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UN-Konferenz zu den Folgen der Finanzkrise für die Entwicklungsländer: "Die Stimme der G192 muss Gehör finden"

Der Präsident der UNO-Generalversammlung, Miguel d'Escoto Brockmann, über die Notwendigkeit einer neuen Weltordnung *

Miguel d'Escoto Brockmann ist seit September 2008 Präsident der Generalversammlung der Organisation der Vereinten Nationen (UNO). Der Politiker, Diplomat und katholische Priester war von 1979 bis 1990 Außenminister der sandinistischen Regierung Nicaraguas. Brockmanns Entwurf für eine Abschlusserklärung zum Gipfel vom 24. bis 26. Juni in New York wird von den Industrieländern abgelehnt. Sein Papier beruht auf den Empfehlungen der Stiglitz-Kommission. Interview: Deisy Francis Mexidor, Havanna, Übersetzung: Harald Neuber



ND: Sie haben die 192 Mitgliedsstaaten der UNO zu einem Gipfeltreffen eingeladen, um Strategien gegen die Weltwirtschaftskrise zu beraten. Wie ist die Resonanz?

Miguel d'Escoto Brockmann: Zunächst ist das eine völlig neue Situation. Wir müssen uns ins Gedächtnis rufen, dass es der UNO-Vollversammlung bisher praktisch verboten war, sich in die internationale Finanzpolitik und Fragen der Weltwirtschaft einzumischen. Diese Themen waren stets dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der Welthandelsorganisation vorbehalten.

Die Idee einer »G192« dürfte nicht allen Beteiligten genehm sein. Vor allem nicht denjenigen, die in exklusiven Zirkeln wie der G20 oder der G8 bleiben wollen.

Aber so geht es nicht weiter. Die internationalen Normen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA festgelegt. Wenn wir am 24. Juni zusammenkommen, so wird dies das erste Mal in der Geschichte der UNO sein, bei dem alle eingeladen und zu diesem Thema gefragt werden. Wir befinden uns schließlich im 21. Jahrhundert, das von Aussöhnung und demokratischer Einbeziehung geprägt sein sollte. Wir sind nicht damit einverstanden, dass nur eine Gruppe von acht oder zwanzig Staaten Rede- und Entscheidungsrecht hat. Wir respektieren alle Meinungen und hören sie uns an. Aber in einer wirklichen Demokratie entscheidet die Mehrheit. Deswegen habe ich gesagt, dass nun die Stimme der G192 Gehör finden sollte, die aller UNO-Mitglieder.

Wie wird bisher entschieden?

Bis dato ist die Rechnung einfach: 172 Staaten sind von den Beschlussfassungen der G20 ausgeschlossen. Dennoch gehören diesem exklusiven Zirkel auch Schwellenländer an, die unser Vorhaben unterstützen. Deswegen schauen wir dem Gipfeltreffen mit Zuversicht entgegen. Die Debatte muss endlich auch in der Organisation der Vereinten Nationen stattfinden, damit alle Mitglieder demokratisch am Aufbau eines neuen weltweiten Finanz-, Wirtschafts-, Währungs- und Handelsregime teilnehmen können. Das versuchen wir zu erreichen. Ich denke, dass das Treffen die erste Zusammenkunft einer Reihe offener Beratungen sein könnte. Die Vorschläge, die den Regierungen in New York vorgestellt werden, sind weit gediehen.

Verraten Sie uns Inhalte?

Es gibt eine Erkenntnis, über die schon jetzt ein weitreichender Konsens besteht: Der US-Dollar kann nicht weiter als Leitwährung für internationale Reserven dienen. Die großen Handelsgeschäfte können nicht weiter in dieser Währung abgewickelt werden. Die Vereinigten Staaten sind an einen Punkt gelangt, an dem sie selbst für ihre verantwortungslose Haushaltspolitik bezahlen müssen. Wenn sie weiter Kriege führen wollen, dann müssen sie auch finanziell dafür aufkommen. Zurzeit bezahlen die Länder der Dritten Welt den Preis für diese Feldzüge, weil die USA einfach immer mehr Geld drucken und kein IWF und keine Weltbank Washington zur Währungsdisziplin zwingt. Weil sie immer mehr Dollar drucken, verfällt sein Wert zusehends. Und wer muss das ausbaden? Die armen Länder, von denen die meisten ihre Reserven in US-Dollar angelegt haben. Deswegen gehe ich davon aus, dass ein stabileres Zahlungsmittel als Leitwährung etabliert werden sollte. Die Welt darf nicht für die fehlende Disziplin eines Landes aufkommen, das die eine Sache predigt und das Gegenteil davon praktiziert.

In Lateinamerika dürften Sie damit auf offene Ohren stoßen ...

Durchaus und auch, weil in Lateinamerika der historische Traum von (dem General der Befreiungstruppen Simón) Bolívar wieder auflebt. Es ist nicht mehr nur ein Traum, sondern eine reale Möglichkeit für die zunehmende Zahl der Mitgliedsstaaten der Bolivarischen Alternative für Amerika (ALBA). Es ist eine unumkehrbare Realität. Wir erleben in Lateinamerika einen historischen Moment, in dem der von unserem Comandante Fidel Castro ausgebrachte Samen allerorts sprießt. Es findet ein Prozess der Bewusstseinsbildung statt, es entsteht ein neues Lateinamerika. Ich glaube, dass all dies ohne die Hingabe des kubanischen Volkes nicht möglich gewesen wäre, das sich nicht gebeugt hat. Kuba hat sich nicht vom Kapitalismus verführen lassen, es hat nicht seine Antiwerte angenommen.

Wenn Sie Bilanz ziehen: Was ist von dem Geist übrig geblieben, in dem die UNO vor nunmehr 64 Jahren gegründet wurde?

Nichts. Die Vereinten Nationen wurden angeblich ins Leben gerufen, um weitere kriegerische Konflikte zu vermeiden und um Sicherheit sowie Frieden zu gewährleisten. Dieses Ansinnen ist vollständig gescheitert. Heute fördert die UNO Kriege. Die USA sind als ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrates ein aggressiver und kriegerischer Staat. Der schmerzlichste Beleg dafür ist, was sie Irak angetan haben. Die Vereinigten Staaten haben in diesem Land Staatsterrorismus praktiziert, bei vollständiger Straflosigkeit.

Auch was die Abschaffung der Armut angeht, schauen wir auf ein Desaster. Die so genannten Bretton-Woods-Institutionen (IWF und Weltbank, d. Red.) sind als politische Waffe der USA und der EU-Staaten missbraucht worden, um inmitten der UNO Druck auf andere Länder auszuüben. Wer kümmert sich denn noch um die alarmierenden Zahlen von Armut und Hunger in der Welt?

Und wie sehen Sie Ihre Rolle in dieser Situation?

Ich habe in meinem Leben viele Dinge getan. Von 1979 bis 1990 war ich Außenminister Nicaraguas. Aber ich habe mich nie mit »Exzellenz« anreden lassen. Das widerstrebt mir. Ich bin kein Anhänger von Hierarchien. Viele nennen mich Vater. Am Ende bin ich ein Priester aus den »Callampas«, den Armensiedlungen Chiles, in denen ich Basisarbeit geleistet habe. Und ich bin wie Fidel: Ein Mann mit Hoffnungen. Ein Mann, der weiß, dass eine bessere Welt möglich ist und der aus eben diesem Grund für sie kämpft.

Zahlen und Fakten - Die Vorschläge von Stiglitz

Ende 2008 berief der Präsident der UNO-Generalversammlung Miguel d'Escoto Brockmann die sogenannte Stiglitz-Kommission ein, benannt nach ihrem Vorsitzenden, dem Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz. In dieser Kommission sitzen 18 Wissenschaftler und Politiker wie die Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Nach einem Zwischenbericht im März inklusive Empfehlungen für eine neue Weltfinanzarchitektur vor dem G20-Gipfel im April in London, die dort schnöde missachtet wurden, hat die Kommission am 21. Mai einen Entwurf nachgelegt. Mit starkem Tobak: Mit den »ökonomischen Theorien«, die »bislang so in Mode waren« und behaupteten, dass »sich unregulierte Märkte selbst korrigieren und effizient sind«, müsse ein für alle Mal gebrochen werden. Während die Industrieländer meist antizyklisch agierten, um wirtschaftlichen Engpässen zu begegnen, werden die Entwicklungsländer im Rahmen von Kreditzusagen zu prozyklischer Politik angehalten, kritisiert die Kommission.

Auf 200 Milliarden US-Dollar werden die Fehlbeträge infolge der Wirtschaftskrise allein in den 40 ärmsten Länder der Welt geschätzt. Deswegen gehört zu den Vorschlägen der Kommission, dass alle Industrieländer 0,7 bis 1 Prozent ihrer Konjunkturprogramme für die Entwicklungshilfe reservieren. Auch die Aufstockung der IWF-Mittel, die Versteigerung von CO2-Zertifikaten und eine Steuer auf internationale Finanztransaktionen solle den Entwicklungsländer zugute kommen. Aufgrund der sich verschärfenden Schuldenkrise plädiert die Kommission für einen Internationalen Insolvenzgerichtshof, eine Auslandsschuldenkommission und einen globalen Wirtschaftskoordinationsrat – alle unter der Ägide der Vereinten Nationen.
ND



* Aus: Neues Deutschland, 24. Juni 2009


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