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Gegen die Macht der Banken gehen weltweit Hunderttausende auf die Straße

Berichte aus New York, Frankfurt, Rom, London, Berlin, Madrid und Brüssel


Im Folgenden dokumentieren wir eine Auswahl von Artikeln, die sich mit dem weltweiten Protesttag gegen die Banken am 15. Oktober 2011 befassen. Eine Anzahl von Pressestimmen und Kommentaren haben wir hier zusammen getragen: "Die Demokratie gegen die Gier der Märkte verteidigen"


Weltweiter Protest

"Occupy Wallstreet"-Bewegung inspiriert Hunderttausende. Zeltlager vor Europäischer Zentralbank in Frankfurt/Main. Berliner Polizei räumt Wiese vor Bundestag

Von Claudia Wangerin *


Hunderttausende Menschen haben am Samstag (15. Okt.) weltweit gegen die ausufernde Macht der Großbanken und Konzerne sowie gegen staatliche Sparmaßnahmen demonstriert. Hunderte Aktivisten schlugen vor dem Sitz der Europäischen Zentralbank in Frankfurt/Main sowie nahe der Londoner Börse und auf dem Züricher Paradeplatz ihre Zelte auf, nach dem Vorbild der »Occupy Wallstreet«-Bewegung in New York. Von ihr hatten sich Menschen in 80 Ländern und rund 200 Städten– darunter Berlin, Frankfurt, Stuttgart, Brüssel, Athen, Stockholm, London, Madrid, Rom, Tokio, Sydney und Manila – zu einem Aktionstag inspirieren lassen.

In Berlin verhinderte die Polizei ein Protestcamp vor dem Bundestag, nachdem bis zu 10000 Menschen an der Demonstration in der Hauptstadt teilgenommen hatten. Ab 13 Uhr versammelten sie sich am Neptunbrunnen auf dem Alexanderplatz und zogen anschließend Richtung Brandenburger Tor. Die Polizei sprach von 5000 Teilnehmern, das globalisierungskritische Netzwerk ATTAC zählte 8000 bis 10000. Etliche hatten sich der Demonstration erst in deren Verlauf angeschlossen. Auf Schildern und Transparenten standen Parolen wie »Geld stinkt doch«, »Für die soziale Revolution weltweit« und »Rettet die Menschen, nicht die Banken«. Einige Aktivisten strömten im Anschluß auf die Wiese vor dem Bundestag und begannen, dort Zelte aufzubauen, als die Polizei eingriff. Zwei Hundertschaften trugen Demonstranten vom Platz, die spontan Sitzblockaden gebildet hatten, nahmen deren Personalien auf und mindestens zwölf Personen fest. Ein Polizeisprecher sagte, die Räumung sei »mehr oder minder milde« verlaufen. Augenzeugen sprachen dagegen von Schlägen und dem Einsatz von Pfefferspray. Etwa 200 Demonstranten harrten dennoch bis in die späten Abendstunden vor dem Bundestag aus und wollten am Sonntag erneut demonstrieren.

Auch in anderen Städten Europas kam es während der Proteste zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Am Rande der mit bis zu 200000 Teilnehmern größten Demonstration in Rom waren nach Polizeiangaben Steine und Flaschen geworfen worden. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer ein und nahm nach eigenen Angaben zwölf Menschen fest. Mindestens 70 wurden verletzt.

In New York ging die Polizei mit einer Reiterstaffel gegen eine Blockade am Times Square vor und nahm 70 Demonstranten fest. In der US-Finanzmetropole hatten am Samstag insgesamt rund 50000 Menschen protestiert.

Unterdessen soll in Frankfurt am Main das ursprünglich bis Mittwoch befristete Protestcamp mit rund 30 Zelten »auf unbestimmte Zeit« verlängert werden, wie der Sprecher der »Occupy Frankfurt«-Bewegung, Colin Below, am Sonntag ankündigte. Insgesamt hatten in Deutschland nach Angaben der Organisatoren rund 40000 Menschen an dem globalen Aktionstag teilgenommen.

* Aus: junge Welt, 17. Oktober 2011


Heißer Wunsch nach einem Protestcamp

Attac und neu gegründete Facebookgruppen der Occupy-Bewegung riefen in Deutschland zum weltweiten Aktionstag gegen Banken

Von Ines Wallrodt und Hans-Gerd Öfinger **


Zehntausende Menschen haben auch hierzulande gegen die Macht der Banken, fehlende Demokratie und Sozialabbau protestiert. Das waren deutlich mehr, als von den Veranstaltern erwartet. Ob das wirklich der Funke war, der eine neue Protestbewegung entfacht, darüber sind die Ansichten trotzdem geteilt.

Es ist ja nichts ungewöhnliches, dass auf Demonstrationen etwas verteidigt wird. Oft geht es dabei um soziale Rechte oder eine Kreuzung, die man besetzt hat oder auch mal um einen Lautsprecherwagen, der vor dem Zugriff der Staatsmacht geschützt werden soll.

In Berlin werden am Sonnabend zwei Strandmuscheln verteidigt. Denn sie sind wertvoll. Sie sind das Symbol für die Zeltstadt, die auf dem Platz vor dem Bundestag entstehen soll. »Wenn wir noch nicht einmal die beiden Strandmuscheln verteidigen können, hätten wir heute morgen gar nicht erst aufstehen müssen«, überzeugt ein Mann die umsitzenden Demonstranten, die Herausgabe an die Polizei zu verweigern.

Auch in deutschen Städten ging es am Wochenende darum, symbolträchtige Plätze dauerhaft zu besetzen oder wenigstens lautstark einzufordern, die Finanzmärkte zu bändigen. Die größten Demonstrationen fanden in Berlin und Frankfurt am Main statt, aber auch in vielen anderen Städten zeigte sich der Unmut auf der Straße. Selbst dort, wo der Protest wie in Leipzig deutlich kleiner war, kommen Hunderte zusammen. Das war vor zwei Wochen noch nicht zu erahnen. Aber die tagelange Belagerung der Wall Street strahlt zurück über den Atlantik und stachelt die Proteste auf dem alten Kontinent an, von wo sie im Frühjahr ausgegangen waren.

Die Demonstranten folgten den Aufrufen von »alten« Bewegungsgrößen wie Attac und von neu gegründeten Facebookgruppen der Occupy-Bewegung wie auch der spanischen Demokratie-jetzt-Bewegung. »Ich war schon auf vielen Anti-Atom-Demos, aber dies ist meine erste antikapitalistische Demonstration«, sagt eine Frau in Frankfurt.

Von Organisationen vorgefertigte Transparente gibt es kaum, selbst gebastelte Schilder prägen das Bild. »Keine öffentlichen Gelder für private Verluste«, ist da etwa zu lesen oder »Demokratie statt Lobbykratie« oder »Genug ausgelöffelt. Jetzt kochen wir«. Auch die Parole der Protestbewegung in New York wird weitergetragen: »Wir sind 99 Prozent«. Immer wieder ist zu hören, dass man sich nicht gegeneinander ausspielen lassen will. Deutsche Politiker versuchten die Krise den Griechen in die Schuhe zu schieben, um Solidarität zu verhindern. Die Antwort der Teilnehmer am Sonnabend lautet: United we stand - Gemeinsam sind wir stark.

Über das offene Mikrofon, wo wie bei den Massenveranstaltungen der spanischen Empörten jeder Teilnehmer seine Meinung sagen kann, meldete sich in Frankfurt auch der Spanier Miguel Sánchez zu Wort. Sein Schicksal ist typisch für das vieler »Empörten«. Der Lehrer für Latein und Altgriechisch und Aktivist der »Vereinigten Linken« (IU) sieht in seinem Land keine berufliche Zukunft. Derzeit hält er sich in Hessen mit Minijobs über Wasser. Vor der EZB hat er andere in der Bundesrepublik lebende Spanier kennengelernt und mit ihnen E-Mail-Adressen ausgetauscht. Ob alle Protestformen von Spanien 1:1 auf Frankfurt übertragbar sind, weiß er nicht. Schließlich hätten die Zeltlager mitten in Madrid vor allem auch die Empörung über die von den Banken veranlasste Zwangsräumung von Wohnungen und die dadurch verursachte Obdachlosigkeit ausgedrückt.

Dass einige der Protestierenden die Fahnen der Partei DIE LINKE nicht sehen mögen, kommt Sánchez bekannt vor. Auch in Spanien haben Teile der »Indignados« die Präsenz von Parteipolitikern schlicht abgelehnt. Die IU habe darauf »mit Fingerspitzengefühl« reagiert und klargemacht, dass sie die Bewegung »nicht hegemonisieren« wolle. Da aber viele Forderungen der Indignados und der IU übereinstimmten, sei ein gemeinsamer Kampf angebracht, findet Sánchez, für den auch die Gewerkschaften eine wichtige Rolle im antikapitalistischen Kampf zu spielen hätten.

Geburtsstunde einer neuen Bewegung?

Einheitliche Positionen zur Lösung der Krise gibt es unter den Demonstranten nicht. Es sind Einzelpositionen, die aber doch einen gemeinsamen Nenner zeigen: Viele haben einfach das Gefühl, dass irgendetwas schief läuft und wollten das zeigen. Die Finanztransaktionssteuer wird breit geteilt. Un den Satz eines 50-jährigen Berliners könnten wohl alle unterschreiben: Mich kotzen die Banken an, sagte der.

In der Hauptstadt macht Attac mit einer Anhörung von Betroffenen und Experten auch noch ein Angebot für jene, die die Krise bis in ihre letzte abenteuerliche Wendung hinein genau verstehen wollen und die an ausgefeilten Alternativkonzepten interessiert sind. Das Grips-Theater ist schon morgens um 10 Uhr gut gefüllt. Rund 300 Menschen hören aufmerksam zu, was die Referenten aus Spanien, Island und Griechenland erzählen, darüber, wie sich die Lösungsprogramme der Politik auf ihr Leben auswirken. Und zwar verheerend, wie die Griechin Katerina Kitidi beschreibt. Viele Stunden sei die Stromversorgung abgeschaltet, die Arbeitslosigkeit steige, die Notrufe bei der Telefonseelsorge hätten sich verdoppelt. Die Menschen könnten sich nicht einmal genug zu essen leisten, Kitidi erzählt von einem Kind, das sich vom Weihnachtsmann ein Glas Milch gewünscht habe. »Es fließt mehr Geld in Zinszahlungen als in Sozialleistungen«, sagt sie.

Wichtige Reformen im Bankensektor seien nach 2008 ausgeblieben, da sind sich alle Redner einig. »Gerettet werden nicht die Länder, sondern deren private Kreditgeber und Aktionäre«, kritisiert der Journalist Harald Schumann. Mit der Folge, dass diejenigen, die gerade mit Staatsgeldern gerettet wurden, nun auf die Staatspleite wetteten. »Sozialismus für die Reichen« ist das in den Worten von Kitidi.

Auf großes Interesses stößt ein Konzept, das sich Schuldenaudit nennt. Dabei werden legitime und illegititme Schulden unterschieden. Was durch riskante Finanzaktionen entstanden ist, so die Konsequenz, soll nicht mehr bedient werden. Viele weitere Alternativen werden an diesem Tag diskutiert. Bislang fehlte vor allem der Druck auf die Regierung, sie tatsächlich umzusetzen.

Deshalb wünschen so viele, dass der Sonnabend auch hierzulande eine ähnliche Protestwelle wie in den USA, Italien oder Griechenland auslöst. Eine aus der Pfalz angereiste Demonstrantin sagt in Frankfurt: »Ich bin gekommen, um die Geburtsstunde einer neuen Bewegung mitzuerleben.« Viele Demonstranten hoffen das gleiche und bleiben dennoch skeptisch. »Der Unmut ist groß, aber die meisten fressen ihn in sich hinein«, sagt eine andere Frau in Berlin. Es komme darauf an, dass sich die Proteste verstetigen. In Frankfurt am Main und Berlin geht es am Sonnabend deshalb genau darum: Sich an zwei symbolisch wichtigen Orten der Finanz- und der Regierungsmetropole einzurichten. Für länger.

In Frankfurt hieß es schon im Vorfeld, bringt Schlafsäcke und Zelte mit. Aktivisten bauten hier denn auch am frühen Abend auf dem Rasen vor der EZB ihre Zelte auf und verbrachten dort die Nacht. Auch ein Dixi-Klo steht inzwischen da. Es wurde gespendet. Berlin ist chaotischer, weil zersplittert. Die Abschlusskundgebung mit offenem Mikro findet am Kanzleramt statt. Manche sind da schon auf dem Weg zum angekündigten Konzert auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg. Doch ein Teil der Demo besetzt spontan den Platz vor dem Bundestag. »Wollen wir heute hier bleiben?« Die vielleicht 500 jungen Leute, die bereits auf dem kalten Boden sitzen, wedeln mit den Händen. Vorbereitet ist dafür keiner. Die Polizei hat jegliches Zelten verboten. Auch die Strandmuscheln, die inmitten der Versammelten stehen, sollen weg.

Da die Lautsprecheranlage zweihundert Meter entfernt beim Kanzleramt steht, muss vor dem Bundestag die eigene Stimme reichen. Die Demonstranten machen das beste daraus und sprechen jeden Satz eines Redners im Chor nach. Das erinnert an gemeinsames Beten, verstärkt aber praktisch die Stimme. Abgeschaut haben sie sich das »Human Mikrophone« von den Wall-Street-Besetzern in den USA. In kurzer Zeit verständigen sich die Menschen auf transparente Verfahren, wie von nun an Entscheidungen getroffen werden. Und sie funktionieren sogar. Die Versorgung wird organisiert. Dringend nötig ist Schutz gegen die Kälte, die schnell in die Beine kriecht: Arbeitsgruppen werden losgeschickt, um Essen, Pappen zum Draufsitzen und Zelte zu besorgen. Die Kundgebung ist ein demokratisches Experiment.

Gabriel will an die Politik ein Signal senden: »Wir wollen anders leben, als ihr wollt, dass wir leben.« Der 20-jährige Student war ohne konkrete Pläne zur Demonstration gekommen. Jetzt überlegt er, die Nacht hier zu verbringen. Auch Moritz, ein Grafikdesigner, ist beeindruckt. »Die gemeinschaftliche Atmosphäre hat mich mitgerissen«, sagt der 27-Jährige. Die beiden haben sich heute kennengelernt. Jetzt teilen sie sich eine orangene Decke.

Liebe Kollegen von der Polizei

Die Proteste in anderen Ländern haben sie genau verfolgt. Aus einer kleinen Gruppe kann eine Bewegung entstehen, hat Gabriel daraus gelernt. Das weiß auch die Polizei. Und die soll in Berlin offenbar mit allen Mitteln verhindern, dass sich der Protest auswächst. Keine Zelte, ist die Order. Die Versammelten diskutieren, wie sie damit umgehen. Ein paar wollen, dass der Polizeieinsatzleiter vor ihnen begründen soll, warum. Verstärkt durch das Menschenmikro. Eine schöne Vorstellung, die Bürger verhandeln öffentlich mit den Staatsorganen. Zu schön, als dass er sich darauf einlässt.

Statt dessen holt die Polizei jedes einzelne Zelt, das aufgebaut wird, vom Platz. Mit Helm und Handschuhen und schmerzhaften Griffen in die Gesichter der eingehakt sitzenden Demonstranten. Die rufen empört »Shame on you«, »Schämt euch«, lassen sich aber nicht provozieren, sondern beschwören auch später lieber die Polizisten: »Liebe Kollegen von der Polizei.« Vergeblich. Der Tag endet mit Pfefferspray und vorübergehenden Festnahmen. Alle Zelte werden geräumt, auch die Strandmuscheln, in der Nacht schließlich die verbliebenen Demonstranten. Ein Zeltdorf vor dem Bundestag schien wohl eine zu große Gefahr.

In Frankfurt dagegen stehen 20 Zelte auf der Wiese vor der EZB. Erstmal bis Mittwoch, hat die Polizei gesagt. Und vielleicht sind es bis dahin so viele geworden, dass sie »too big to clear« sind, zu groß, um sie einfach aus dem Weg zu schaffen. So war es jedenfalls in den USA.




Globalisierung von unten

Von Uwe Kalbe ***

Etwas Neues bahnt sich ameisengleich den Weg. Es ist hochpolitisch und doch trotzt es aller Vereinnahmung durch politische Parteien. Es kommt in chaotischer Formation und ohne einheitliches Kommando. Und es kommt mit dem Zelt. Eine Massentrekkingbewegung scheint da vom Weg abgekommen, der 99 Prozent der Menschen zugedacht ist, für alle Zeit, damit sie dem einen Prozent auf den Mund starren, das über ihre Geschicke entscheidet, über ihre Verwertung ebenso wie über die von Rohstoffen, von Gütern, von Finanzen, von Leben.

Wie aus dem Nichts tauchten die Menschen am Wochenende auf. Die Rede ist von 950 bis 1300 Städten in 80 Ländern weltweit, in denen sie sich versammelten, mit Vorliebe dort, wo sie die Zentralen der Macht identifizierten, der politischen wie der Macht des Geldes. Quasi am Fuße der oberen Zehntausend ließen sie sich nieder. Hunderttausende. Und sie sandten ihre Botschaft hinauf: »Wir sind die 99 Prozent«, eine Selbstvergewisserung, die wie die Adaption einer bekannten Losung vor 20 Jahren klingt. »Wir sind das Volk«.

Nicht überall blieb die Stimmung freundlich, bei Zusammenstößen in Rom, wo über 200 000 Menschen protestierten, wurden 70 Demonstranten verletzt. In Berlin kam es zu Rangeleien, als Demonstranten dem Bundestag zu nahe kamen, um ihre Zelte aufzuschlagen. 40 000 Demonstranten wurden in Deutschland gezählt, vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main bezogen 200 Menschen aufgebaute Zelte. In New York, dort gibt die Bewegung »Occupy Wall Street« seit Wochen den Ton vor, wurden Dutzende Demonstranten festgenommen. In Madrid, wo die Bewegung der »Indignados«, der Entrüsteten, ihren Anfang nahm, liefen die Massen zusammen, wie in Lissabon, Athen, London, Paris, Brüssel, Amsterdam und Den Haag. 6000 Menschen versammelten sich in Brüssel (Foto: AFP), wo in einer Woche die EU-Spitzen auf einem Gipfel ihr Bankenrettungspaket beschließen wollen.

Ein erstaunlicher Zug ist da entstanden. Elektronisch vernetzt, ist das neu entdeckte Gefühl der Gemeinsamkeit zugleich ein uraltes, als Nachrichten übers Meer Wochen brauchten. Der jugendliche Sprecher der Bewegung Occupy-Frankfurt wird mit den Worten zitiert: »So etwas hat es in der Geschichte noch nicht gegeben. Auf der ganzen Welt demonstrieren Menschen gegen dasselbe.« Es ist deshalb ein schwächlicher Einwand: Dieser Zug der Zelter sei nur eine kleine Minderheit, die wirklichen 99 Prozent seien zu Hause geblieben. Er verschließt die Augen vor dem Neuen dieses Wochenendes. Vor der viel beschworenen Macht der Globalisierung. Die nun plötzlich auch eine von unten ist.

*** Aus: neues deutschland, 17. Oktober 2011


Entrüstete aus ganz Europa in Brüssel

Zug zur EU-Zentrale

Von Kay Wagner, Brüssel ****


Friedlich ist am Tag der weltweiten Proteste gegen das Banken- und Finanzsystem der Demonstrationszug in Brüssel verlaufen.

Knapp 7000 Teilnehmer, mehr als doppelt so viel wie erwartet, marschierten am Sonnabend gute vier Stunden durch das Zentrum der belgischen Hauptstadt. Gewaltausschreitungen und Festnahmen vermeldete die Polizei nicht. Lediglich ein paar Scheiben sollen zu Bruch gegangen sein.

»Nationen, erhebt euch!«, »Wacht auf!« oder »Teilen wird die Welt retten« stand auf mitgeführten Plakaten. »Wir sind die 99 Prozent« skandierten die Demonstranten immer wieder in lauten Sprechchören. Damit wollten sie darauf hinweisen, dass die ganz normale Bevölkerung zu 99 Prozent für den Schaden aufkommt, der durch die Finanzkrise entstanden ist. Vor jeder Bank, an dem der Zug vorbeikam, ertönte ein gellendes Pfeifkonzert, Geldautomaten wurden mit Handzetteln und Plakaten verklebt. An der Börse mitten in der Brüsseler Innenstadt warfen Demonstranten Schuhe auf das Gebäude. Der Protest endete vor den Hauptsitzen der EU-Kommission und des EU-Rats. Slogans von politischen Parteien oder Gewerkschaften waren nicht zu hören und zu sehen.

Kurz vor Beginn des Zuges ließ die Stadtverwaltung der Brüsseler Teilgemeinde Koekelberg das Gebäude schließen, in dem rund 600 Mitglieder der »Indignados«, (zu Deutsch: »Entrüsteten«) bereits eine Woche lang gewohnt hatten. Die Entrüsteten waren die Hauptorganisatoren des Brüsseler Protests. Nach Angaben der Behörden sei es zu Verwüstungen in den Räumen gekommen. Außerdem habe sich Abwasser im Keller gesammelt und die Elektroinstallation des Gebäudes bedroht, hieß es. Auch Computer und Campingmaterial der Entrüsteten wurden eingeschlossen. Gut 500 von ihnen verbrachten die Nacht im Brüsseler Jubelpark unweit der EU-Kommission.

Ein gerichtliches Nachspiel hat derweil der Übergriff eines Polizisten gegen eine griechische Aktivistin. Er hatte sie am vergangenen Mittwoch während einer gewaltfreien Protestaktion in der Vorhalle der Dexia Bank in Brüssel ins Gesicht getreten und geschlagen. Die Polizeidirektion lieferte den Beamten am Freitag an die Staatsanwaltschaft aus. Am Sonnabend wurde er laut Zeitungsberichten jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt.

»Solche Übergriffe der belgischen Polizei, sogar noch schlimmere, hat es die ganze Woche gegen unsere Leute gegeben«, sagte das Opfer im belgischen Fernsehen. Sie habe Glück gehabt, dass die Attacke gegen sie gefilmt worden sei. Die Frau hat Klage gegen den Beamten eingereicht.

**** Aus: neues deutschland, 17. Oktober 2011


Spaniens "Virus der Empörung"

Appell aus über 80 Städten: Zeit reif für gewaltfreien globalen Protest

Von Ralf Streck, San Sebastian *****


Die größten Demonstrationen am weltweiten Protestwochenende gab es in Spanien. Weit über eine Million Menschen gingen im Herkunftsland der »Indignados«, wo am 15. Mai erstmals Zehntausende »Empörte« für Schlagzeilen sorgten, auf die Straße.

In über 80 Städten wurde am Sonnabend in Spanien demonstriert. Welche Breite die Protestbewegung erreicht hat, zeigt sich an der asturischen Stadt Mieres: Über ein Drittel der rund 40 000 Einwohner ging dort auf die Straße. Die größten Demonstrationen gab es erneut in Madrid, wo etwa eine halbe Million Menschen protestierten, und in Barcelona, wo die Veranstalter 400 000 Teilnehmer zählten. Madrids zentraler Platz »Puerta del Sol«, den die Bewegung wochenlang wie viele andere im Land besetzt gehalten hatte, war erneut zum Brechen gefüllt.

Zwar blieben die Proteste wie stets friedlich, fast herrschte Volksfestcharakter, doch die Wut war stets spürbar. Alberto Martíne etwa, der mit der ganzen Familie in Barcelona demonstrierte, ist sauer darüber, dass Banken mit Milliarden gerettet werden, Familien aber oft nicht einmal die 400 Euro Sozialgeld erhalten und von den Banken aus der Wohnung geworfen werden, weil sie bei einer Arbeitslosigkeit von 21,2 Prozent den Kredit nicht mehr bedienen können. Inzwischen müssen seine 52-jährige Frau und die beiden arbeitslosen Söhne (23 und 25) von der Frührente des 59-Jährigen leben. Fast die Hälfte aller jungen Menschen in Spanien ist heute ohne Job. »Ich kann nicht zulassen, dass es meinen Kindern noch mieser ergehen soll.«

Dass die Empörung angesichts der neuen Kürzungen bei Löhnen, Renten und Sozialleistungen, der Einschnitte im Bildungs- und Gesundheitssystem zunehmen würde, war abzusehen. Doch sogar die Plattform »Wahre Demokratie Jetzt« wurde von der Wucht des Wochenendes überrascht. Ihr Sprecher Jon Aguirre Such sagte: »Die Menschen, die am 15. Oktober in der ganzen Welt auf die Straßen gegangen sind, haben Geschichte geschrieben.«

Besonders schaute man von Spanien aus nach Brüssel, wo etwa 7000 Menschen im europäischen Machtzentrum demonstrierten. Denn in Madrid waren Ende Juli etwa 50 Aktivisten aufgebrochen, um auf ihrem 1600 Kilometer langen Fußmarsch bis in die belgische Hauptstadt die Menschen in den Städten und Dörfern »mit dem Virus der Empörung« zu infizieren.

Immer wieder wurde auf den Kundgebungen in Spanien betont, dass sich diese Bewegung nicht allein aus ökonomischen Interessen speise, dass es sich auch um eine Demokratiebewegung handele. »Von Amerika bis Asien, von Afrika bis Europa erheben sich die Menschen, um für ihre Rechte einzutreten und eine wahre Demokratie einzufordern«, heißt es in einem überall verlesenen gemeinsamen Aufruf. Es sei die Zeit gekommen, sich »in einem gewaltfreien und globalen Protest zu vereinen«.

***** Aus: neues deutschland, 17. Oktober 2011


Ausschreitungen in Rom

Krawalle einer Minderheit überschatteten friedliche Demonstration Hunderttausender

Von Anna Maldini, Rom ******


Hier Hunderttausende friedliche Demonstranten, die gegen das herrschende Wirtschafts- und Finanzsystem protestierten, dort einige Hundert gewaltbereite Vermummte und Tausende von Polizisten: Das Ergebnis waren mehrstündige Krawalle im Zentrum von Rom, bei denen 70 Menschen zum Teil schwer verletzt und ein Dutzend verhaftet wurden.

Es war eine riesige Demonstration der »Entrüsteten«, eine der größten, die am vergangenen Sonnabend in Europa stattfand. Zusammen protestierten Studenten und Arbeitnehmer, Metaller und Schüler, Wissenschaftler und Künstler. Politiker wurden nicht ausgeschlossen, wohl aber an den Rand des unendlichen Zuges verbannt, der die halbe Innenstadt von Rom durchquerte und schließlich vor der ehrwürdigen Lateran-Basilika endete. Aber von dieser Menschenmenge reden die Medien jetzt eigentlich gar nicht mehr. Diskutiert wird nur noch über die Ausschreitungen und die Straßenkämpfe, die stundenlang anhielten und ganze Straßenzüge verwüsteten.

Zwei- oder Dreihundert schwarz gekleidete und vermummte Gestalten - in Italien werden sie alle als »Black Bloc« bezeichnet - griffen Banken und Hotels, Ministerien und Polizeifahrzeuge an, zertrümmerten Autos und Geldautomaten, setzten Müllcontainer und PKW in Brand und lieferten sich mit den Ordnungskräften regelrechte Straßenkämpfe.

Zuerst hatten die Demonstranten versucht, diese Provokateure zu isolieren (drei von ihnen wurden sogar der Polizei übergeben), dann sie zu ignorieren - aber schließlich wurde die gesamte Kundgebung von der Gewalt überschattet. Die Polizei war offensichtlich überfordert und trieb die Vermummten immer wieder in die friedlich protestierende Menge hinein.

Schließlich griffen mehrere Polizeifahrzeuge mit Wasserwerfern und Tränengas sogar direkt vor der Lateran-Basilika an, was natürlich zu Panik bei den gewaltfreien Demonstranten führte. Hier soll es auch die meisten Verletzte gegeben haben. Einige Verwundete wurden von Polizisten bis in die Krankenhäuser hinein verfolgt.

Nicht wenige Beobachter fühlten sich an die Tage im Juli vor zehn Jahren erinnert, als während des G 8-Gipfels in Genua viele demokratische Grundrechte außer Kraft gesetzt und der junge Demonstrant Carlo Giuliani getötet wurden. Vor allem fragt man sich wieder einmal, warum die Gewaltbereiten nicht direkt von der Polizei blockiert und isoliert wurden, obwohl sie ihr Vorhaben bereits vor Tagen im Internet angekündigt hatten.

Am Tag nach den Krawallen von Rom versuchte die Regierung, diese für sich auszunutzen und die Oppositionsparteien und Gewerkschaft dafür verantwortlich zu machen. Nichi Vendola, Vorsitzender der Partei »Linke, Ökologie und Freiheit« erklärte: »In Rom hat es zwei Demonstrationen gegeben: eine wunderbare und emotionale mit Symbolen, Jugendlichen, Protest und friedlicher Revolte. Und eine andere, die von einer randalierenden Minderheit organisiert wurde, die die wirklichen Entrüsteten in den Hintergrund drücken wollten.«

****** Aus: neues deutschland, 17. Oktober 2011


Occupy London

Kundgebungen in Großbritannien richteten sich gegen Steuergeschenke an Unternehmen und Massenverarmung

Von Christian Bunke, Manchester *******


Wie in zahlreichen Ländern weltweit kam es auch in Großbritannien am Samstag zu Demonstrationen nach dem Vorbild der »Occupy«-Bewegung in den USA. Rund 5000 Menschen folgten dem Aufruf des »London Stock Exchange Collectives« und versuchten, die Londoner Börse zu besetzen. 13000 Menschen hatten dem Protest auf im Internet ihre Unterstützung zugesagt.

»Wir sind die 99 Prozent« war der Slogan des Tages. Die Demonstration war friedlich und gut gelaunt. Dafür wurde sie von der Polizei und privaten Sicherheitsdiensten mit Einkesselung und vorübergehenden Festnahmen belohnt. Das bekam auch der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, Julian Assange, zu spüren, der wegen des Tragens einer Maske zeitweilig von der Polizei festgehalten wurden.

Das Vorgehen gegen die Demonstranten ist ein Vorbote geplanter Gesetze, mit denen die Befugnisse der Polizei in Reaktion auf die Unruhen vom vergangenen Sommer erweitert werden sollen. Neben der Einführung eines Vermummungsverbotes soll die Polizei Vollmachten erhalten, Ausgangsverbote in ganzen Stadtteilen erteilen zu können.

Mit der versuchten Besetzung der Londoner Börse protestierten die Demonstranten unter anderem gegen kürzlich aufgedeckte Fälle von Geldwäsche und Steuerhinterziehung. Am 12. Oktober veröffentlichte die Organisation »Action Aid« eine Studie zum Thema. 18 Milliarden Pfund gehen demnach jedes Jahr durch Steuerhinterziehung in Großbritannien verloren. Während der britische Staat Arbeitnehmer, Erwerbslose und sozial schwache mit Belastungspaketen schröpft, ist ein Gesetz in Vorbereitung, welches multinationalen Konzernen Steuerabschreibungen erleichtern soll. Das bedeutet Steuergeschenke an Unternehmen im Wert von 840 Millionen Pfund.

Zudem haben 98 der 100 größten an der Londoner Börse notierten Unternehmen Strohfirmen gegründet, mit denen sie in Steueroasen operieren. Die vier größten britischen Banken unterhalten 1649, BP und Shell 1000 solcher Firmen. Auch die britischen Supermarktketten verlagern ihr Geld in Steueroasen, zum Beispiel auf die Insel Jersey, wo sich die Tarnfirmen tummeln.

Derweil droht in Großbritannien Massenverarmung. Das geht aus dem gerade veröffentlichten Armutsbericht hervor. Das Durchschnittseinkommen wird im kommenden Jahr um sieben Prozent sinken. Es wird 600000 mehr arme Kinder und 800 000 mehr arme Erwachsene im berufsfähigen Alter geben. Bis 2020 wird die Kinderarmut bis zu 24 Prozent erreichen. Ein 2010 verabschiedetes Gesetz sieht eine Kinderarmutsrate von fünf bis zehn Prozent vor. Dieses Ziel wird wohl drastisch verfehlt werden.

Diese kürzlich veröffentlichten Zahlen trugen am Samstag zur Moblisierung der Demonstranten in London bei. Noch in den Abendstunden beteiligten sich rund 1000 Menschen an einer öffentlichen Generalversammlung. Viele kritiserten die mangelnde Beteiligung der Gewerkschaften an den Protesten. Schließlich habe die Präsenz der Gewerkschaften das Profil von »Occupy Wall Street« enorm erhöht, so eine Demonstrantin gegenüber der BBC. Mehrere hundert Demonstranten verbrachten die Nacht zu Sonntag in einem Zeltlager vor der St. Paul’s Cathedral in der Nähe der Börse.

******* Aus: junge Welt, 17. Oktober 2011


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