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Ist die Rohstoffspekulation für hohe Nahrungsmittelpreise verantwortlich?

Es debattieren: Heiner Flassbeck, Chef-Volkswirt bei UNCRAD, und Tomasz Konicz, freier Journalist


Die Börsenpreise für wichtige Agrarrohstoffe wie Mais und Weizen sind in diesem Jahr wieder stark angestiegen. Dadurch gibt es Druck auf die Preise für einige Grundnahrungsmittel. Eine ähnliche Entwicklung hatte im Jahr 2008 zu Hungerrevolten geführt. Auch der Arabische Frühling entstand aus der Unzufriedenheit über hohe Preise. Doch was ist die Hauptursache für die Entwicklung? Ist es die Spekulation an den Warenterminbörsen? Oder weist dies auf die Bedrohung der Landwirtschaft in vielen Regionen durch den Klimawandel hin? Oder gibt es andere ökonomische Gründe? Darüber wird in der Linken seit Jahren gestritten. Dies ist kein akademischer Disput: Von der Beantwortung der Frage hängt ab, wo die richtigen Gegenmaßnahmen ansetzen müssten.

Die beiden folgenden Beiträge erschienen auf der "Debatten"-Seite des "neuen deutschland".



Börsenwahnsinn auf Kosten der Armen

Von Heiner Flassbeck *

Warum steigt der Preis für Weizen? Dumme Frage, sagt der gelernte Ökonom, weil die Nachfrage nach Weizen zu- oder das Angebot abnimmt. Leider falsch. Die Preise für viele Rohstoffe, darunter auch viele Nahrungsmittel, haben seit einigen Jahren sehr wenig mit Angebot und Nachfrage nach dem physisch vorhandenen Produkt zu tun, sondern mit dem Angebot und der Nachfrage nach Papieren (Derivaten), deren Preis vom Preis des dahinter stehenden Rohstoffes abhängt, der aber wieder von den Derivaten selbst massiv beeinflusst wird.

UNCTAD, die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung in Genf, hat in mehreren Studien nachgewiesen, dass die Preise vieler Rohstoffe seit einigen Jahren eng mit den Preisen für reine Finanzprodukte wie Aktien oder spekulativ gehandelten Währungen zusammenhängen. Es lässt sich zeigen, dass über viele Monate der Preis für Öl, Kupfer oder Soja weitgehend die gleichen Bewegungen aufweist wie der Preis eines umfassenden amerikanischen Aktienindex oder der Währung Brasiliens zum japanischen Yen. Und das gilt mittlerweile, in den Zeiten des Hochfrequenzhandels, für Bewegungen im Minuten- oder sogar Sekundenrhythmus.

Solche Gleichförmigkeit der Bewegungen von Preisen, die in Sachen Angebot und Nachfrage auf konkreten physischen Märkten sehr wenig oder nichts miteinander zu tun haben, kann man nur mit der Spekulation auf Derivatemärkten erklären, wo Aktien, Währungen und Rohstoffe jeweils verschiedene Anlageklassen sind, die aber in ähnlicher Weise als riskant eingestuft werden und deswegen im gleichen Tempo und in gleicher Richtung an den Finanzmärkten gehandelt werden. Die Gleichschaltung von Rohstoffen ist nicht erstaunlich, sind doch seit Mitte des letzten Jahrzehnts dreistellige Milliardensummen in diese sogenannten Rohstoffmärkte geflossen und haben, weil in der Regel auf steigende Preise spekuliert wurde, dort die Preise nach oben getrieben.

Erstaunlich ist nur, dass Politiker und die meisten Ökonomen das nicht wahrhaben wollen und mit zum Teil obskuren Argumenten bestreiten, dass es einen solchen Einfluss gibt, oder aber behaupten, diese Summen verbesserten gar die Funktionsweise der Märkte. Besonders beliebt ist das Argument, es müsse doch Absicherungsinstrumente geben, mit denen der Bauer seine Ernte schon vor der Zeit verkaufen könne, und genau das werde von der Spekulation geboten. Genau das ist aber falsch, weil man zeigen kann, dass die Preise auf den sogenannten Zukunftsmärkten, also die, die man dem Bauern zur Absicherung bietet, die tatsächlichen Schwankungen der Preise in keiner Weise vorwegnehmen. Selbst in den wenigen Fällen, wo sie einmal die richtige Richtung der Preisentwicklung anzeigen, sind die Abweichungen der Zukunftspreise im Verhältnis zu den tatsächlich zu beobachtenden Preise systematisch so groß, dass sie zu einer effektiven Absicherung überhaupt nicht zu gebrauchen sind.

All das ficht die Vertreter der reinen Theorie des Marktes nicht an, und wenn die Argumente nicht ausreichen, wird schnell mit dem großen Geld gedroht, das schon dafür sorgen wird, dass die Kritiker der Spekulation früher oder später verstummen und die Politik sich aus diesen Märkten heraushält. Gleichwohl geht kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass die massive »Finanzialisierung« der Rohstoffmärkte dafür gesorgt hat, dass Preise verzerrt werden und zwar meistens nach oben. Physisches Angebot und die Nachfrage nach physischen Produkten werden von so hohen Summen an den Derivatemärkten überlagert, dass man ohne Übertreibung sagen kann, dass an vielen Märkten heute der Preis mit Angebot und Nachfrage im traditionellen Sinne nichts mehr zu tun hat, sondern das Ergebnis von rein finanziellen Anlageentscheidungen ist. Da müssten eigentlich alle guten Marktwirtschaftler und insbesondere die in Deutschland so beliebten Ordnungspolitiker auf die Barrikaden gehen und das sofortige Verbot solcher Verzerrung fordern. Aber da müsste man sich ja mit der »Finanzindustrie« anlegen und wer traut sich das schon?

* Heiner Flassbeck ist Chef-Volkswirt bei der UNO-Konferenz für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD).


Am Tropf der Kapitalverwertung

Von Tomasz Konicz **

Einer gelungenen Spekulation liegt letztendlich immer eine adäquate Prognose zugrunde. Der Spekulant wettet mit seinem Geldeinsatz auf ein bestimmtes Ereignis oder auf eine bestimmte Entwicklung, um bei deren Eintreten seinen Profit realisieren zu können. Spekulationsblasen entstehen, wenn diese Wetten auf eine bestimmte Zukunftskonstellation (wie etwa steigende Immobilienpreise) immer stärker anschwellen und im irrationalen Überschwang ein Eigenleben annehmen. Eine solche massive Spekulationsbewegung gleicht dann einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, bei der die Preise der Spekulationsobjekte ansteigen, solange diesem Pyramidenspiel frisches Geld zugeführt wird - bis zum großen Krach.

Folglich bildet die perverseste Form der Spekulationstätigkeit - die Spekulation mit Lebensmitteln - einen wichtigen Faktor bei dem gegenwärtigen Anstieg der Lebensmittelpreise. Diese spekulative Eigenbewegung wird ja durch die expansive Geldpolitik der Notenbanken zusätzlich angeheizt, die mittels der sogenannten Quantitativen Lockerung den Finanzmärkten zusätzliche Liquidität zuführen und mit ihrer Nullzinspolitik anlagesüchtiges Kapital geradezu in die Finanz- und Warenterminmärkte drängen.

Und dennoch hat die gegenwärtige Spekulationsbewegung einen realen Kern, sie baut auf einer korrekten Prognose auf. Die Spekulation verschlimmert und beschleunigt den Preisauftrieb bei Lebensmitteln, der aber aufgrund der zunehmenden Diskrepanz zwischen dem stagnierenden globalen Angebot an Nahrungsmitteln und der anschwellenden Nachfrage ohnehin eintreten muss.

Selbstverständlich ist es nicht das - ohnehin erlahmende - globale Bevölkerungswachstum, das diese Nahrungskrise auslöst. Jean Ziegler, der ehemalige UN-Sonderberichterstater für das Recht auf Nahrung, hat wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass die Weltlandwirtschaft mühelos an die zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte. Der Preisauftrieb ist hingegen ein Symptom für die äußere, ökologische Schranke, an die das Kapital in seinem beständigen Wachstumszwang stößt: Zum einen führt der bereits voll einsetzende Klimawandel immer häufiger zu Missernten, wie etwa dieses Jahr in den Vereinigten Staaten, Russland oder der Ukraine. Andererseits steigt global die Nachfrage nach Agrarrohstoffen, mit denen die Agonie des fossilen kapitalistischen Zeitalters verlängert werden soll. Immer mehr Agrarflächen werden weltweit dazu missbraucht, um »Energiepflanzen« für »Biokraftstoffe« anzubauen, die dann in den Benzintanks unserer Autos verfeuert werden.

Tatsächlich müssen im Kapitalismus trotz des nun voll einsetzenden Klimawandels weiterhin beispielsweise immer mehr Autos gebaut werden, da nur durch diesen ökologischen Wahnsinn die ökonomische Lebensgrundlage der Lohnabhängigen gesichert werden kann. Unsere gesamte Gesellschaft hängt ja in dem absurden kapitalistischen Fetischsystem am Tropf der Kapitalverwertung. Ohne diese uferlose Produktion um der Produktion Willen, die dem Selbstzweck der uferlosen Geldvermehrung dient, zerbricht die kapitalistische Arbeitsgesellschaft an sich selbst. Ökologie und Ökonomie schließen sich im Kapitalismus tatsächlich aus - dieses System gleicht der einer Weltvernichtungsmaschine, die Rohstoffe und Naturressourcen der Erde buchstäblich verheizen muss.

Somit verweist die derzeitige Nahrungskrise auch auf eine umfassende Ressourcenkrise, die aus dem uferlosen Prozess der Kapitalakkumulation entspringt. Die Kapitalverwertung ist letztendlich an eine materielle Grundlage gekettet, bei der immer größere Mengen an Rohstoffen und Energie vermittels Lohnarbeit in Waren transformiert werden - die im Idealfall kurz nach Ablauf der Garantiezeit unbrauchbar sein sollten. Dabei müssen diese Warenmengen (wie die zu ihrer Produktion notwendigen Ressourcen) aus zwei Gründen permanent anschwellen: Erstens um als stofflicher Träger der bei jedem Verwertungskreislauf immer weiter anschwellenden Kapitalmasse zu fungieren. Zweitens aufgrund der permanent ansteigenden Produktivität, die den in einer einzelnen Ware verdinglichten Wert immer stärker abschmelzen lässt.

Der Kapitalismus stellt somit ein System effizientester Ressourcenverschwendung dar, das letztendlich dazu tendiert, für den irren Selbstzweck uferloser Geldvermehrung der Menschheit die ökologischen Lebensgrundlagen zu entziehen. Die Überwindung des in einer autodestruktiven Eigendynamik prozessierenden Kapitalverhältnisses stellt somit für die Menschheit eine akute Überlebensnotwendigkeit dar.

** Tomasz Konicz arbeitet als freier Journalist mit den Schwerpunkten Krisenanalyse, Osteuropa und Rechtsextremismus. Wegen letzterem bat der Autor, kein Foto von ihm zu veröffentlichen.

Beide Beiträge aus: neues deutschland, Samstag, 10. November 2012 ("Debatte"


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