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Reformbilanz ist ein einziges Desaster

Peter Wahl über das Treffen in Cannes und zivilgesellschaftliche Herausforderungen *


Vor dem Hintergrund der Euro-Krise kommen die Staats- und Regierungschefs der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer (G20) diese Woche im südfranzösischen Cannes zusammen. Neben der Euro-Krise sollen die Reform des internationalen Währungssystems, der Abbau globaler Ungleichgewichte, eine weitere Regulierung der Finanzmärkte und die Begrenzung der Rohstoff- und Nahrungsspekulation weitere Schwerpunktthemen des Treffens bilden. Mit Peter Wahl sprach für das "neue deutschland" (ND) Martin Ling. *


ND: Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy wollte in Cannes im Kern ein neues Währungs- und Finanzsystem anpeilen. Jetzt wird das Treffen durch die Ankündigung von Griechenlands Ministerpräsident Giorgos Papandreou überlagert, ein Referendum über den Sparkurs dort einzuberufen. Droht die Eurokrise alle anderen Themen in den Hintergrund zu schieben?

Wahl: Zu einem gewissen Teil sicherlich. Andererseits sind die anderen Themen so drängend und bedeutend, dass sie nicht einfach zu ignorieren sind: Zum Beispiel das erwähnte Thema der Währungsproblematik, das der brasilianische Finanzminister Guido Mantega vor Jahresfrist sogar als »Währungskrieg« eingestuft hat, sowie die extremen globalen Handelsungleichgewichte zwischen Export- und Importländern.

In Sachen Staatsverschuldung wurde bereits beim G20-Gipfel in Toronto im Juni 2010 von den Staaten die Selbstverpflichtung abgegeben, die Haushaltsdefizite bis 2013 zu halbieren und die Staatsschuld bis 2016. Das klingt mehr denn je illusorisch, oder?

Ja, das ist eine große Illusion. Die Krise ist seit ihrem Beginn 2007 in den USA immer wieder unterschätzt worden. Hinzu kommt, dass die Art und Weise des Krisenmanagements die Krise noch verschärfte. Das beste Beispiel ist Griechenland. Die Austeritätsprogramme, die wir schon vor einem Jahr kritisierten, haben die Wirtschaft des Landes in den Ruin getrieben. Die Konjunktur und mit ihr die Steuereinnahmen sind massiv eingebrochen, Griechenland ist in einer tiefen Rezension. So lässt sich keine Schuldenkrise lösen. In Griechenland wird Öl ins Feuer gegossen.

Neben dem Problem ausufernder Staatsschulden wollten die G20 seit ihrem ersten offiziellen Treffen im November 2008 vor allem die Ungleichgewichte auf Handels- und Devisenmärkten begrenzen sowie die Großbanken auf ein verträgliches Maß zurechtstutzen, damit sie nicht mehr bei einem Konkurs das ganze System gefährden. Es sollte das Prinzip gelten »Kein Markt, kein Produkt, kein Akteur ohne Aufsicht«. Was ist daraus drei Jahre später geworden?

Außer großen Absichtserklärungen ist nicht viel gewesen. In den USA gibt es zwar ein sehr großes Reformpaket, in dem einige durchaus richtige Schritte enthalten sind. Das wird aber durch die Republikaner mit ihrer Mehrheit im Repräsentantenhaus blockiert. In der EU sind zwar auch die einen oder anderen Direktiven entweder in der Pipeline oder sogar verabschiedet, wie eine neue Aufsichtsstruktur über das Finanzwesen. Aber wir erleben es im Moment: Bevor die Änderungen überhaupt implementiert sind, ist schon die nächste da. Insgesamt ist alles zu wenig, zu langsam und kommt zu spät - die Bilanz ist ein einziges Desaster. Wenn bei diesem Gipfel nichts ernsthaft gegen die Macht der Märkte unternommen wird, werden noch einige Krisen ins Land gehen.

Der bekannte Soziologe Ulrich Beck hat gerade in einem Essay in der »taz« die Hoffnung geäußert, dass die Krise einen machtpolitischen Raum öffnet, der einem Bündnis zwischen globalen Protestbewegungen und nationalstaatlicher Politik ermöglichen könnte, das Primat der Politik über die Ökonomie wieder durchzusetzen. Eine Option in Cannes?

Eine vage. Die Krise hat dazu geführt, dass die Funktionseliten in der ganzen Welt gespalten sind. Es gibt einige, die durchaus in Teilbereichen reformoffen sind. So gibt es einige Regierungen, die die Finanztransaktionssteuer einführen wollen und die tatsächlich eine stärkere Regulierung der Märkte und ihrer Akteure befürworten. Es gibt aber auch andere, die versuchen, das zu blockieren. Bestes Beispiel ist die Finanztransaktionssteuer. Viele EU-Staaten und die EU-Kommission sind im Prinzip inzwischen dafür. Großbritannien stemmt sich aber mit aller Macht dagegen. Dahinter stecken massive ökonomische Interessen. Das britische Sozialprodukt ist zu zehn Prozent direkt vom Finanzmarktdistrikt in der Londoner City abhängig und weitere zehn Prozent hängen indirekt dran. Das heißt, substanzielle Reformen setzen Strukturanpassungen in den entsprechenden Volkswirtschaften voraus. Dagegen gibt es großen Widerstand. Noch dramatischer ist das in den USA, wo die Wall Street immensen Einfluss auf die Politik nimmt.

Unter anderem die globale »Occupy-Wall-Street-Bewegung« begehrt dagegen auf. Hat dieser Protest eine neue Qualität?

Es ist sehr gut, dass diese Bewegungen entstehen. Wir versuchen auch in Cannes, von Seiten der Zivilgesellschaft Druck zu entfalten. Dienstag hat es eine Demonstration mit über 10 000 Teilnehmern gegeben. Insgesamt brauchen wir jedoch noch viel mehr Druck von unten und eine größere Mobilisierung, um das Primat der Politik zurückzugewinnen.

* PETER WAHL ist Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation WEED (Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung) und Spezialist für die Regulierung des internationalen Finanzsystems sowie Mitbegründer des globalisierungskritischen Netzwerks Attac Deutschland. Er weilt während des G20-Gipfels in Cannes.

* Aus: neues deutschland, 3. November 2011


Zahlen & Fakten - Exklusive Clubs

Seit Mitte der siebziger Jahre trafen sich bei den jährlichen G7-Gipfeln die größten Industriestaaten. Neben den G4 (Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien) waren das die USA, Kanada, und Japan. 1998 wurde die G7 um Russland zur G8 erweitert. Von der reinen Wirtschaftsleistung her müsste längst auch China zu dieser Gruppe gehören.

China gehört zur G20. Dazu kommen die EU und 18 Staaten: Argentinien, Australien, Brasilien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei und die USA. Die G20 wurde 1999 als Reaktion auf die Finanzkrise in Brasilien, Russland und schließlich Asien zunächst auf Finanzministerebene eingerichtet. Infolge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise kamen 2008 erstmals die Staats- und Regierungschefs der Gruppe zusammen. 2009 wurde die Runde der G20 zum »obersten Forum für unsere internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit« aufgewertet.

Die G20 repräsentieren zwei Drittel der Weltbevölkerung und rund 85 Prozent der weltweiten Wirtschaftskraft, aber nur einen Bruchteil der über 190 Staaten auf dem Globus.

Der französische Badeort Cannes wird während des G20-Gipfels für Kosten von schätzungsweise 20 Millionen Euro in ein streng abgeschottetes Sperrgebiet verwandelt. Dafür werden rund 12 000 Sicherheitskräfte eingesetzt. Bereits seit Ende Oktober gibt es an der nahe gelegenen französisch-italienischen Grenze scharfe Kontrollen, um die Einreise von polizeibekannten ausländischen Randalierern und Gipfel-Gegnern zu verhindern. Seit diesem Dienstag dürfen Besucher den Bereich um die Flaniermeile Boulevard de la Croisette nicht mehr betreten. Dort liegen der Tagungsort und zahlreiche Hotels für die Gipfelteilnehmer. Urlauber und Einwohner müssen sogar im Hinterland und am Wasser mit erheblichen Einschränkungen rechnen. ND




Hunger im Schatten der Krise

Große Preisschwankungen bei Nahrungsmitteln stehen in Cannes nicht mehr im Fokus

Von Haidy Damm **


Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy wollte das Thema prominent auf der Tagesordnung stehen haben: Der Aktionsplan gegen die exzessiven Preisschwankungen bei Nahrungsmitteln. Nun droht das Problem Hunger in der Euro-Krise unterzugehen.

»Die Nahrungsmittelkrise ist bei weitem noch nicht vorbei«, warnte Weltbank-Präsident Robert Zoellick am Dienstag in Washington in Richtung G20. Die Staaten dürften über den aktuellen Finanzturbulenzen die nach wie vor hohen Nahrungsmittelpreise nicht vergessen.

Nach Angaben der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) stiegen die Nahrungsmittelpreise zwischen 2005 bis 2008 auf das höchste Niveau der vergangenen 30 Jahre. Und sie steigen weiter: Die Weltbank stellt in ihrem jüngsten Bericht fest, dass die Preise für Getreide im vergangenen Jahr um 30 Prozent, für Mais sogar um 43 Prozent gestiegen sind. Bei Reis und Weizen stiegen die Preise immerhin noch um 26 bzw. 16 Prozent. Betroffen sind davon in erster Linie Menschen in Entwicklungsländern, die teilweise bis zu 80 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben müssen. Fast 70 Millionen Menschen rutschten zwischen 2010 und 2011 allein durch steigende Lebensmittelpreise in ex-treme Armut ab, berichtet die Weltbank. »Der Kampf gegen die Krise betrifft nicht nur Banken und Schulden«, mahnte Zoellick. »Rund um den Globus müssen Millionen von Menschen täglich mit der Krise durch Hunger und Unterernährung fertig werden.« Er forderte: »In Cannes können und sollten die G20 Maßnahmen beschließen, die sich der Probleme annehmen.«

Auf dem Gegengipfel in Nizza forderten Nichtregierungsorganisationen die G20 auf, bei der Regulierung der Finanzmärkte sowie beim Kampf gegen Hunger und Armut »den Worten endlich Taten folgen« zu lassen.

Im Juni hatten sich die G20-Agrarminister in einem Aktionsplan auf mehr Transparenz verständigt. Demnach soll unter dem Dach der FAO ein Agrar-Markt-Informations-System (AMIS) die Datenlage über die Entwicklung der Produktion, des Verbrauchs und der Lagerbestände verbessern. In der Kritik sind in erster Linie Investmentsfonds, die seit etwa zehn Jahren vermehrt auf Agrarrohstoffe spekulieren.

Zusätzlich soll mit dem Aufbau eines reaktionsschnellen Krisenforums (»Rapid Response Forum«) schnell auf instabile Märkte und extreme Preisschwankungen reagiert werden. Das Forum soll den Handel vorübergehend aussetzen können. Als Regulierungsinstrument könnten sowohl Obergrenzen auf Preise als auch auf Positionen installiert werden. Für das katholische Hilfswerk Misereor ist das eine Minimalforderung: »Zumindest muss es Grenzen geben für die Anzahl von Kontrakten, über die ein Händler oder eine Händlerklasse verfügen darf«, sagte Bernd Bornhorst, Leiter der Abteilung Entwicklungspolitik.

Darüber hinaus forderte Bornhorst ein klares Bekenntnis der G20 zur Regulierung von Warentermingeschäften. »Solche Geschäfte sollten nicht länger auf völlig intransparenten Handelsplattformen stattfinden, sondern an öffentlich kontrollierten Börsen. Finanzspekulanten, welche am physischen Handel kein Interesse haben, sollten von Termingeschäften mit Grundnahrungsmitteln wie Mais und Weizen möglichst ausgeschlossen werden.« Verhandelt werden sollen auch regelmäßige Berichtspflichten, die beispielsweise in den USA üblich sind. Allerdings hatten die G20-Finanzminister im Oktober bereits klar gemacht, für ein nachhaltiges Wachstum der Weltwirtschaft sei zentral, dass »die Rohstoffmärkte reibungslos funktionieren«.

Pedro Morazán, Mitarbeiter der Organisation Südwind kritisierte die bisherigen Pläne: »Anstatt die Kernursachen von starken Preisschwankungen zu bekämpfen, sind nur halbherzige Maßnahmen vorgesehen, die auf Symptome gerichtet sind«. Die Scheu der G20, durch verstärkte Regulierung dem Handel mit Nahrungsmitteln endgültig einen Riegel vorzuschieben, sei schockierend.

»Die G20 müssen nun unter Beweis stellen, wie ernst es ihnen damit ist, das maßlose Zocken der Spekulanten einzudämmen«, fordert Jörn Kalinski von Oxfam. Am Freitag Vormittag steht die Landwirtschaft in der Tagesordnung. Neben dem Klima, ein weiteres Thema, das unterzugehen droht.

** Aus: neues deutschland, 3. November 2011


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