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"Für die Völker des Südens hat der dritte Weltkrieg längst begonnen"

Der deutsche Faschismus brauchte sechs Jahre, um 56 Millionen Menschen umzubringen. Der Neoliberalismus schafft das locker in gut einem Jahr. Ein Gespräch mit Jean Ziegler *


Der Schweizer Jean Ziegler war der erste UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und ist heute Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates.


Wir lassen sie verhungern« heißt Ihr neues Buch – Untertitel: »Massenvernichtung in der Dritten Welt.« Wer ist verantwortlich dafür, daß Millionen Menschen jedes Jahr verhungern?

Der »World Food Report« der UN sagt: Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, 57000 Menschen jeden Tag. Von den sieben Milliarden Menschen, die es heute auf der Welt gibt, ist ein Siebtel permanent schwerstens unterernährt. Zugleich stellt der Report aber fest, daß die Weltlandwirtschaft nach dem heutigen Stand der Produktivkräfte problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren kann. Anders als noch vor wenigen Jahrzehnten gibt es heute keinen objektiven Mangel mehr – das Problem ist nicht die Produktion, sondern der Zugang zur Nahrung. Und der hängt von der Kaufkraft ab – jedes Kind wird ermordet, das während unseres Gesprächs verhungert.

Wer also sind die Herren dieser kannibalischen Weltordnung? Da möchte ich zunächst die zehn größten multinationalen Konzerne nennen, die 85 Prozent der weltweit gehandelten Lebensmittel kontrollieren – sie entscheiden jeden Tag, wer ißt und lebt, wer hungert und stirbt. Ihre Strategie ist die Profitmaximierung.

Können Sie Namen nennen?

Die US-Firma Cargill Incorporated hat vergangenes Jahr 31,8 Prozent des weltweit gehandelten Getreides kontrolliert, die Dreyfus Brothers 31,2 Prozent des Reises. Ich will kurz die vier wichtigsten Mechanismen identifizieren, die den Hunger verursachen.

Zunächst wäre da die Börsenspekulation mit Grundnahrungsmitteln. Der internationale Banken-Banditismus hatte 2007/2008 an den Finanzbörsen rund 85000 Milliarden Dollar Vermögenswerte vernichtet. Seitdem sind die meisten Hedgefonds und Großbanken auf die Rohstoffbörsen umgestiegen, vor allem auf Agrarprodukte. Wie gehabt wird auch auf diesem Sektor weiter mit Derivaten, »Short Selling« und anderen legalen Finanzinstrumenten gehandelt, um mit Reis, Mais und anderem Getreide astronomische Profite einzufahren. Mais z. B. ist auf dem Weltmarkt in den vergangenen zwölf Monaten um 63 Prozent teurer geworden, die Tonne Weizen hat sich auf 272 Euro verdoppelt, der Preis für philippinischen Reis ist regelrecht explodiert: von 110 auf 1 200 Dollar.

Das können in der Dritten Welt aber nur wenige bezahlen ...

Laut Weltbank müssen 1,2 Milliarden Menschen von weniger als einem Dollar pro Tag leben – sie hausen in den Slums der Welt: in Manila, Karatschi, Mexiko-Stadt, Sao Paulo usw. Von dieser winzigen Summe müssen Mütter ihre Kinder ernähren – wenn die Lebensmittelpreise explodieren, verhungern sie.

Ein zweiter mörderischer Mechanismus ist der zunehmende Einsatz von Agrar-Treibstoffen. Alleine in den USA wurden 2011 aus 138 Millionen Tonnen Mais und Hunderten Millionen Tonnen Getreide Biomethanol und Biodiesel hergestellt. Das Land verbraucht jeden Tag das Äquivalent von 20 Millionen Barrel (158 Liter) Erdöl – zwischen Alaska und Texas werden aber nur acht gefördert. Zwölf müssen eingeführt werden, aus Irak, Nigeria, Zentralasien, Saudi-Arabien und anderen gefährlichen Ländern.

Das bedeutet, daß die USA unglaubliche Summen für ihr Militär ausgeben müssen, Obama will daher fossile durch vegetale Energie ersetzen. Aber Hunderte von Millionen Tonnen Nahrungsmitteln auf einem Planeten zu verbrennen, wo alle fünf Sekunden ein Kind verhungert, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Und der dritte Mechanismus?

Das ist die Überschuldung der ärmsten Länder. Von den 54 Staaten Afrikas sind 37 reine Agrarstaaten mit meist geringer Produktivität. Sie haben kein Geld, um in Bewässerung, Agrartechnik oder Dünger zu investieren. Nur 3,8 Prozent der Fläche Schwarzafrikas ist bewässert – auf dem Rest wird Regenlandwirtschaft wie vor 5000 Jahren betrieben.

In einem normalen Jahr – ohne Krieg, Dürre oder Heuschrecken – wird in der Niger/Sahel-Zone durchschnittlich 600 bis 700 Kilogramm Getreide pro Hektar geerntet. In Baden-Württemberg hingegen sind es 10000 Kilogramm. Der deutsche Bauer ist nicht fleißiger oder klüger als sein afrikanischer Kollege – im Unterschied zu ihm hat er aber Mineraldünger, selektiertes Saatgut, Bewässerung, Traktoren etc. Dem afrikanischen Bauern kann auch sein Staat nicht helfen – der hat nämlich nur Schulden.

An diesem Punkt kommen öffentliche Finanzinstitute wie die Weltbank oder die Europäische Entwicklungsbank ins Spiel. Die sagen diesen Staaten: Baut Eure Schulden dadurch ab, daß Ihr das Ackerland Hedgefonds und Investoren überschreibt. »Landgrabbing« nennt sich das, alleine in Afrika waren es im vergangenen Jahr 41 Millionen Hektar. Diese Investoren haben Kapital, Technik, Transportmittel und Handelsbeziehungen. Sie pflanzen auf diesem Land dann Produkte an wie Avocados, Südfrüchte, Kaffee etc – für den Export nach Europa oder Nordamerika. Für die Versorgung der einheimischen Bevölkerung bleibt nichts übrig.

Einen vierter Mordmechanismus ist das Agrardumping. Auf jedem afrikanischen Markt können sie heute frisches Gemüse, Geflügel und Früchte aus Italien, Frankreich oder Deutschland kaufen, je nach Saison um die Hälfte oder ein Drittel billiger als gleichwertige einheimische Erzeugnisse. Ein paar Kilometer weiter rackert sich der afrikanische Bauer mit Frau und Kindern in brüllender Hitze ab und hat nicht die geringste Chance, auch nur das Existenzminimum für seine Familie zu erwirtschaften.

Das, was die Kommissare in Brüssel anrichten, ist abgrundtief verlogen: Durch ihre Dumpingpolitik fabrizieren sie den Hunger in Afrika – und wenn die Hungerflüchtlinge sich nach Europa retten wollen, werden sie mit militärischen Mitteln brutal ins Meer zurückgeworfen, wo jedes Jahr Tausende ertrinken.

Gibt es eine Schätzung, wie viele Menschen durch die Wirtschaftspolitik der entwickelten kapitalistischen Staaten ums Leben gekommen sind?

Laut ECOSOC-Statistik sind vergangenes Jahr 52 Millionen Menschen Epidemien, verseuchtem Wasser, Hunger und Mangelkrankheiten zum Opfer gefallen. Der deutsche Faschismus brauchte sechs Kriegsjahre, um 56 Millionen Menschen umzubringen – die neoliberale Wirtschaftsordnung schafft das locker in wenig mehr als einem Jahr.

Haben Sie mit Ihrer Arbeit in den UN etwas bewegen können?

Wohl eher mit meinen Veröffentlichungen. Mein Buch basiert nicht nur auf Statistik, es ist auch ein Erlebnisbericht, ich habe die Lage in vielen Ländern an Ort und Stelle studiert. Ich kann jetzt genau sagen, wer die Halunken sind – kann aber auch darauf hinweisen, welche Hoffnungen es gibt.

Für die Völker des Südens hat der dritte Weltkrieg längst begonnen. Solange wir schweigen, sind wir Komplizen der Mörder. Che Guevara hat gesagt: »Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse« – und diese Risse werden zunehmend sichtbar!

Immer mehr Menschen wird es klar, daß diese kannibalische Weltordnung von Menschen gemacht wurde und auch von ihnen gestürzt werden kann. Mit der Mobilisierung der Zivilgesellschaft – ATTAC, Greenpeace, Via Campesina usw. – ist ein neues historisches Subjekt entstanden. Ihr einziger Motor ist der moralische Imperativ – Immanuel Kant hat gesagt: »Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.«

Da möchte ich Deutschland hervorheben: Dieses Land ist die wohl lebendigste Demokratie Europas und immerhin die drittgröße Wirtschaftsmacht der Welt. Das Grundgesetz gibt alle Waffen in die Hand, um die mörderischen Mechanismen, die Millionen Menschen durch Hunger töten, auf demokratischem und friedlichem Wege zu brechen. Karl Marx sagt: »Der Revolutionär muß imstande sein, das Gras wachsen zu hören« – der Aufstand des Gewissens in Europa steht bevor

Interview: Peter Wolter

Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern – Die Massenvernichtung in der Dritten Welt (Originaltitel: Destruction Massive, Paris 2011). Bertelsmann, München 2012, 320 Seiten, 19,99 Euro

* Aus: junge Welt, Freitag, 16. November 2012


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