Der Aufstand des Gewissens kommt!
Jean Ziegler über den alltäglichen Skandal des Hungers, dem alle fünf Sekunden ein Kind zum Opfer fällt
Jean Ziegler
wurde als Hans Ziegler in
Thun in der Schweiz geboren.
Den Vornamen Jean
verdankt er Simone de
Beauvoir, die Hans für einen
Autoren als inakzeptabel
einstufte. Ziegler, Bürger
der Republik Genf, ist
Soziologe und emeritierter
Professor der Universität
Genf sowie der Sorbonne in
Paris. Er war bis 1999 Nationalrat
(Abgeordneter) im
Eidgenössischen Parlament.
Von 2000 bis 2008 war er
Sonderberichterstatter der
UNO für das Recht auf Nahrung.
Er ist Träger verschiedener
Ehrendoktorate
und internationaler Preise
wie des Internationalen Literaturpreises
für Menschenrechte (2008).
Alle fünf Sekunden stirbt ein
Kind unter zehn Jahren an Hunger.
Für Medien hat das einen
Nachrichtenwert wie »Hund beißt
Mann«. Der alltägliche Skandal
findet in den Medien nicht statt.
Schlagzeilen machen »nur« eskalierende
Hungerkrisen, die spektakuläre
Bilder liefern. Welche
Erwartungen hegen Sie mit ihrem
Buch »Wir lassen sie verhungern
«, das den alltäglichen Hunger
thematisiert?
Zu allererst wollte ich mit diesem
Buch eine Bilanz über meine Tätigkeit
als erster UNO-Sonderberichterstatter
für das Recht auf
Nahrung (2000-2008) vorlegen.
Nun kann ich endlich offen sagen,
wer die Halunken sind und worin
die Hoffnung liegt, den Kampf gegen
den Hunger erfolgreich zu
führen. Das tägliche Massaker des
Hungers ist ein nicht hinnehmbarer
Skandal: 18 Millionen Menschen
sterben jährlich an Hunger,
Unterernährung und daraus resultierenden
Mangelkrankheiten.
Hunger ist bei weltweit 70 Millionen
Toten im Jahr die mit Abstand
führende Todesursache.
An einem objektiven Mangel an
Nahrung liegt das nicht ...
Keineswegs. Das geschieht auf einem
Planeten, der vor Reichtum
überquillt. Der World-Food-Report
der Welternährungsorganisation
FAO dokumentiert diesen Widerspruch
augenscheinlich: Er beziffert
die Zahl der permanent Unterernährten
auf eine Milliarde –
ein Siebtel der Menschheit. Andererseits
sagt exakt dieser Bericht,
dass die Weltlandwirtschaft in der
heutigen Phase der Entwicklung
der Produktionskräfte problemlos
12 Milliarden Menschen ernähren
könnte – also fast das Doppelte der
Weltbevölkerung. Karl Marx
dachte noch, dass der objektive
Mangel den Menschen über Jahrhunderte
begleiten würde. Aber
der objektive Mangel ist überwunden.
Ein Kind, das an Hunger
stirbt, wird ermordet. Das Fazit ist
eindeutig: Es gibt keinen objektiven
Mangel, es gibt ein objektives
politisches Versagen.
Wer sind denn die Halunken?
Vor allem die zehn weltweit führenden
Nahrungsmittelkonzerne.
Entscheidend ist der Zugang zur
Nahrung. Und wer entscheidet darüber?
Die zehn Konzerne wie
Cargill, Archer Midland, Bunge
oder Louis Dreyfus, die weltweit
85 Prozent des Handels mit
Grundnahrungsmitteln beherrschen.
Diese Konzerne entscheiden
jeden Tag – über ihren Einfluss
auf die Preisbildung – ganz
konkret, wer lebt und wer stirbt.
Frankreichs Ex-Präsident Nicolas
Sarkozy setzte das Thema hoher
Nahrungsmittelpreise Anfang
2011 prominent auf die Agenda
der G20-Staaten, den mächtigen
Industrie- und Schwellenländern.
Die G20 haben sich auf ein sogenanntes
Rapid-Response-Forum
geeinigt, das in Krisenfällen für
schnelle Antworten sorgen soll.
Ein Schritt in die richtige Richtung?
Ein Ablenkungsmanöver. Es
stimmt, faktisch gibt es nun ein
Rapid-Response-Forum. Aber was
ist aus den vollmundigen Ankündigungen
von Sarkozy im Oktober
2011 vor dem G20-Gipfel in
Cannes geworden? Nichts. Gastgeber
Sarkozy hatte vorab angekündigt,
dass die G20 den Nahrungsmittelspekulanten
das Handwerk legen würden. Und was
steht davon im Schlusskommuniqué
von Cannes? Kein Wort,
nichts, weil inzwischen die Konzerne
mobilisiert hatten und klar
stellten: Das kommt nicht in Frage.
Die G20 haben zwar das Problem
richtig erkannt und benannt,
angegangen mit klaren gesetzlichen
Regelungen sind sie es nicht.
Taugt das Rapid-Response-Forum
überhaupt nicht?
Das Rapid-Response-Forum ist ein
reines Informationssystem. Das
kann nützen, aber nicht viel. Die
FAO macht das bereits, hat ein
Frühwarnsystem über sich abzeichnende
Ernteausfälle und
Preiserhöhungen. Damit mag sich
die Soforthilfe besser organisieren
lassen, aber das geht in Bezug auf
die Ursachen des Hungers total an
der Sache vorbei. Der Skandal ist,
dass die mächtigen Konzerne und
die Finanzoligarchien über ihren
Lobbyismus die internationalen
Institutionen beherrschen – sei es
den Internationalen Währungsfonds
(IWF), die Weltbank oder die
Welthandelsorganisation (WTO).
Diese drei Weltorganisationen des
Kapitals beherrschen wiederum
weithin die demokratisch gewählten
Regierungen der Herrschaftsländer
des Westens.
Eindeutig ist: Die Lebensmittelpreise
zeigen in den letzten sechs,
sieben Jahren trotz Schwankungen
eine klare Tendenz nach oben.
Fast alle Experten wie der Sprecher
des Welternährungsprogramms
(WFP), Ralf Südhoff, halten
die Spekulation für einen der
gewichtigsten Preistreiber. Wie
könnten die Regierungen sie bekämpfen?
Die Tendenz ist in der Tat überdeutlich:
Seit zwölf Monaten ist der
Maispreis auf dem Weltmarkt um
63 Prozent gestiegen. Der Preis für
die Tonne Weizen hat sich verdoppelt.
Der Weltmarktpreis für
Reis ist um 31,8 Prozent gestiegen.
Und was passiert? Die Investmentbank
Goldman Sachs legt
munter neue Derivate auf, statt auf
faule Immobilienkredite aber jetzt
auf Soja, Reis, Mais oder Weizen.
Die Spekulation mit Nahrungsmitteln
läuft ungebremst weiter,
Sie ist durchaus legal.
Ist Spekulation auf Märkten
nicht »normal«?
Mag sein. Aber sie könnte in
Deutschland morgen gestoppt
werden. Dafür reichte ein Bundestagsbeschluss,
der das Börsengesetz
entsprechend ändert.
Jedes Land hat die gesetzgeberischen
Möglichkeiten, die Spekulation
einzudämmen. Allein
2008/2009 hat der internationale
Bankenbanditismus 85 Billionen
Dollar an Vermögenswerten vernichtet
– die sogenannte Finanzkrise.
Seither sind die großen
Hedge-Fonds und Großbanken
massiv auf die Rohstoffbörsen
umgestiegen – insbesondere auf
die Nahrungsmittelbörsen und
machen dort astronomische Profite.
Damit gefährden und zerstören
sie das Leben von Millionen
Menschen in der Dritten Welt.
Nach der aktuellen Weltbankstatistik
leben 1,2 Milliarden Menschen
in extremer Armut, das
heißt statistisch von weniger als
1,25 Dollar pro Tag.
1,25 Dollar pro Tag ist aus
westeuropäischer Sicht unvorstellbar.
Wie haben Sie solche
Verhältnisse konkret erlebt?
Zum Beispiel in den Favelas von
Rio de Janeiro und Sao Paulo, in
den Calampas von Lima, in den
Slums von Karatschi. Die Mütter
haben dort ganz wenig Geld, um
die nötigen Nahrungsmittel zu
kaufen. Und wenn die Preise explodieren,
gehen die Kinder an
permanenter schwerer Unterernährung
zugrunde. Kennen Sie
Karatschi ein wenig?
Nein.
Und Lateinamerika?
Ja, von Kuba bis Venezuela.
Kuba fällt positiv aus dem Rahmen.
Dort gewährleistet die Libreta
(Bezugsheft für Grundnahrungsmittel
und Güter des täglichen
Bedarfs, d. Red.) grundlegend
und tatsächlich das Recht auf
Nahrung.
Die Zukunft der Libreta wird im
Zuge der Reformen diskutiert. Kuba
stellt sich die Frage, ob es angesichts
knapper Mittel nicht
sinnvoller wäre, »nur« die Bedürftigen
zu subventionieren statt
alle Bürger und Bürgerinnen. Wie
sehen Sie das?
Sie werden das Richtige entscheiden.
Kuba verteidige ich aus Überzeugung.
In Kuba essen die Kinder,
gehen zur Schule, werden gepflegt,
Punkt. Auf diesem Kontinent
ist das schon sehr viel.
In Kuba gibt es bis dato auf alle
Fälle keine Spekulation mit Nahrungsmitteln
und auch kein Land
Grabbing (Landraub) durch internationale
Investoren. Was trägt
das Land Grabbing zur Verschärfung
des Hungers bei?
Immens viel. Laut Weltbankstatistik
sind 2010 allein in Afrika 41
Millionen Hektar Ackerland dem
Land Grabbing zum Opfer gefallen.
Die Großkonzerne profitieren
von der in Afrika weit verbreiteten
autochthonen Korruption. Ein
Beispiel ist Kameruns Langzeitherrscher
Paul Biya. Biya ist total
korrupt und seit fast 30 Jahren an
der Macht – gestützt vom US-amerikanischen
Geheimdienst und von
Frankreich. Kamerun bietet jede
Menge fruchtbares Agrarland und
ist wunderschön. Bolloré, Vilgrain
und andere Großkonzerne aus
Frankreich haben zehntausende
von Hektar Ackerland übernommen.
Sie produzieren für den Export,
zum Beispiel Bioethanol. Die
Armee vertreibt die Bauern in die
Slums von Douala und Jaunde.
Kinderprostitution, Zerstörung der
Familien, permanente Arbeitslosigkeit
sind die Folgen. Das funktioniert
nur aufgrund der Komplizenschaft
zwischen Konzernen
und der nationalen Elite um Biya.
Aber die Komplizenschaft ist sekundär.
Die treibenden Akteure
sind die ausländischen Konzerne.
Land Grabbing ist in der Tat eines
der Hauptprobleme heute.
Ein traditionelles Problem für
den Süden sind die Exportsubventionen
für die nördliche Agrarindustrie.
Ist da Besserung in
Sicht?
Nicht im Ansatz. Die Agrar- und
Export-Subventionen der Industriestaaten
sind mit Abstand am
verheerendsten. Diese Subventionspolitik
tötet Menschen. Lebensmittel
aus der EU überschwemmen
Afrikas Märkte. Sie
können dort fast überall Produkte
aus Deutschland, Frankreich oder
Griechenland kaufen, die ein Drittel
billiger sind als die einheimischen.
Kein Wunder, schließlich
haben im Jahr 2010 die in der Organisation
für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
(OECD) vereinigten Staaten ihre
Bauern mit 349 Milliarden Dollar
unterstützt. Damit zerstören sie die
Lebensgrundlage von Millionen
Kleinbauernfamilien und stoßen
sie ins Elend. Und wenn sie dann
auf der Arbeitssuche nach Europa
flüchten, versucht die EU, das mit
militärischen Mitteln (Frontex) zu
verhindern.
In Deutschland sind ein paar
Banken aus dem Rohstoffhandel
ausgestiegen, die Commerzbank,
die DekaBank der Sparkassen und
die Landesbank Baden-Württemberg,
die Deutsche Bank hat eine
Denkpause eingelegt und eine
Studie in Auftrag gegeben. Zeichnet
sich ein Wandel ab?
Nein. Die Banken sagen viel, wenn
der Tag lang ist. Die kannibalische
Weltordnung lässt ethisches
Bankverhalten letztlich gar nicht
zu. Ich rede mit Bankern, zum
Beispiel vom Jabre-Fonds in Genf,
und kann ihr Verhalten durchaus
nachvollziehen. Die sagen mir
ganz klar, dass sie im Auftrag ihrer
Kunden handeln. Die reichen
Anleger wünschten eine möglichst
profitable Geldanlage. Die Verpflichtung
des Fonds sei es, nach
den lukrativsten Anlagemöglichkeiten
zu suchen. Verpflichtung?!
Gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein
hat da keinen
Platz. Es geht um strukturelle Gewalt.
Jean-Paul Sartre sagt: »Um
die Menschen zu lieben, muss man
sehr stark hassen, was sie unterdrückt.
« Nicht wer sie unterdrückt.
Die kannibalische Weltordnung
besteht aus der strukturellen
Gewalt. Wenn Peter Brabeck-
Letmathe, der Chef des weltgrößten
Nahrungsmittelkonzerns
Nestlé, den Erwartungen der
Shareholder (Aktionäre) nicht genügt,
es ihm nicht gelingt, den
Börsenkurs um so und so viele
Prozent pro Jahr hinaufzutreiben,
dann ist er seinen Job los. Insofern
halte ich es auch für reine Augenwischerei,
wenn Banken nun ankündigen,
sie würden aus dem
lukrativen Rohstoffhandel aussteigen.
Es sei denn, es wird gesetzlich
angeordnet. Die Parlamente
haben dazu die Möglichkeiten,
auch der Deutsche Bundestag.
Dass ein Land vorprescht und
die Nahrungsmittelspekulation
verbietet, ist nicht absehbar.
Doch. In Spanien hat die Vereinte
Linke im spanischen Parlament
eine Gesetzesvorlage zum Verbot
der Börsenspekulation mit Nahrungsmitteln
eingebracht. Nach
einem neuen UNICEF-Bericht vom
Mai 2012 sind als Folge der absurden
Austeritätspolitik der konservativen
Regierung unter Ministerpräsident
Mariano Rajoy 2,2
Millionen spanische Kleinkinder
unter zehn Jahren permanent
schwerst unterernährt. In Spanien,
mitten in Europa! Und es gibt
ähnliche Zahlen für England, Oxfam
hat darüber eine Erhebung
gemacht. Der wild wütende Raubtierkapitalismus
rückt immer weiter
vor nach Europa. Die hohen
Lebensmittelpreise zerstören
längst Familien in der Dritten Welt,
in Lateinamerika, in Südasien und
so weiter. Und bei uns fängt das
jetzt an. Hartz IV ist nur ein Vorgeschmack.
31 Millionen Menschen
in der EU sind sogenannte
Sockelarbeitslose. Ich kann mir
nicht vorstellen, dass die Menschen
bei uns in Europa das einfach
so hinnehmen.
In diesem Kontext ist der Vorstoß
der Vereinten Linken in Spanien
ehrenwert, dass das jetzige
Parlament sich dem anschließt,
aber ausgeschlossen. Wo soll der
Vorreiter denn herkommen?
Ich setze auf Deutschland.
Deutschland ist die größte, lebendigste
Demokratie des Kontinents
und die dritte Wirtschaftsmacht
der Welt. Das Grundgesetz erlaubt
alles, alles. Die Waffen sind da.
Am Grundgesetz liegt es sicher
nicht, aber woher soll der politische
Willen kommen?
Die Politik hat die Möglichkeiten
und in einer Demokratie kann sie
vom Souverän, dem Volk, zu entsprechendem
Handeln gezwungen
werden. Merkel und Schäuble sind
ja nicht von Gottes Gnaden in ihren
Ämtern. Die sind da, weil sie
die Mehrheit im Bundestag haben.
Das kann sich ändern. Und man
kann die Bundesregierung stürzen
oder dazu zwingen, ihre Politik radikal
zu ändern, was die Nahrungsmittelverteilung
auf dem
Planeten anbetrifft. Es ist durchaus
möglich, dass bei der nächsten
Tagung des Internationalen Währungsfonds
die Totalentschuldung
der 50 ärmsten Länder der Welt
beschlossen wird statt zig Milliarden
den Gläubigerbanken zu zahlen.
Das wäre eine Entscheidung
für die hungernden Kinder statt für
die reichen Bankiers. Alle die
mörderischen Mechanismen von
Spekulation bis zum Land Grabbing
sind Menschen gemacht – alle
können demokratisch morgen früh
gebrochen werden. Was bis jetzt
noch fehlt, ist das organisierte kollektive
Widerstandsbewusstsein
der Zivilgesellschaft. Aber das
kommt. Der Aufstand des Gewissens,
der kommt, der steht bevor.
Er kündigt sich bereits an. Die Welt
ist in Bewegung. Dafür sorgen Attac,
Greenpeace, auch einige
kirchliche Hilfswerke wie die Caritas,
Care, Brot für die Welt etc.
Das sind lebendige Organisationen.
Sie machen mehr und mehr
Druck.
Sie sind Optimist?
Ich halte es mit Antonio Gramsci:
Der Pessimismus des Verstandes
verpflichtet zum Optimismus des
Willens. Ich setze große Hoffnung
auf die Zivilgesellschaft. Che Guevara
hat gesagt: »Auch die stärksten
Mauern fallen durch Risse.«
Und Karl Marx sagte: »Der Revolutionär
muss das Gras wachsen
hören.«
Einverstanden. Das Gras
wächst. Damit sich etwas bewegt,
bedarf es aber eines massiven gesellschaftlichen
Drucks, oder?
Natürlich, revolutionäre Prozesse
sind sehr mysteriös, aber die sind
im Gange.
Wo?
Zum Beispiel in vielen Ländern des
Südens, auch wenn die europäische
Presse darüber schweigt – das
»neue deutschland« ist wahrscheinlich
eine der wenigen Ausnahmen.
Da sind die Bauernaufstände.
Unglaublich, was da passiert
in Honduras, auf den Philippinen,
in Indonesien oder im Norden
Senegals. Dort kämpfen Bauern
mit bloßen Händen oder mit
ganz wenigen Waffen darum, ihr
Land zurückzugewinnen. Es gibt
blutige Auseinandersetzungen
jenseits der Öffentlichkeit. Oder in
Indien die Basisbewegung um Rajagopal.
Die Ekta Parishad (Solidarischer
Bund) setzt sich dort mit
gewaltfreien Methoden für die
Rechte der unterdrückten Bauern
ein. Oder die brasilianische Landlosenbewegung
MST. Dort sind 4
Millionen landlose Bauern organisiert
– in einer Bewegung, das ist
doch großartig. In all diesen Bewegungen
ruht große Hoffnung.
Wie wichtig ist das Weltsozialforum
zur Vernetzung dieser Bewegungen
von unten?
Sehr wichtig. Die Via Campesina
ist eine internationale Bewegung
von Kleinbauern, Pächtern, Tagelöhnern
und Landarbeitern. Die
Via Campesina – 140 Millionen
Mitglieder – hat auf den Weltsozialforen
und darüber hinaus eine
unglaubliche Arbeit bei der Vernetzung
der kleinbäuerlichen Bewegungen
geleistet und umfasst
inzwischen mehr als 100 Organisationen
aus Europa, Amerika,
Asien und Afrika. Sicher gibt es
derzeit in Afrika keine so individuell
herausragenden Figuren wie
Präsident Thomas Sankara aus
Burkina Faso, der 1987 in seinem
Heimatland ermordet wurde. Aber
es gibt diesen kollektiven Widerstand
und der ist großartig. Sie
haben unsere Solidarität mehr als
verdient.
Die Via Campesina setzt sich
auch für eine völkerrechtlich bindende
Erklärung ein, die die Rechte
von Kleinbauern und ländlicher
Bevölkerung festschreiben soll.
Derzeit wird im Menschenrechtsrat
in Genf über einen entsprechenden
Antrag, den Boliviens
Regierung eingebracht hat, diskutiert.
Sie sind Vizepräsident des
beratenden Ausschusses für Menschenrechte.
Rechnen Sie mit einem
Erfolg?
Ich hoffe darauf. Die Revolution ist
wie gesagt ein mysteriöser Prozess.
Immanuel Kant schreibt:
»Die Unmenschlichkeit, die einem
anderen angetan wird, zerstört die
Menschlichkeit in mir.« Der Aufstand
des Gewissens steht bevor.
Mit Jean Ziegler sprach nd-Redakteur
Martin Ling in Berlin.
Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung
in der Dritten Welt. C. Bertelsmann Verlag, München 2012, 320 Seiten, € 19,99
* Aus: neues deutschland, Samstag, 29. September 2012
Jean Ziegler,
der viel gelesene und
viel verklagte Autor
Aus Schaden wird man klug. Der
Bestellerautor hat neuerdings
eine Klausel im Vertrag stehen,
dass der Verlag für die Anwaltskosten
aufkommen muss, wenn
es Klagen gibt. Der Hintergrund:
Mit seinem Buch »Die Schweiz
wäscht weißer« zog sich Ziegler
in den 90er Jahren den geballten
Unmut der Schweizer Banken zu.
Sie drängten erfolgreich auf die
Aberkennung seiner Immunität
als Schweizer Parlamentsabgeordneter
und überzogen ihn mit
Klagen wegen Rufmordes. Gegenüber
»nd« bezifferte Ziegler
seine Schulden aus den insgesamt
neun verlorenen Prozessen
auf 6,6 Millionen Franken. »Da
ging es nicht um sachliche Fehler,
sonst wären ja die Bücher
konfisziert worden. Ich hatte
neun Prozesse, das stimmt, und
ich habe alle verloren. Dabei
ging es immer nur um Kreditschädigung,
Ehrbeleidigung und
solche Sachen«, so Ziegler. Als
Vizepräsident des beratenden
Ausschusses für Menschenrechte
genießt Ziegler derzeit UNO-Immunität.
So sieht er eventuellen
Klagen gegen sein gerade erschienenes
Buch »Wir lassen sie
verhungern – Die Massenvernichtung
in der Dritten Welt«
gelassen entgegen. Einige seiner
Bücher wie »Das Imperium der
Schande« und »Der Hass auf den
Westen« wurden internationale
Bestseller.
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