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Überproduktion und Finanzblasen

Zum Charakter der aktuellen Weltwirtschaftskrise. Auszug aus dem neuen Buch von Lucas Zeise *


Das neoliberale Modell der Kapitalakkumulation

Die Krise nimmt kein Ende. Mit ihrer Dauer wächst die Ratlosigkeit derjenigen, die meinen, sie auf kapitalkonforme Art und Weise »lösen« zu können, was schon deshalb mißlingen muß, weil die gängigen Erklärungsansätze zu kurz greifen: Der Crash ab 2007 erscheint in der Perspektive der Herrschenden und ihrer Ideologen als Betriebsunfall, die Euro-Krise als Ergebnis der finanzpolitischen Schludrigkeit von Peripheriestaaten.

Lucas Zeise, Finanzjournalist und Kolumnist für die junge Welt, legt nun im Kölner PapyRossa Verlag mit seinem neuen Buch »Euroland wird abgebrannt. Profiteure, Opfer, Alternativen« einen umfassenden Erklärungsansatz für die aktuelle Finanz- und Weltwirtschaftskrise vor, der nicht bei solchen Oberflächlichkeiten stehenbleibt, sondern auf die prinzipiellen Gründe des ökonomischen Einbruchs zielt: Überakkumulation, Überproduktion, Verselbständigung des Finanzsektors.

jW veröffentlicht das erste Kapitel des Buchs in zwei Teilen vorab. Wir dokumentieren im Folgenden diesen Vorabdruck.



Im Sommer 2012 wurde die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise fünf Jahre alt. Allein diese Dauer läßt sie zu einer historischen Zäsur in der Entwicklung des Kapitalismus werden. »Normale« Konjunkturkrisen dauern fünf Quartale. In diese Weltwirtschaftskrise sind Episoden der Erholung und des erneuten Abschwungs eingebettet. Die Krise gilt dann, wie zum Beispiel 2010 und 2011 in Deutschland, in der öffentlichen Wahrnehmung als beendet, wenn es vorübergehend wieder aufwärts geht. Wenn dann, wie im zweiten Halbjahr 2011 die Banken erneut zu wackeln und die Aufträge der Industrie zu schrumpfen beginnen, stellt sich heraus, daß die Probleme die alten sind und daß von einer Rückkehr zu den Wachstumsbedingungen aus Zeiten vor der Krise keine Rede sein kann.

Vom Typ her handelt es sich auch bei dieser großen Weltwirtschaftskrise um eine normale Überproduktionskrise, wie sie für den Kapitalismus typisch ist. Nur ist sie deutlich radikaler als die gemeine konjunkturelle Überproduktionskrise, die auch Konjunkturzyklus genannt wird und an die wir uns als zwangsläufige, wiederkehrende Erscheinung schon einigermaßen gewöhnt hatten.

Radikaler Umbruch

Die Radikalität dieser Krise zeigt sich zum einen in ihrer Hartnäckigkeit. Sie kann nicht auf die typische Art konjunktureller Krisen gelöst werden, wo die Entwertung des überschüssigen Kapitals einen neuen Akkumulationszyklus ermöglicht. Die Radikalität der Krise zeigt sich zum zweiten in den ökonomischen Daten. Der Wirtschaftseinbruch war in fast allen reifen kapitalistischen Ländern, den sogenannten OECD-Staaten, so auch in Deutschland, im ersten Abschwung dieser Krise zwischen Ende 2007 und Mitte 2009 schärfer als je in der Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Erholung seitdem hat unter den sieben größten traditionellen kapitalistischen Volkswirtschaften allein Kanada nennenswert über das Vorkrisenniveau hinausgeführt. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt haben die USA und Deutschland Ende 2011 das Vorkrisenniveau ganz knapp übertroffen, Frankreich hat es knapp wieder erreicht, während Großbritannien, Italien und Japan weit unter dem damaligen Niveau geblieben sind. Die Kapazitäten der Volkswirtschaften bleiben in den meisten Ländern auch in der Erholungszwischenphase der Weltwirtschaft massiv unterausgelastet, und die Arbeitslosigkeit steigt. In dieser Hinsicht erweist sich die Entwicklung in Deutschland als Ausnahme. Aber auch hier bleibt die Investitionstätigkeit wie überall sonst in den OECD-Ländern schwach. Die Radikalität dieser Krise zeigt sich drittens in den sozialen Auswirkungen, der steigenden Arbeitslosigkeit und wachsenden Armut. Sie zeigt sich schließlich auch in der Zerrüttung der Staatsfinanzen, der evidenten Ratlosigkeit der Regierungen, mit den Krisenfolgen umzugehen, und auch in der Unzufriedenheit der Regierten.

Die Krise ist historisch vergleichbar mit der großen Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts, die 1929 auch mit einem Finanzcrash begann, und mit der schwerwiegenden Krise der 70er Jahre, die ebenfalls durch eine tiefe Rezession gekennzeichnet war, alle kapitalistischen Länder erfaßte und die Phase fester Wechselkurse sowie die Prosperitätsperiode der Nachkriegszeit beendete. Die aktuelle Krise dürfte in diesem Sinne eine Umbruchskrise der Weltwirtschaft bedeuten. Sie beendet diejenige Phase eines wirtschaftspolitischen Regimes, die wir uns angewöhnt haben, als neoliberal zu bezeichnen. Anders ausgedrückt, macht diese Krise deutlich, daß das neoliberale Modell nicht mehr funktioniert.

Das neoliberale Modell ist aus einer Krise des Kapitalismus, ähnlich der heutigen, in den späten siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entstanden. Sein Vorgängermodell war wirtschaftspolitisch vom Keynesianismus geprägt, es orientierte auf eine teilweise Befriedung der Arbeiterklasse und setzte in betonter Form staatliche Mittel zur Stärkung der jeweils nationalen Kapital¬akkumulation ein. Es wird von manchen wegen der in großen Industriebetrieben mit langen Fertigungsstraßen gewonnenen gesteigerten Arbeitsproduktivität auch als »Fordismus« bezeichnet. Dieses frühere Wachstumsmodell ging aufgrund einer Mischung aus inneren Widersprüchen (steigender Inflation, fallender Dollar) und äußerem Widerstand (relativ starkes sozialistisches Lager, Niederlage der USA in Vietnam, steigende Rohstoffpreise) zu Ende. Die Regierungen von Margaret Thatcher (in Großbritannien von 1979 bis 1990) und Ronald Reagan (in den USA von 1980 bis 1988) markieren auf der am besten sichtbaren politischen Ebene den Beginn des Neoliberalismus. (Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß in den USA schon 1979 der vom Demokraten James Carter eingesetzte Zentralbankchef Paul Volcker mit radikal restriktiver Hochzinspolitik die Phase des Neoliberalismus einleitet. Volcker findet man in dieser Wirtschaftskrise als engen Wirtschaftsberater des US-Präsidenten Barack Obama wieder.)

Fünf markante Merkmale kennzeichnen das neoliberale kapitalistische Wirtschaftsmodell: Es zielt radikaler und direkter als das Vorgängermodell auf eine Erhöhung der Kapitalrendite. Zu diesem Zweck werden die Gewerkschaften systematisch geschwächt, wird von Seiten des Staates Druck auf die Löhne ausgeübt. Marxistisch gesprochen: Es wird mit allen Mitteln versucht, die Mehrwertrate zu erhöhen.

Nationale Schutzschranken für den Warenhandel und den Kapitalverkehr werden systematisch abgebaut, um stärkere Kapitale zu bevorzugen und die Monopolisierung voranzutreiben.

Die transnationalen Konzerne bauen zunächst in den Industrieländern, nach 1989/90 auch in den Ländern der sogenannten 2. und 3. Welt im Rahmen der »Globalisierung« Produktionsverbünde auf. Damit gelingt es, Arbeitskräfte und natürliche Ressourcen billig einzukaufen und die Früchte des Produktivitätsfortschritts vollständig der Kapitalseite zukommen zu lassen.

Um die Kosten für das Kapital niedrig zu halten, wird der Staat kurz gehalten und geplündert. Die Privatisierung von Staatsvermögen, die Vernachlässigung der Infrastruktur, von Bildung und Erziehung und Gesundheit der breiten Bevölkerung gehören zum Kern des neoliberalen Credos.

Schließlich entsteht im Zentrum des neoliberalen Modells ein rasant und immer schneller wachsender, überdimensionierter Finanzsektor. Er ist Resultat der ungleicher werdenden Einkommensverteilung, da die wachsenden Profitmassen in den Händen der Wenigen in Anlagen außerhalb der Produktionssphäre drängen. Umgekehrt gelingt es, über die Spekulation im Finanzsektor die Kapitalrendite weiter zu erhöhen.

Warum erst jetzt?

Wenn man sich heute die Periode des Neoliberalismus ansieht, muß man anerkennen, daß die Herren und wenigen Damen, die diese Politik weltweit durchgesetzt haben, durchaus erfolgreich waren. Verglichen mit 1980 ist vor allem die Verteilung von Vermögen ungleicher geworden. Das trifft nicht nur auf einige Länder zu, sondern auf alle. In allen Industrieländern, in den USA, in Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien, Holland und Japan, ja, auch in den skandinavischen Ländern, die immer noch einen großen Staatssektor und einigermaßen intakte soziale Sicherungssysteme haben, ist der Anteil der Profite am Volkseinkommen heute bedeutend höher als 1980. Umgekehrt ist der Anteil der Einkommen aus abhängiger Beschäftigung, die sogenannte Lohnquote, in allen Ländern in diesen dreißig Jahren gesunken. Für die USA veröffentlicht das Budget Office des Kongresses (www.resolutionfoundation.org) geradezu klassische Daten: Zwischen 1979 und 2007 hat das reale, also inflationsbereinigte Einkommen nach Steuern der ein Prozent reichsten Haushalte um 275 Prozent zugelegt. Die obersten 20 Prozent der Einkommenspyramide konnten ihr Einkommen in dieser Zeit um immerhin 65 Prozent steigern. Das untere Fünftel hat in den betrachteten 28 Jahren gerade mal um 15 Prozent und die 60 Prozent in der Mitte um durchschnittlich knapp 40 Prozent mehr Realeinkommen erzielt.

Angesichts dessen muß man feststellen, daß es nicht so schwierig ist zu erklären, wie es zu dieser großen konjunkturellen Krise gekommen ist. Die schwierige Frage ist vielmehr, warum es so lange gedauert hat. Marxisten jedenfalls und andere kluge Ökonomen hatten eine solche Krise sehr viel früher erwartet. Denn die typische Krankheit des Kapitalismus ist schließlich die Überproduktionskrise. Sie entsteht aus dem Widerspruch zwischen zu hohen Profiten einerseits und zurückbleibenden Lohn- und Sozialeinkommen andererseits. Etwa so: Grundsätzlich wird der Wirtschaftskreislauf im Kapitalismus von der Erwartung der Kapitalisten auf Profit in Gang gehalten. In der Hochkonjunktur, wenn die Wirtschaft bestens läuft, besteht nicht nur die Erwartung auf hohe Profite. Diese stellen sich tatsächlich auch ein. Sie müssen ihrerseits aber wieder angelegt werden – mit einer mindestens ebenso hohen Erwartung auf Zugewinn in der Zukunft verknüpft. Dem schnellen Wachstum der Profitmasse steht aber irgendwann einmal eine im Vergleich dazu relativ zurückbleibende Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen gegenüber. Die Kapitalisten sehen keine ihren Maßstäben entsprechenden profitablen Anlagemöglichkeiten mehr. Sie horten die angehäuften Profite in Geldform. Sie investieren sie nicht. Die Nachfrage nach Investitionsgütern geht damit zurück. Der Wirtschaftskreislauf stockt.

Die Krise beginnt

Da das neoliberale Regime diesen Widerspruch programmgemäß noch verstärkt, die effektive Kaufkraft der breiten Masse also noch weniger Schritt halten kann mit der Entwicklung der Profite, müßte die kapitalistische Überproduktionskrise in einem neoliberalen Regime noch schneller eintreten als ohnehin. Das war aber nicht der Fall. Zwar gab es in der betrachteten Periode zwei ausgeprägte Rezessionen zu Beginn der 90er Jahre und in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts. Verglichen mit der langen Doppelkrise in der Zeit von 1973 bis 1982, in der der Übergang zum Neoliberalismus durchgesetzt wurde, waren diese Konjunkturabschwünge aber vergleichsweise harmlos.

Vermutlich waren es drei gewichtige Entwicklungen im Kapitalismus der letzten dreißig Jahre, die den Ausbruch der großen und eigentlich fälligen Überproduktionskrise verhindert oder besser verzögert haben.

Erstens die technologische Revolution der Mikroelektronik und Informationstechnik. Der mit ihr verbundene Produktivitätsfortschritt hat die Profite auf breiter Front gesteigert. Wichtiger noch, sie hat einen Investitionszyklus in Gang gesetzt, der diese Profite absorbieren konnte. Diese technische Erneuerung hat nicht nur neue Konsumgüter hervorgebracht, sondern auch die Modernisierung des gesamten fixen Kapitals gefordert.

Zweitens hat die Niederlage des Sozialismus in Europa und der Sowjetunion das Gebiet des Kapitalismus sprunghaft erweitert. Quantitativ bedeutender noch war die auch in dieser Zeit stattfindende Einbeziehung Chinas in den Kapitalismus. Insgesamt sind damit mehr als zwei Milliarden Menschen neu in das System der Mehrwertproduktion integriert worden. Auch diese Entwicklung hat den Kapitalisten grandiose Profit versprechende Investitionsmöglichkeiten eröffnet. Kapital strömte aus allen Regionen des alten Kapitalismus nach Ostasien und in den wilden europäischen Osten. Rosa Luxemburg hat die These aufgestellt, daß der Kapitalismus dann untergehen wird, wenn er geographisch nicht mehr expandieren kann. So weit hat sie bestimmt recht, daß die Expansion des Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten ihm neues Leben eingehaucht hat.

Drittens entwickelte das neoliberale Regime einen enorm aufgeblähten Finanzsektor. Er wurde von den riesigen Profitmassen gespeist. Er stellte stets wachsende und dringend gebrauchte Anlageobjekte für die immer größer werdende Menge an Kapital zur Verfügung. Der stärker als die Realwirtschaft wachsende Finanzsektor absorbierte einen immer größeren Anteil des anfallenden Gesamtprofits. Zugleich erschloß sich das Kapital des Finanzsektors von der gemeinen Mehrwertproduktion scheinbar unabhängige Profitquellen. Die zunehmende Verschuldung, die gleichbedeutend ist mit einem entsprechenden Wachstum der Vermögensansprüche, hat so dazu beigetragen, den Eintritt der fälligen Wirtschaftskrise zu verzögern.

Wuchernder Finanzsektor

Es lohnt sich, einen Blick auf die Funktionsweise von Banken und Geld zu werfen, und darauf, was es bedeutet, wenn der Finanzsektor über eine längere Periode hinweg stärker wächst als die Realwirtschaft. »Realwirtschaft« ist ein Begriff, den die Banker selber erfunden haben und nutzen. Sie meinen damit, einfach ausgedrückt, die wirtschaftliche Welt außerhalb der Bank. Das ist die Welt der Produktion, des Handels, der Landwirtschaft, des Verkehrs und der realen Dienstleistungen (wie etwa ein Haarschnitt und eine Opernaufführung). Selbst die virtuellen Welten des Internet sind Teil der Realwirtschaft. Im Gegensatz dazu ist »Irrealwirtschaft« die Welt der Finanzen. Dazu zählen als wichtigste Institutionen Banken und Versicherungen, außerdem Fonds, die Börsen und schließlich die relativ jungen Institutionen wie Hedgefonds und Private-Equity- oder Beteiligungsfonds. Für letztere hat sich, Franz Müntefering folgend, in Deutschland der Ausdruck »Heuschrecken« eingebürgert. Der Zweck der Hedge- und Private-Equity-Fonds ist es, den Reichtum der ohnehin sehr Begüterten weiter zu mehren. Sie sind insofern typische Produkte des Neoliberalismus.

Während auf realwirtschaftlichen Märkten Waren (und Dienste) gegen Geld getauscht werden, wird in der irrealwirtschaftlichen Finanzwelt Geld gegen Geld getauscht. Das ist nur auf den ersten Blick absurd. Es sind die verschiedenen Formen des Geldes, die getauscht werden, zum Beispiel also eine Aktie gegen Bargeld oder Versicherungsprämien gegen das Versprechen einer Rente oder eine Währung gegen eine andere. Man braucht kein Marxist zu sein, um zu erkennen, daß in der Finanzwirtschaft kein Wert geschaffen wird. Die Finanzwirtschaft konstruiert und tauscht vielmehr Ansprüche oder juristische Titel auf die in der Realwirtschaft produzierten Werte.

Die Schätzungen darüber, um wieviel stärker das Finanzvermögen weltweit gewachsen ist als die Realwirtschaft, sind unterschiedlich. Das hängt davon ab, welche Daten herangezogen werden. Aber an der Tatsache als solcher besteht kein Zweifel. Es scheint ebenso sicher, daß sich der Prozeß des schnelleren Wachstums des Finanzsektors in jüngerer Zeit noch einmal beschleunigt hat. Die Deutsche Bundesbank drückt sich so aus: »Die Finanzmärkte sind in den letzten Jahren stürmisch gewachsen. Nach Angaben des IWF summierten sich die weltweit ausstehenden Finanzaktiva (Bankaktiva, Schuldverschreibungen, Aktien) Ende 2006 auf 194 Billionen US-Dollar, verglichen mit 106 Billionen US-Dollar vier Jahre zuvor. Die bereits für Ende 2007 vorliegenden Daten zu Aktien und Schuldverschreibungen deuten darauf hin, daß inzwischen die Marke von 200 Billionen US-Dollar überschritten wurde. Zudem ist das Verhältnis der globalen Finanzaktiva zum Weltsozialprodukt seit 2002 um mehr als 75 Prozentpunkte gestiegen und lag Ende 2006 bei über 400 Prozent. Das Weltfinanzsystem ist damit deutlich schneller gewachsen als die Weltwirtschaft.« (Monatsbericht 7/08 der Deutschen Bundesbank)

Der im Vergleich zur Realwirtschaft zu groß geratene Finanzsektor, seine Disproportionalität zeigt sich in einer Vielzahl von Erscheinungen. So hat sich der Wert der Finanzfirmen am Gesamtwert der Börse in den letzten zwanzig Jahren von einem Anteil von 15 auf etwa 30 Prozent verdoppelt. Wenig überraschend entspricht der gestiegene Anteil am Börsenwert dem ebenfalls deutlich gestiegenen Anteil des Finanzsektors an den Gewinnen des Gesamtkapitals. In den USA hat der Nettogewinn der im Finanzsektor tätigen Kapitalgesellschaften 2006 einen Wert von 2,7 Prozent des Nationaleinkommens erreicht – ein bis vor kurzem als unmöglich erachtetes Niveau. Zwischen 1929 und 2000 lag das Mittel in den USA, wo es entsprechend lang zurückgehende statistische Daten gibt, bei 0,9 Prozent. Der Höchstwert aus dieser langen Periode lag bei 1,5 Prozent und stammt bezeichnenderweise aus dem Jahr 1929. (Nach Financial Times Deutschland, 3.6.2008)

Natürlich ist auch die Zahl der Beschäftigten im Finanzsektor relativ zur Zahl der im verarbeitenden Gewerbe und im Handel Beschäftigten gestiegen. Ein anderer Indikator ist die hohe Bewertung der Börse selbst. Nicht nur die Preise für Aktien, auch die für andere Wertpapiere und überhaupt Vermögensgegenstände wie zum Beispiel Immobilien sind enorm gestiegen. Kein Wunder, daß Volkswirte unentwegt Preisblasen an den verschiedenen Vermögensmärkten wie Aktien, Bonds, Immobilien feststellten. Kein Wunder auch, daß die Notenbanker in ihren jeweiligen Währungsräumen über Jahre hinweg deutlich über dem Nominalwachstum liegende Wachstumsraten für die Menge an Geld im Umlauf konstatierten. Die Kreditvergabe steigt Quartal für Quartal um ein Mehrfaches dessen, was das Wachstum des Sozialprodukts unter Einschluß der Inflation beträgt.

Der Boom des Finanzsektors, die hohen Preise für Vermögenswerte führen im Lauf der Zeit dazu, daß der Markt für Unternehmensübernahmen enorm in Schwung kommt. Es wird einfacher, das Geld für den Kauf von Unternehmen zusammenzubekommen. Bei steigenden Preisen am Aktienmarkt und damit für Unternehmen, erscheint das Risiko gering. Es entsteht eine neue Branche, die sich auf Unternehmenskäufe und -verkäufe spezialisiert. Es sind die »Private-Equity-Fonds«, in Deutschland gern auch als »Heuschrecken« bezeichnet, die nicht wie die einfachen Groß- oder Kleinanleger nur an der Börse spekulieren – Aktien billig kaufen und teuer verkaufen –, sondern das mit ganzen Unternehmen tun.


Spekulation und ihre Auswirkungen auf die »Realwirtschaft«

Der sich aufblähende Finanzsektor ist zunächst Ausdruck und zugleich wesentliches Mittel, die gesellschaftliche Mehrwertrate zu erhöhen. Offensichtlich ist der Zusammenhang, daß die ungleicher werdende Einkommensverteilung in der Gesellschaft zu höherem Anlagedruck des Kapitals führt. Die Investitionen im Finanzsektor können somit als Ausweichreaktion des Kapitals interpretiert werden, das vor den als zu niedrig erachteten Renditeerwartungen außerhalb des Finanzsektors flieht. Zugleich ist der Finanzsektor ein wichtiges Mittel, um sowohl die gesellschaftliche Mehrwertrate zu erhöhen, als auch die Profite innerhalb der Kapitalistenklasse in Richtung der Monopole umzuverteilen.

Ein entwickelter, großer Finanzsektor erhöht die Flexibilität des Kapitals. Er dient sozusagen als Schmiermittel beim Prozeß des Ausgleichs der Profitraten. Die Suche nach der höchsten Rendite ist für das Kapital und seine Verwalter bei einem hoch entwickelten Finanzsektor eine billige und wenig Zeit raubende Angelegenheit. Ist der Finanzsektor dagegen wenig entwickelt, dann ist es für das in der industriellen Produktion engagierte Kapital mühsam und langwierig, sich einer lockenden anderen Investition zuzuwenden.

Alles muß raus

Fabriken, Immobilien, Lizenzen, Rechte und alles Drum und Dran müssen verkauft bzw. all diese schönen Dinge müssen verwertet oder schließlich beliehen werden, bevor das Kapital seine Beweglichkeit zurückgewinnt. Verkauf und Beleihung sind für den modernen hyperaktiven Finanzsektor kein Problem. Für ersteres bietet sich als Agent eine Investmentbank vom Schlage Goldman Sachs’ oder Deutsche Bank an. Für letzteres ist der Kapitalist nicht mehr auf die Gnade und das Geschick seiner Hausbank angewiesen. Er hat vielmehr die Wahl. Auch Kapital in liquider Gestalt – zum Beispiel Aktien oder Anleihen – wird im entwickelten Finanzmarkt noch beweglicher. Die steigenden Umsätze am Kapitalmarkt zeigen es. Die Beweglichkeit des Kapitals erweist sich in der Auseinandersetzung mit den Lohnarbeitern als Vorteil. Entlassungen, Rationalisierungsmaßnahmen, Standortschließungen sind meist die unmittelbare Folge von Fusionen und Übernahmen. Die in volkswirtschaftlichen Seminaren an Universitäten und Business Schools gepriesene »Produktivität« des Finanzsektors bedeutet genau das: die Fähigkeit, eine höhere Ausbeutungsrate durchzusetzen.

Die hohen, im Finanzsektor erzielbaren Renditen führen dazu, daß die Investitionen des Anlage suchenden Kapitals vorwiegend weiterhin dort getätigt werden, während Investitionen in die übrige Wirtschaft, die »Realwirtschaft«, mäßig bleiben. Dies ist ein Grund dafür, daß das Wirtschaftswachstum in der Phase des Neoliberalismus gering geblieben ist. Der wichtigere Grund ist freilich die Tendenz stagnierender oder generell schwächer werdender Nachfrage. Alle hoch entwickelten, reifen kapitalistischen Länder haben mit diesem Problem zu kämpfen. Auch dieses Problem hat eine einfache Ursache. Es ist wiederum die ungleicher werdende Einkommensverteilung. Weil die unteren Einkommens- und Lohngruppen in der Gesellschaft – auch dank der systematischen Zerstörung der Macht der Gewerkschaften – über allenfalls geringe Zuwächse ihrer Einkommen verfügen, wächst auch die Endnachfrage der Haushalte nicht. Weil die Nachfrage nach Konsumgütern stagniert, steuert die neoliberale Volkswirtschaft chronisch in eine Unterkonsumtions- oder Überproduktionskrise. Diese von Karl Marx stammenden Ausdrücke beschreiben deutlich, daß die produzierten Güter am Schluß, anders als die bürgerliche (und neoliberale) Volkswirtschaftslehre uns weismachen will, nicht gekauft werden. Der Markt wird nicht geräumt. Relativ zur kümmerlichen Nachfrage wird zu viel produziert. Relativ zum Angebot an Waren wird zu wenig konsumiert.

Viel Fremdkapital

Ein großer Finanzsektor trägt auch viel zur Umverteilung innerhalb der Kapitalistenklasse bei. Am deutlichsten wird das im hohen Einsatz von Fremdkapital. Wie das Beispiel der als »Heuschrecken« bekannten Finanzinvestoren zeigt, kann mit der Minimierung des Eigenkapitaleinsatzes und entsprechend hohen Fremdkapitalanteilen die Rendite auf das Eigenkapital bei entsprechend erhöhtem Risiko erheblich nach oben gehebelt werden. Je höher der Fremdkapitaleinsatz, je höher der Anteil der Bankkredite, desto höhere Anteile fließen in Richtung Finanzsektor. Diejenigen Kapitalisten, die sich als Zeichner von Hedge- oder Private-Equity-Fonds oder wie die Familien Porsche, Piëch, Schaeffler und Quandt/Klatten auf direktem Wege im Finanzsektor betätigen, können so, ganz wie das originäre Bankkapital, einen Teil des im industriellen Sektor anderswo erzielten Profits für sich abzweigen. Die überproportionale Expansion des Finanzsektors trägt auf zweierlei Weise dazu bei, daß sich der Eintritt der eigentlich fälligen Überakkumulationskrise verzögert: Der Finanzsektor absorbiert hohe anfallende Gewinne in unproduktive Investitionen.

Durch im Finanzsektor entstehende Preis- und Spekulationsblasen werden Gewinne suggeriert, wird reale Investitions- und Konsumnachfrage angeregt. Der erste Punkt ist offensichtlich. In der Phase, da der Finanzsektor wächst, absorbiert er größer werdende Anteile an den angehäuften Profitmassen. Diese »Investitionen« des Kapitals sind Finanzanlagen. Sie stehen nicht sofort zur industriellen Kapitalakkumulation zur Verfügung. Sie vergrößern zunächst nur die Ansprüche auf Teile des in der Gesellschaft entstehenden Profits. Sie erhöhen damit die Verschuldung der Gesellschaft. Sie erhöhen zugleich die Preise der Gewinnansprüche und verursachen damit die Spekulationsblasen.

Fiktiv und real

Diese Blasen sind das spektakulärste und sicher auch interessanteste Resultat des Finanzsektors. »Resultat« ist kein besonders treffender Ausdruck, denn schließlich gilt auch, daß der Finanzsektor nicht nur die Spekulation produziert, sondern umgekehrt von ihr produziert und aufgebläht wird. Über den Charakter, über Ursachen und Folgen von Spekulationsmärkten und -krisen wird aus aktuellem Anlaß in jüngster Zeit viel geschrieben. Hier nur einige wenige Anmerkungen dazu. Spekulationsmärkte sind Erscheinungen des Finanzsektors, denn es sind reine Preisphänomene. Von einer Spekulationsblase kann man dann sprechen, wenn die auf einem Markt Handelnden die Waren nicht mehr zum Verbrauch oder zur nützlichen Verwendung kaufen, sondern nur, um sie teurer wieder zu verkaufen.

Im Prinzip kann jeder Markt für jedes Produkt in dieses verrückte Spekulationsstadium eintreten. Dieses Produkt muß allerdings einen realen Wert (durchaus im Sinne der klassischen Werttheorie) haben oder zumindest versprechen. In diesem Sinne gleichen spekulative Finanzmärkte durchaus dem Casino. Die dort ausgegebenen Chips sind Ansprüche auf Bargeld, genau so wie die verschiedenen Derivate, ob Futures, Optionen oder Kreditversicherungsverträge, Ansprüche auf Zahlungen in »echtem« Geld bedeuten. Im Casino wird allerdings nicht gehandelt, sondern gespielt. Weil das Casino kein Markt ist, sondern weil alle gegen die Bank (den Casino-Veranstalter) spielen und jeder Gewinn zugleich einen Verlust für die Bank bedeutet und umgekehrt, fehlt bei dieser Veranstaltung jene Erscheinung, die die Spekulation überhaupt erst so attraktiv werden läßt: In der spekulativen Aufwärtsphase gewinnen alle. Alle beteiligten Spekulanten verkaufen teurer, als sie gekauft haben. Natürlich versuchen sie zugleich, sich gegenseitig zu übervorteilen. Das bestimmt nur darüber, wer mehr gewinnt als der andere. Grundsätzlich aber gewinnen bei steigenden Preisen alle.

Tatsächlich ist dieser Gewinn für alle nicht wirklich real. Er ist insofern fiktiv, als die Ware, mit der die Spekulationsgewinne erzielt werden, sich im Zuge der Spekulation und der steigenden Preise nicht verändert. Allein die Spekulanten haben mehr Geld in der Tasche. Das Fiktive dieser Gewinne wird in der Abwärtsphase der Spekulation bei auf breiter Front sinkenden Preisen schmerzhaft deutlich. Die Spekulanten verlieren, denn sie verkaufen billiger, als sie gekauft haben. Das Geld in ihren Taschen schwindet. Was vorher da war, ist nun weg. Wie zuvor der Gewinn betrifft nun der Verlust alle.

Bemerkenswert ist zudem, daß die eigentlich nur fiktiven Gewinne der Spekulanten in der Aufwärtsphase reale ökonomische Wirkungen haben. Denn das zusätzliche Geld in den Taschen der Spekulanten führt dazu, daß sie nicht nur ihre Spekulationseinsätze erhöhen, sondern auch dazu, daß sie mehr andere Waren kaufen – beispielsweise Brötchen, Porsches, Luxusreisen oder teure Villen. Im Ergebnis werden die Bäcker, Autoproduzenten, Reiseveranstalter, Makler und Baufirmen ihr Angebot bzw. ihre Produktion erhöhen. Aus einem fiktiven Reichtum der Makler wird also ein höchst reales Plus in der wirklichen Ökonomie. Somit erklärt sich auch, daß steigende Preise an Spekulationsmärkten, zum Beispiel am Aktienmarkt, durchaus wohlwollend, wenn nicht sogar begeistert kommentiert werden. Leider gilt der Zusammenhang der Spekulation mit der realen Wirtschaft auch in der Abwärtsphase. Die sinkende effektive Nachfrage der ärmer werdenden Spekulanten hemmt Absatz und Produktion.

In spekulativen Hochphasen wird also die Tendenz des neoliberalen Wirtschaftsmodells zu Stagnation und Unterkonsumtion überspielt. Die Spekulation suggeriert steigende Gewinne in der Zukunft. Die Investitionen steigen. Sie schaffen zusätzliche Nachfrage und fördern damit den Aufschwung. Der bei steigenden Vermögenspreisen explodierende Reichtum in den Händen der an der Spekulation Beteiligten, färbt außerdem auf die übrige Gesellschaft ab. Die immer reicher werdenden Spekulanten fragen mehr Luxusgüter nach, sie bauen sich Häuser und Paläste und richten sie ein. Die zahlungskräftige Nachfrage nach Porsches, nach Immobilien, nach Reisen in der Busineß- oder der ersten Klasse steigt. Auch dadurch wird die Realwirtschaft angeregt. Wenn die Spekulationsblase geplatzt ist, schrumpft umgekehrt diese Nachfrage drastisch.

Periodische Zusammenbrüche

Auch die verrückteste Spekulation umkreist immer eine Ware oder Gruppe von Waren. Die Objekte der großen Spekulationswellen in der Phase des Neoliberalismus waren: Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts die Staatsschulden der lateinamerikanischen und anderer Entwicklungsländer. Diese Blase platzte 1982, als Mexiko zahlungsunfähig wurde. Die Periode danach gilt für Lateinamerika auch heute noch als das verlorene Jahrzehnt.

Ende der 80er Jahre erreichte die Spekula¬tion um japanische Aktien und Immobilien ihren Höhepunkt. Zum Jahreswechsel 1989/90 platzte diese Blase. Die zuvor kräftig und dauerhaft wachsende japanische Wirtschaft, die auch der Anlaß für diese Spekulationswelle gewesen war, geriet in eine Stagnationsphase, die zuweilen nur von Rezessionen unterbrochen wurde. Bis heute hat sich Japan nicht erholt.

1997 brach die Spekulation auf die boomenden Ökonomien der asiatischen Tigerstaaten (Südkorea, Taiwan, Hongkong, Singapur, Thailand und Indonesien) in sich zusammen. Die realwirtschaftlichen Folgen auch dieser Finanzkrise betrafen hauptsächlich diese Länder. Sie erlitten schwere Rezessionen. Eine Spätfolge war die Rußlandkrise, in deren Gefolge schließlich der von zwei Nobelpreisträgern für Wirtschaft geführte Hedge-Fonds LTCM fast zusammenbrach und von der US-Notenbank gerettet werden mußte.

Die vorletzte große Spekulationskrise betraf den internationalen Aktienmarkt und da besonders das Teilsegment der Internet- und Telekommunikationsaktien. Der Preisanstieg dieser Aktien verlief bis ins Frühjahr 2000 hinein außergewöhnlich spektakulär. Der folgende Crash dauerte zwei Jahre. Als Konsequenz gingen die Investitionen drastisch zurück. In Deutschland dauerte die dadurch eingeleitete Rezessions- und Stagnationsperiode bis 2005. Sie war damit die längste Stagnationsphase nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Wohnimmobilienmarkt in den USA, die Verschuldung der US-Haushalte und damit die Verschuldung der reichsten und größten Volkswirtschaft des Globus waren die Elemente, die schließlich die größte Spekulationsblase in der Geschichte des Kapitalismus ausmachten. Die US-Wirtschaftspolitik hatte bereits zwei Jahrzehnte lang explizit die positiven Wirkungen der Finanzspekulation nicht nur auf die Gewinne der Spekulanten selber, sondern auch auf die Ökonomie in der Breite ausgenutzt. Die Politik der Notenbank unter Alan Greenspan folgte diesem Muster. Der von Goldman Sachs kommende Finanzminister unter Präsident Clinton (1992–2000), Robert Rubin, untermauerte in den neunziger Jahren diese Taktik auch verbal mit der »Politik des starken Dollar«. Der Dollar sollte dabei nicht wirklich gegenüber anderen Währungen teurer werden. Es ging vielmehr um die Attraktivität der auf Dollar lautenden Vermögensansprüche. Diese Politik ging voll und ganz auf. Seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren die USA das größte Kapitalimportland. Auch nach Rubin und selbst in der Aktienmarktkrise von 2000 bis 2003, deren Zentrum schließlich auch in den Vereinigten Staaten lag, strömte weiter Kapital in die USA.

Nachfrage durch Verschuldung

Dieser Kapitalstrom finanzierte ohne Probleme das wachsende Außenhandels- und Leistungsbilanzdefizit der USA. In immer stärkerem Maße diente der Zufluß von Kapital der Finanzierung des Konsums der US-Bürger. Die US-Haushalte, deren Lohneinkommen ebenso stagnierte wie das ihrer Kollegen in anderen Ländern, finanzierten einen wachsenden Anteil ihres laufenden Konsums mit steigender Verschuldung. Dank der damit kräftigeren Endnachfrage war das Wachstum in den USA stetig höher als in Europa oder gar Japan. Da die Haushalte in der Volkswirtschaft der USA ein Gewicht von 70 Prozent haben und die US-Wirtschaft wiederum mit etwa 30 Prozent am Weltsozialprodukt immer noch die bei weitem größte Volkswirtschaft der Erde ist, wirkte die durch Verschuldung aufgepeppte Nachfrage als effektiver Nachfragesog der Weltwirtschaft. Das aufstrebende China richtete sich mit einer auf rasantes Wachstum getrimmten Exportindustrie von Konsumgütern ganz darauf aus. Andere Exportländer wie Japan und Deutschland lieferten vorwiegend die Investitionsgüter in alle Welt, waren aber indirekt ebenso von der stetig steigenden Konsumgüternachfrage der USA abhängig. Knapp zusammengefaßt hat die Spekulation die Verschuldung der USA ermöglicht und damit auf globaler Ebene der Tendenz zur wirtschaftlichen Stagnation entgegengewirkt, die sich aus der Unterkonsumtion der breiten Massen in von wachsender Ungleichheit gekennzeichneten Gesellschaften ergibt.

Als die Finanzkrise im Sommer 2007 ausbrach, hörte auch das internationale Kapital auf, den Konsum der US-Haushalte zu finanzieren. Entsprechend wuchs dieser nicht mehr. Aufgrund der nachlassenden Nachfrage glitt die US-Volkswirtschaft Ende 2007 in die Rezession. Es dauerte etwa neun Monate, bis sich die schwach werdende Nachfrage auch in den Aufträgen der deutschen Exportwirtschaft niederschlug. Aber es war unvermeidlich. Schließlich hatten die USA (und einige andere Länder wie Großbritannien) mit ihrer Importnachfrage die Weltkonjunktur in Schwung gehalten. Die resultierende Weltwirtschaftskrise ist die typische Unterkonsumtionskrise, bei der es an effektiver Nachfrage fehlt. Die lohnabhängigen Konsumenten kaufen nicht, weil es ihnen an Geld fehlt, die Unternehmen investieren nicht, weil die Absatzchancen mager sind. Die Banken geben keinen Kredit, weil sie angesichts magerer Konjunkturaussichten um die Rückzahlung fürchten und weil sie aus ihren spekulativen Altengagements noch weitere Löcher in ihren Bilanzen erwarten. Die Finanzkrise trieb ihrem ersten Höhepunkt zu.

* Lucas Zeise ist Autor einer wöchentlich erscheinenden Kolumne auf der Wirtschaftsseite der jungen Welt

Lucas Zeise: Euroland wird abgebrannt – Profiteure, Opfer, Alternativen, PapyRossa Verlag, Köln 2012, 142 Seiten, 11,90 Euro

* Dieser Beitrag erschien in zwei Teilen in der "jungen Welt" vom 10. und 11. September 2012


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