Die Schizophrenie des Westens
Globalisierungskritiker Jean Ziegler: Wir müssen aufhören, so arrogant zu sein
Von Nissrine Messaoudi *
Der Hass auf den Westen wächst. Schuld daran sei unter anderem die gegenwärtige
»kannibalistische Weltordnung des globalisierten Finanzkapitals«, die Hunger und Elend produziere,
sagte Jean Ziegler bei der Vorstellung seines neuen Buches am Donnerstag (10. Sept.) in Berlin.
»Die Sklaverei ist nicht überwunden, sie ist nur moderner geworden.« Jean Zieglers
Neuerscheinung »Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren«, die gestern in Berlin vorgestellt wurde, ist voll von provokanten und mutigen
Sätzen. Wer jedoch die Dinge radikal beim Namen nennt, stößt meist auf Feindseligkeit. Eine
Tatsache, die der Vizepräsident des UNO-Menschenrechtsrats bereits anhand seiner früheren
Werke erfahren musste.
»Diese Provokation ist aber gewollt, um die Menschen aufzurütteln«, erklärte Rita Süssmuth,
Bundestagspräsidentin a. D.. Oft würden Themen wie Armut, Ausbeutung und Ungerechtigkeit an
den Rand gedrängt und verharmlost. Ein fataler Fehler, der immer wieder im Scheitern von
Verhandlungen zwischen den Ländern aus dem Süden und den führenden Industriestaaten ende.
Obwohl die »weiße Bevölkerung« nur 12,8 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, bestimme
diese Minderheitsherrschaft über den Rest der Welt, so Ziegler. »Aus Sicht der südlichen Völker ist
die globalisierte Finanzordnung mit den Söldnern der Welthandelsorganisation, der Weltbank und
der neoliberalen Ideologie eines der mörderischsten Unterdrückungssysteme.« Ein deutliches
Beispiel sei Nigeria. Obwohl das Land schwer reich sei, lebten 70 Prozent der Bevölkerung in
bitterer Armut. Öl-Giganten wie Shell oder BP beuteten das Land aus. Ferner werde die Korruption,
wegen wirtschaftlicher Interessen, vom Westen gefördert - eine Art Herrschaftsinstrument. Aus
dieser Demütigung und dem unerträglichen Leid der Völker nähre sich der Hass auf den Westen,
der durch vergangene Verbrechen wie Sklaverei und Kolonialismus tief verwurzelt sei.
Der Ruf nach Gerechtigkeit, nach Reue werde auf allen drei Kontinenten Afrika, Südamerika und
Asien immer lauter. »Sie haben ein verwundetes Gedächtnis. Der Westen hingegen scheint seine
Gräueltaten vergessen zu haben und versteht die Ablehnung des Südens nicht.« Dafür gebe es
unzählige Beispiele: Als Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy 2007 Algerien besuchte, wurden die
unterschiedlichen Wahrnehmungswelten deutlich. Sarkozys Besuch habe wirtschaftliche Interessen
gehabt, da Algerien ein bedeutender Erdölproduzent ist. Bevor die Verhandlungen jedoch überhaupt
begonnen hatten, verlangte Algeriens Staatschef Abdelazis Bouteflika von Sarkozy eine
Entschuldigung für Setif - 1945 wurden dort während einer friedlichen Demonstration 45 000
Algerier von der französischen Luftwaffe getötet. Sarkozy verweigerte die Entschuldigung. Daraufhin
wurden alle Verhandlungen abgesagt.
»Wenn wir nicht aufhören, so arrogant und belehrend zu sein, wird die Lösung von globalen
Konflikten immer unwahrscheinlicher«, warnte Ziegler. Auch die Schizophrenie und
Doppelzüngigkeit des Westens habe die Vereinten Nationen an den Rand des Ruins gedrängt. Bei
jeder sich bietenden Gelegenheit verlange man vom Süden, sich an die Menschenrechte zu halten.
Gleichzeitig verurteile man beispielsweise die jüngsten Kriegsverbrechen Israels im Gaza-Streifen
nicht. Die gleiche Haltung spiegele sich in der Diskussion um Atomwaffen wider. Eine Doppelmoral
mit verheerenden Folgen für die ganze Welt, resümierte Ziegler.
Trotzdem hat der Soziologe die Hoffnung auf eine neue Weltordnung nicht aufgegeben, im
Gegenteil. »Wenn ich auf Bolivien blicke, wird klar, dass es auch anders geht. Die Dinge können
sich ändern.« Boliviens Präsident Evo Morales sei der lebende Beweis dafür. Als erster indigener
Präsident habe er mit der westlichen Weltordnung gebrochen. Die bolivianische Bevölkerung
profitiere zunehmend von der Verstaatlichung der Erdöl- und Erdgasressourcen. Jetzt müsse auch
der Westen endlich Verantwortung übernehmen und Solidarität zeigen, forderte Ziegler.
* Aus: Neues Deutschland, 11. September 2009
Jean Ziegler: Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren. C. Bertelsmann: München 2009, 288 Seiten, € 19,95 [D], € 20,60 [A], CHF 34,90; ISBN: 978-3-570-01132-4
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