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"Die Demokratie gegen die Gier der Märkte verteidigen"

Sympathie, Ermahnungen und Unverständnis - Die Bankenproteste im Spiegel der internationalen Medien


Im Folgenden dokumentieren wir eine Auswahl von Kommentaren aus zahlreichen Zeitungen. Berichte über die weltweiten Aktionen vom 15. Oktober können Sie hier lesen: Gegen die Macht der Banken gehen weltweit Hunderttausende auf die Straße

PRESSESTIMMEN

Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG überlegt, ob die Banken-Proteste einem bestimmten politischen Lager zugerechnet werden können:

"Die Globalisierung weckt ihre Kinder. Deren Protest ist nicht rechts und er ist nicht links. Er lässt sich nicht fangen mit den alten Lassos. Sicher: Der Protest ist Ausdruck der Empörung über soziale Ungerechtigkeit, das ist ein altes linkes Thema. Aber der Protest steht auch für das fatale Gefühl, dass die Staaten zu schwach sind und von den Finanzmärkten gewürgt und enteignet werden. Die Sehnsucht nach einem starken Souverän aber ist ebenso ein konservatives, rechtes Thema: Die Marodeure der internationalen Finanzwirtschaft sollen gebändigt werden."
Und:
"Der internationale Protest fordert eine internationale Politik. Die Davids der Welt wollen nicht mehr dabei zusehen, wie mit den Millionen und Milliarden der Steuerzahler die Banken saniert und die Löcher in den Autobahnen des Finanzkapitalismus nur zur weiteren Raserei geflickt werden: Die Davids rufen daher nach neuen Verkehrsregeln, nach Geschwindigkeitsbeschränkungen, nach Zulassungsvoraussetzungen und nach einem TÜV für die Vehikel, die auf diesen internationalen Autobahnen verkehren. In den vergangenen zehn Jahren wurde Deutschland angeblich am Hindukusch verteidigt. Jetzt gilt es, die Demokratie gegen die Gier der Märkte zu verteidigen. Eine Welt, die die Taliban bekämpfen kann, muss sich vor den Brokern nicht fürchten."

Die NORDWEST-ZEITUNG aus Oldenburg findet:

"Nein, dies ist keine Revolution. Aber ein massiver Aufschrei, der nicht länger zu überhören ist. Nicht mehr nur Randgruppen der Gesellschaft beteiligen sich, sondern immer mehr Teilnehmer verkörpern den klassischen Mittelstand."

Die Bewertung der Proteste durch die FRANKFURTER RUNDSCHAU fällt folgendermaßen aus:

"Zigtausende demonstrierten an diesem Wochenende in Deutschland, vor dem Reichstag in Berlin, vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt und an vielen Orten sonst. Es waren mehr, als die nur lose organisierten Veranstalter zu hoffen gewagt hatten. Und sie waren in ihrer großen Mehrheit friedlich, auch wenn es in Rom einer kleinen Minderheit gelang, den Erfolg der größten Demonstration zu sabotieren. Aus diesem Wochenende darf geschlossen werden: Den Schaden, den der Finanzkapitalismus in den von ihm dominierten Gesellschaften anrichtet und noch anzurichten droht, werden viele Bürgerinnen und Bürger nicht einfach hinnehmen - weltweit. Dass das noch nicht mehr war als ein Anfang, ist klar. Kein schlechter allerdings."
Und:
"Es gibt Vergleiche mit der ebenso internationalen Bewegung des Jahres 1968, aber die hinken schwer. Die 2011er wollen 'das System' nicht stürzen. Sie trauen den westlichen Demokratien, in denen sie groß wurden, offensichtlich noch zu, die Übermacht des Kapitals zu beenden und das Gemeinwohl-Versprechen einzulösen. Sie verlangen Reichen- und Transaktionssteuern und Regeln, die den Wildwuchs der Spekulation begrenzen - nun wirklich keine Revolution. Es fragt sich allerdings, wie lange noch. Die Politik hat nicht mehr viel Zeit, den verbliebenen Vertrauensvorschuss zu rechtfertigen. Wir sollten den Demonstranten vom Wochenende dankbar sein, wenn sie - und möglichst viele andere - dafür sorgen, dass unsere Regierungen das nicht vergessen".

"Erleben wir gerade die Globalisierung des Wutbürgers?", fragt die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG.

"Genaueres Hinsehen zeigt natürlich ein vielfarbiges Bild. So riesig, wie es die über die Welt hochgerechneten Zahlen vorspiegeln, waren die Massen der Protestierenden, auf einzelne Länder verteilt, auch wieder nicht. Die Politiker, die sich im Endspurt zu dem G-20-Gipfel in Cannes befinden, werden die weltumfassenden Proteste dennoch nicht unbeeindruckt lassen. Sie machen zusätzlichen Druck in Richtung auf eine weitergehende Bankenregulierung und die Disziplinierung der Finanzmärkte. Doch so wenig sich die Banken über ihre Unpopularität Illusionen machen sollten, so sehr ist zu hoffen, dass die Politik ihren eigenen Anteil an der Krise nicht unterschlägt: Zu der Schuldenexplosion ist es gekommen, weil den Wählern Versprechungen gemacht wurden, die nicht finanzierbar sind. Vielleicht weiß das, tief im Innersten, auch ein Teil der Wutbürger".

Die LEIPZIGER VOLKSZEITUNG merkt jedoch an:

"Die Wurzel des Übels ist weder das viel gescholtene Bankenwesen noch der Finanzmarkt und schon gar nicht der Kapitalismus. Ursache der Krise sind die Schulden, mit denen ein Teil unseres Wohlstands schon über Jahrzehnte finanziert wird und die zu einer immer gefährlicher werdenden Abhängigkeit der Staaten von ihren Gläubigern führen. Noch mehr geborgtes Geld wird die Lage langfristig verschlimmern. Bessern könnte sie sich, wenn die westlichen Regierungen die Neuverschuldung auf Null senken und die finanziellen Altlasten in Zeiten der Hochkonjunktur entschlossen abtragen. Doch ein drastischer Sparkurs würde weniger Wohlstand bedeuten, den Zorn des Bürgers weiter anstacheln und zu noch mehr Protest führen. Protest, der das Problem nicht löst, sondern verhindert, dass Regierungen das Notwendige tun".

Die STUTTGARTER NACHRICHTEN sind der Ansicht, dass die Politiker sich hüten sollten, auf dem Occupy-Trittbrett mitfahren zu wollen:

"Anders als 2008, als Pleite-Banken viele Staaten in Schwierigkeiten brachten, bringen heute aussichtslos überschuldete Staatsetats die Kreditwirtschaft in Nöte. In vielen Ländern hat die Politik versagt - und versucht nun, die Bürger für ihre verantwortungslose Hilflosigkeit zur Kasse zu rufen".

"Stuttgarter Zeitung":

"Noch ist die Gruppe, die sich in Deutschland an den Protesten gegen die Macht der Finanzmärkte beteiligt, relativ klein. Doch dabei wird es nicht bleiben. Weltweit ist etwas in Bewegung geraten, was hierzulande immer mehr Menschen animieren dürfte mitzumachen. So vielfältig und diffus die jeweiligen Ziele der Demonstranten rund um den Globus auch sein mögen, so deutlich ist überall die Botschaft: Es kann nicht weitergehen wie bisher. Die Märkte dürfen nicht mehr die Gesellschaften beherrschen, sondern die Gesellschaften müssen wieder die Finanzsysteme zum eigenen Wohl nutzen können."

Die SCHWERINER VOLKSZEITUNG hält die Schulddebatte für ein, so Zitat - "unerträgliches Schwarzer-Peter-Spiel":

"Gegenseitig wirft man sich vor, jeweils die alleinige Schuld an der Krise zu haben. Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte: Sowohl die Staaten als auch die Bankenwelt haben mit Fehlern und Versäumnissen zu dieser Krise beigetragen."

Die RHEINISCHE POST aus Düsseldorf kommt zu diesem Fazit:

"Die Bürger wollen genauer verstehen, welche Bank warum zu welchem Preis gerettet wird. Sie wollen mitreden. Und mitentscheiden. Da liegt das Problem: In der rasenden Globalisierung wurde das Banken-Geschäft so kompliziert, dass sogar manche Bank den Überblick verloren hat. Insofern spiegeln die Bankenproteste ein Kernproblem moderner Demokratien: In einer immer komplizierteren Welt muss die Politik immer öfter kaum kalkulierbare und erst recht kaum kommunizierbare Entscheidungen treffen".

Grundsätzlicher bringt es der Kommentar von Jürgen Reents im "neuen deutschland" auf den Punkt ("Schildknappe der Banken"), indem er zugleich das Herumgeeiere der SPD resp. ihres Vorsitzenden kritisiert:

Die Verleumdung, dieses freche Gespenst, setzt sich auf die edelsten Gräber, meinte einst Heinrich Heine. Nicht selten erwischt sie bereits Lebende. Bundesweit plappern Medien derzeit eine Meldung von »spiegel-online« nach: »SPD-Chef Gabriel will Banken zerschlagen«. Zugrunde liegt ein Interview des Nachrichtenmagazins in seiner aktuellen Druckausgabe. Darin spricht Gabriel sich für eine »Trennung von Investmentbanking und Geschäftsbanken« aus. Auf die Nachfrage des »Spiegel«, ob er »also die Deutsche Bank zerschlagen« wolle, sagte der SPD-Chef: »Ich möchte, dass beim Geschäftsfeld des Investmentbankings ein ganz großes Schild an der Tür steht mit der Aufschrift: "Hier endet die Staatshaftung?.«

Er hat die Frage damit alles andere als bejaht und es lässt sich aus seiner verschwiemelten Antwort auch nicht dieser Schluss ziehen. Gabriel will ein Schild aufstellen, das ist alles. Zu mehr hat es in der Politik der SPD auch selten gereicht. Die Frage bleibt nur, warum sie die seit dem Wochenende kursierende »Überinterpretation« der Äußerung ihres Vorsitzenden nicht umgehend dementieren ließ. Nun, weil der SPD nichts lieber ist, als dass die einen dies und die anderen jenes über ihre Absichten denken. Zag- und Vagheiten sind das politische Profil der modernen SPD. Nehmen Sie das alles bitte nicht so ernst, wird Gabriel bei seinem nächsten Treffen mit Banken-Chefs sagen, wie anders soll ich den Protest gegen das Finanzsystem denn einfangen? Gut so, Schildknappe, werden die Banker sagen.

"Aftenposten" (Oslo):

"Die Demonstrationen in Großstädten auf der ganzen Welt zeigen, welchen politischen und sozialen Sprengstoff anhaltende Perioden des Niedergangs bergen. Die Verzweiflung junger Menschen darüber, dass sie einfach nicht vorankommen, ist leicht zu begreifen. (...) Die Protestbewegung dagegen, die sich am Wochenende präsentiert hat, ist lose zusammengeführt. Es fehlt ihr an Führung, und sie hat wenige Vorschläge zur Lösung bis auf die Einführung einer Steuer auf Finanztransaktionen. Die Stärke der Bewegung liegt darin, dass sie alle einbezieht. (...) Noch kann nicht gesagt werden, wohin das führt. Aber man muss zuhören. Die Proteste werden nicht von selbst verschwinden. Sie sind ein Zeichen dafür, dass etwas falsch läuft."

"de Volkskrant" (Amsterdam):

"Es ist leicht, sich lustig zu machen über die Occupy-Bewegung, die heterogen ist und einer klaren einheitlichen Botschaft entbehrt. Da klingen auch falsche Töne an und es werden Steckenpferdchen geritten. In Australien geriet die Demonstration zum Teil zu einem Anti-Israel-Protest, anderswo ging es gegen Kernenergie und Privatisierungen. (...) Aber es ist ein gemeinsamer Nenner in den Protesten zu erkennen, der es verdient, ernstgenommen zu werden. Es herrscht große Verbitterung über die anhaltende Finanzkrise, und vor allem über den bestürzenden Mangel an Verantwortungsbewusstsein im Bankenwesen, das mit Milliarden über Wasser gehalten wurde, wo jedoch die Spitze mit Bonuszahlungen um sich wirft, als wäre nichts gewesen."

"taz - die tageszeitung" (Berlin):

"Was für ein 15. Oktober. Noch nie hat es zum selben Anlass in so vielen Städten so viele Proteste gegeben. Nicht einmal bei den Großdemonstrationen 2003 gegen den Irakkrieg gingen so viele Menschen zeitgleich auf die Straße. Ob in Hongkong, Lübeck oder Denver - in mehr als 80 Ländern fanden Proteste gegen das Gebaren der Banker statt und gegen PolitikerInnen, denen es am Willen fehlt, diese inzwischen nicht mehr nur geldgierige, sondern kapitalvernichtende Branche zu bändigen. (...) Vieles hängt jetzt davon ab, dass die Proteste vom Samstag kanalisiert und dass auf die Fragen auch Antworten gefunden werden - auch von Außerparlamentariern."

"Kölner Stadt-Anzeiger":

"Der Protest hat beste Chancen, zu einer kraftvollen Bewegung zu werden. Denn anders als bei Attac, dem Zusammenschluss der Globalisierungsgegner, ist das Thema konkret, fassbar und seine Folgen sind jeden Tag zu erleben. Ein Gemisch aus Tatsachen und Vermutungen treibt eine bunte Schar von Demonstranten auf die Straße, Schüler, Studenten, Arbeiter, Rentner, Gewohnheitsprotestler. Sie mögen nicht die gleichen Ziele haben, aber sie haben das selbe Gefühl von Unbehagen und Machtlosigkeit. In der Occupy-Bewegung verbindet sich Ekel vor vermeintlich unbelehrbaren Bankmanagern mit sozialem Protest und der Angst vor dem Absturz - gewichtigen Motiven also."

"Junge Welt" (Berlin):

"Der Aufruhr der arabischen Straße, der Widerstand der griechischen Bevölkerung gegen die neoliberalen Zumutungen Brüssels und der eigenen Regierung, die Bewegung der Empörten in Spanien, massive Sozialproteste in Israel und schließlich die 'Occupy Wallstreet'-Bewegung in den USA. Das ist noch keine Weltrevolution, aber doch ein Zeichen wachsender Bereitschaft, die Kapitalherrschaft - zumindest in ihrer neoliberalen Variante - zu hinterfragen. Der weltweite Protesttag gegen die Auswirkungen der kapitalistischen Krise sollte dem Ausdruck verleihen."

Quelle: www.dradio.de/presseschau/; www.nd-online.de; www.derstandard.at


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