Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Armut ist nicht sexy

20 Jahre nach dem Erdgipfel von Rio leben 1,4 Milliarden Menschen von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag

Von Martin Ling *

Auf dem Erdgipfel in Rio sagte die Staatengemeinschaft vor 20 Jahren Hunger, Armut, Umweltzerstörung und dem Artensterben den Kampf an. Bisher konnten bei der Bekämpfung von Armut und Hunger kaum Fortschritte erzielt werden. Es gilt als unwahrscheinlich, dass es gelingen wird, die Zahl der Hungernden bis zum Jahr 2015 zu halbieren.

Nur dabei statt mittendrin: Im Konzept der nachhaltigen Entwicklung ist die Armutsbekämpfung implizit zwar vertreten, im Mittelpunkt steht sie freilich nicht. Denn die Definition von nachhaltiger Entwicklung der Brundtland-Kommission hob auf die ökologischen Grenzen des Planeten ab: »Entwicklung, die Bedürfnisse der Gegenwart bedient, ohne zukünftige Generationen der Möglichkeit zu berauben, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.« Eine Sicht des Nordens, wo die Bedürfnisbefriedigung in der Vergangenheit und in der Gegenwart weit über dem Niveau des Südens liegt, auch wenn schnell aufholende Schwellenländer wie China, Brasilien und Indien dem Norden von den wachsenden Mittelschichten aufwärts in Konsummustern und Ressourcenverbrauch nacheifern. Dem Rest bleibt eine solche Bedürfnisbefriedigung mangels Einkommenspotenzial verwehrt. Dieser Rest im Globalen Süden ist nach wie vor die Mehrheit, daran haben weder der Erdgipfel von Rio 1992 noch der UNO-Millienniumsgipfel 2000 in New York oder die 2001 in Doha vollmundig gestartete sogenannte Entwicklungsrunde der Welthandelsorganisation (WTO) etwas geändert.

Die Bilanz in der Armutsbekämpfung ist ernüchternd. Ein Fünftel der Weltbevölkerung - 1,4 Milliarden - lebt von 1,25 US-Dollar oder weniger pro Tag und somit in so definierter absoluter Armut, 2,5 Milliarden haben keine Toilette und eine Milliarde hungert. Diese Zahlen stammen von der Konferenz der Vereinten Nationen über Nachhaltige Entwicklung (UNCSD), die federführend mit der Organisation des Rio+20-Gipfels betraut ist.

Das Land, das absolut die meisten Menschen aus der Armut geholt hat, ist China. Dort wurden zwischen 1981 und 2005 über 600 Millionen Menschen über die absolute Armutsschwelle gehoben. Doch dass das dort praktizierte Wirtschaftsmodell den Kriterien von Nachhaltigkeit sowenig genügt wie jenes in den Industriestaaten, ist unumstritten. Ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell, das die erhoffte Entkoppelung von Wachstum und Naturverbrauch leistet, ist nicht in Sicht - eines, das Nachhaltigkeit und Armutsbekämpfung verbindet, erst recht nicht.

Ohnehin ist es eine verkürzte Sicht, Armut ausschließlich quantitativ am Einkommen festzumachen. Das UNO-Entwicklungsprogramm UNDP benützt inzwischen einen mehrdimensionalen Armutsindex und demnach sind 1,7 Milliarden Menschen arm. Arm, weil sie keinen Zugang zu politischer Teilhabe, keinen Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten haben.

Dass beim Rio+20-Gipfel grundlegende Weichen für Armutsbekämpfung im Globalen Süden gestellt werden, ist nicht zu erwarten. Zwar soll in Rio diskutiert werden, »wie man eine grüne Wirtschaft als Basis für nachhaltige Entwicklung schaffen und Menschen aus der Armut befreien kann«, doch zentrale entwicklungspolitische Fragen bleiben dabei ausgeklammert. Die leidige Tatsache, dass die Industrieländer im Schnitt nach wie vor weiter hinter dem 1992 in Rio bekräftigten Ziel aus den 70er Jahren zurückbleiben, 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes in die Entwicklungszusammenarbeit zu investieren, ist davon nur ein Ausdruck; 2011 stellten die OECD-Länder mit 133,5 Milliarden US-Dollar nur 0,31 Prozent zur Verfügung. Mehr als unverbindliche Rhetorik wird in Rio nicht hinzukommen.

Wesentlicher als die Frage der Entwicklungsfinanzierung ist die globale Agrarpolitik und die Welthandelsordnung. Zwar fordert das Umweltprogramm der Vereinten Nationen für Rio einen Kurswechsel in Richtung der Förderung einer nachhaltigen Landwirtschaft und ländlichen Entwicklung, doch eben das stand schon 1992 im globalen Aktionsprogramm Agenda 21. An der Agrarexport-Dumpingpolitik der USA und der EU zulasten der Kleinbauern im Süden hat das nichts geändert. Und die Doha-Runde siecht seit Jahren vor sich hin. Derweil werden die historischen Asymmetrien im weltweiten Handel mit bilateralen Freihandelsabkommen vertieft, statt sie wie in Doha versprochen zu korrigieren und den armen Ländern unter Berücksichtigung ihrer besonderen Bedürfnisse die Integration in den Welthandel zu ermöglichen. So wird weiter nachhaltig Armut produziert, statt sie zu bekämpfen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 6. Juni 2012

Teil 3 der nd-Serie 20 Jahre nach dem UN-Gipfel über Umwelt und Entwicklung.



Zurück zur Globalisierungs-Seite

Zur Umwelt-Seite

Zur Armuts-Seite

Zurück zur Homepage