteln gegen den Gerichtshof engagiert hatte.
Doch durch die territorial eingeschränkte Jurisdiktion des IStGH bleiben die Nichtunterzeichnerstaaten außerhalb der Reichweite Den Haags, dazu zählen die Vetomächte USA, China und Rußland ebenso wie weitere wichtige Staaten wie Indien, Indonesien, Iran, Israel. Die Vereinigten Staaten hatten das Statut zwar 2000 unterzeichnet, am Ende der Amtszeit von Präsident Bill Clinton, diese Unterschrift unter Präsident George Bush aber wieder zurückgezogen. Die an der Schaffung des IStGH zunächst beteiligten USA hatten bis zuletzt auf eine dominantere Rolle des UN-Sicherheitsrates gehofft, der nach ihren ursprünglichen Plänen jedes Ermittlungsverfahren in Den Haag hätte genehmigen sollen. Statt dessen wurde mit dem Rom-Statut ein relativ unabhängiger Chefankläger installiert, der eigene Ermittlungen aufnehmen kann, diese allerdings durch eine Kammer des Gerichts formell bestätigen lassen muß. Nicht zuletzt wegen der Abstinenz vieler Groß- und Regionalmächte sind die bisherigen sechs formellen Ermittlungsverfahren auf die afrikanischen Länder Kenia, Uganda, Sudan, Zentralafrikanische Republik, Kongo und Libyen beschränkt. Dieses Problem steht im Zentrum aller Bilanzen knapp zehn Jahre nach Inkrafttreten des Rom-Statuts.
Auf den ersten Blick scheint der IStGH dem eigenen Anspruch auf Universalität nicht gerecht zu werden. Dies liegt in der Gesamtkonstruktion des Gerichtes begründet, nur in eingeschränktem Maße ist die mangelnde Universalität der Anklagebehörde aus Den Haag zuzurechnen. Die bisherigen sieben förmlichen Ermittlungsverfahren betreffen afrikanische Länder, von denen zwei der UN-Sicherheitsrat und drei weitere afrikanische Tatortstaaten selbst an den Gerichtshof überwiesen. Daher ist die Schlußfolgerung, wonach die Voreingenommenheit und eine neokolonialistische oder neoimperialistische Haltung der Anklagebehörde beziehungsweise des Gerichts für diese Bilanz verantwortlich sind, nur bedingt berechtigt.
Im übrigen besteht kein Zweifel daran, daß in den ersten drei vom IStGH behandelten Situationen in der Demokratischen Republik Kongo, in Darfur und in Uganda Menschenrechtsverletzungen von besonderer Massivität begangen wurden, die in der zurückliegenden Dekade ihresgleichen suchen. Ambivalenter wird allerdings die Betrachtung der Ermittlungen zu Kenia, der Elfenbeinküste und Libyen, die sich sowohl in der Dauer als auch der Intensität und Struktur der begangenen Menschenrechtsverletzungen deutlich von den Erstgenannten unterscheiden. Tatsächlich fallen eine ganze Reihe von Ländern in dieselbe Kategorie, etwa Burma, Tschetschenien, Kolumbien, der Iran, Syrien, Palästina und Sri Lanka. Allerdings hat keiner der Staaten bis auf Kolumbien das Rom-Statut unterzeichnet und die Ankläger von Den Haag wurden – anders als im Falle von Darfur und Libyen – nicht durch einen UN-Sicherheitsratsbeschluß ermächtigt. Der Grund dafür ist, daß Vetomächte unmittelbar betroffen oder jedenfalls mit den betroffenen Staaten eng verbündet sind, weshalb eine Überweisung der Fälle an den IStGH politisch unrealistisch ist.
Allerdings hätten die Ankläger insbesondere wegen der großflächigen paramilitärischen Gewalt in dem Unterzeichnerstaat Kolumbien ein formelles Ermittlungsverfahren einleiten müssen, statt wie bisher die Situation nur zu beobachten und zu analysieren. Es ist daher das bisher gravierendste Manko Den Haags, den wichtigsten Alliierten der USA auf dem Kontinent Lateinamerika von einer Strafverfolgung zu verschonen. Allerdings findet in Kolumbien zumindest ansatzweise ein juristischer Aufarbeitungsprozeß statt, der zwar keineswegs aller Kritik standhält, jedoch deutlich mehr leistet als in den Fällen Burma, Rußland oder Sri Lanka. Auch bezüglich des Vorwurfs britischer Kriegsverbrechen im Irak, es ging dabei um den Abwurf von Cluster-Bomben und Gefangenenmißhandlungen, wurde zurecht kritisiert, daß die Ankläger noch nicht einmal in Vorermittlungen eingetreten sind. Diese habe im Falle des Gaza-Kriegs zwar stattgefunden, wurden jedoch nicht ganz unzutreffend eingestellt, weil mit der zweifelhaften Staatseigenschaft Palästinas die Jurisdiktion des IStGH fehlt.
Neue Chefanklägerin
Ob sich diese Praxis mit dem im Juni 2012 vollzogenen Wechsel auf dem Chefanklageposten von dem Argentinier Luis Moreno Ocampo auf die Gambianerin Fatou Bensouda ändert, ist derzeit schwer einzuschätzen. Zwar sind interessante Äußerungen von Bensouda zu einem der größten Problemfelder der internationalen Strafjustiz zu verzeichnen, nämlich der Straflosigkeit von sexualisierter Gewalt. Obwohl an fast allen Schauplätzen von Völkerstraftaten sowohl historisch als auch aktuell nicht nur gemordet und gefoltert, sondern auch vergewaltigt wird, fehlen diese Taten oft in den Ermittlungsberichten und Anklagen, so zuletzt auch im Lubanga-Prozeß, obwohl dem Warlord die Verantwortung für Massenvergewaltigungen und die sexuelle Versklavung von Kindersoldatinnen vorgeworfen wird. Frau Bensouda hat erklärt, sie wolle diesen skandalösen Zustand ändern. Sie wird als Afrikanerin zudem die Diskussion um den Fokus des Gerichtshofes und seiner Versäumnisse versachlichen können. Denn allzu oft wird in der Kritik vernachlässigt, daß es vornehmlich die afrikanischen Staatschefs sind, die den IStGH als einseitig kritisieren, also die selbst von Strafverfolgung Betroffenen, während viele hochkarätige Juristen, soziale Bewegungen und Menschenrechtsorganisationen die Intervention aus Den Haag ausdrücklich als hilfreichen Impuls für ihre eigenen Bemühungen betrachten. Ob die vormalige stellvertretende Chefanklägerin, also maßgebliche Verantwortliche der letzten Dekade, Strafverfolgungsansprüche gegen den Konflikt mit westlichen Staaten und Großmächte durchzusetzen versuchen wird, erscheint noch fraglich.
Der Gerichtshof in Den Haag ist maßgeblich durch die Staaten und damit ihre politischen Interessen geprägt: Die Staaten, die sich etwas davon versprechen, haben das Statut unterzeichnet, unterwerfen sich der Jurisdiktion des IStGH, beteiligen sich an der Finanzierung des Gerichtshofes, unterstützen aktiv die Ermittlungen und die Suche und Festnahme von Tatverdächtigen. Viele andere, die sich selbst Vorwürfen ausgesetzt sehen, unterlassen dies.
Doch dieser Zustand ist nicht statisch und die Praxis in Den Haag nicht ausschließlich von Staateninteressen bestimmt. Zum einen haben viele international tätige Juristinnen und Juristen ein eigenes Selbstbewußtsein und eine gewisse Unabhängigkeit herausgebildet; der bisherige Chefankläger ist allerdings ein negatives Gegenbeispiel. Zum anderen sind Menschenrechtsorganisationen allenthalben aktiv, wenn es um die Ermittlung und Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen geht: Die ersten Meldungen über Massaker, die Anzeigenerstattung bei lokalen Behörden, die juristische Verfolgung durch die Instanzen, die Ermittlung einzelner Sachverhalte sowie die Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen gehören zum traditionellen Instrumentarium von Menschenrechtsorganisationen. Zudem hat sich ein Expertenpool an Universitäten, in Anwaltskreisen, Menschenrechtsorganisationen und in Institutionen wie der UN herausgebildet. Professionell Ermittelnde, vor allem aus der Anthropologie und der Forensik, bereiten einzelne Sachverhalte gerichtsfest auf. Juristinnen und Juristen erarbeiten die rechtlichen Begründungen und vertreten die Fälle entweder im Namen von Organisationen des öffentlichen Interesses oder in Vertretung der Opfer und ihrer communities. So waren es auch sowohl lokale NGOs und transnationale Expertennetzwerke, die auf die Strafverfolgung der Verbrechen der Paramilitärs in Kolumbien, der israelischen Armee während des Gaza-Krieges und der Briten bei der Gefangenenbehandlung im Irak gedrängt haben.
Mobilisierende Wirkung
Spätestens an dieser Stelle rückt auch eine weitere Ebene möglicher Strafverfolgung oder anderweitiger juristischer Ahndung in den Fokus. Denn es ist falsch, lediglich den Internationalen Strafgerichtshof in den Blick zu nehmen, wenn man die Praxis, vor allem die Selektivität der Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, moniert. Fast überall auf der Welt besteht theoretisch die Möglichkeit vor nationalen Gerichten, derartige Prozesse stattfinden zu lassen. Aufgrund der politischen Bedingungen herrscht in vielen Ländern, nicht nur unter diktatorischen Regimes, sondern auch in Staaten, die für sich in Anspruch nehmen, rechtstaatlich zu funktionieren, eine Situation der Straflosigkeit schwerster Menschenrechtsverletzungen. Diese Situation begann sich in den neunziger Jahren zu ändern, als vor allem nichtstaatliche Akteure aus den Menschenrechtsorganisationen, Betroffenen- und Angehörigengruppen sowie Juristinnen und Juristen sich zunächst auf lokaler Ebene darum bemühten, die Verbrechen in ihren jeweiligen Ländern aufklären und verurteilen zu lassen. Doch weder den argentinischen und den chilenischen noch den peruanischen und guatemaltekischen Menschenrechtsorganisationen gelang es zunächst, ohne fremde Hilfe die Straflosigkeit der massiven staatlichen Verbrechen der 1970er bis 1990er Jahre im eigenen Land zu überwinden. Die Situation änderte sich erst, als die lokalen mit transnationalen Aktivitäten verknüpft wurden: Wenn im eigenen Staat die Möglichkeiten der Aufarbeitung blockiert sind, nehmen Menschenrechtsorganisationen andere Foren, nach Möglichkeit Gerichte, ansonsten UN-Mechanismen, Meinungstribunale oder andere globale Instrumente in Anspruch.
Im Laufe der Jahre waren neben dem bereits angesprochenen Anrufen von Strafverfolgungsbehörden in Drittstaaten das Einklagen von Entschädigungsansprüchen, vor allem in den USA, und die Erhebung von Beschwerden gegen die Schädigerstaaten vor dem Europäischen und dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte erfolgreich. Zwar führten die Aktivitäten dieser Netzwerke nur begrenzt zum Ziel, die Erfahrungen aus dem Fall des chilenischen Diktators Pinochet zu universalisieren und auf mächtige Menschenrechtsverletzer anzuwenden wie die Verantwortlichen des US-Foltersystems nach dem 11.9.2001 oder die tschetschenischen Massaker. Dennoch haben sich in den letzten beiden Dekaden zahlreiche lokal und transnational agierende Bewegungen erfolgreich auch des Mittels des Völkerstrafrechtes bedient. Denn auch wenn durchschlagende Siege vor Gericht nicht zu verzeichnen waren, konnten rechtliche Standards als Maßstäbe für Regierungs- und unternehmerisches Handeln mehr und mehr etabliert werden; so gelang es durchaus, das Handeln der Bush-Administration zu skandalisieren. Lokal haben derartige juristische Interventionen zudem mobilisierende Wirkung und werden daher von vielen Gruppen im globalen Süden neben politischen und sozialen Mitteln eingesetzt, um systemische Veränderungen zu erreichen, oder, wie leider allzu oft, wenigstens die Bedingungen für derartige langfristige Ziele zu schaffen.
* Wolfgang Kaleck, Rechtsanwalt u.a. von Opfern der argentinischen Militärdiktatur sowie von Folteropfern in Abu Ghraib und Guantanamo, ist Generalsekretär der juristischen Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights e.V. (ECCHR); siehe www.ecchr.eu
Aus: junge Welt, Samstag, 30. Juni 2012
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