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Dialektik der Entzivilisierung

Soziologie. Über die Gewalt, die aus der Mitte der Gesellschaft kommt

Von Werner Seppmann *

Regelmäßig ist das öffentlich demonstrierte Entsetzen groß, wenn Jugendliche in ihrer Schule oder auf die Straße gesetzte Lohnabhängige im nächsten Supermarkt ein Blutbad anrichten. Öffentliche »Betroffenheit« wird um so intensiver zelebriert, als solche Nachrichten nicht mehr nur aus einem »fernen Amerika«, sondern mittlerweile aus dem Nachbarland oder der Nachbarstadt stammen und die Ereignisabstände auch immer kürzer werden.

Oberflächlich betrachtet, wirken die Mordexzesse (darin eingeschlossen die Terrortaten in Norwegen vom 22. Juli 2011) wie Ausbrüche einer archaischen, vorzivilisatorischen Gewalt. Schnell sind die ideologischen Apparate auch bei der Hand, um solche Ereignisse als die Handlungen von »Einzeltätern« zu deklarieren. Darin äußert sich das Bemühen, vergessen zu machen, daß die Ursachen der Gewalt aus der »Mitte der Gesellschaft« kommen. Bei den Berichten über die Mordereignisse wird manchmal zwar darauf hingewiesen, daß sie Ausdruck gesellschaftlicher Zerstörungs- und Desintegrationsprozesse sind, die von einer neoliberalistischen Umgestaltungsoffensive vorangetrieben wurden. Jedoch ist fast überhaupt nicht die Rede davon, daß der Neoliberalismus die sozialdestruktiven und antizivilisatorischen Entwicklungstendenzen eines späten Kapitalismus verstärkt hat.

Dynamik sozialer Selbstzerstörung

Man stehe »unter dem Schock der Ereignisse«, heißt es wieder und immer wieder, wenn über die scheinbar wie eine Naturkatastrophe in den Alltag einbrechenden Wahnsinnstaten berichtet wird – und geht doch jedesmal schnell wieder zur Tagesordnung über. Es werden zwar große psychische und mentale Energien aufgewandt – jedoch nicht zum vorbehaltlosen Verständnis der destruktiven Handlungen, sondern um ihre tieferliegenden Ursachen zu verdrängen. Geschwiegen wird darüber, in welchem Maße die Alltagskultur in den Metropolenländern zu einer Gewaltkultur und in ihrer extremen Form auch zu einer Kultur der Barbarei geworden ist.

Einem intensiven Bedürfnis der Verdrängung liegen auch Sätze wie die des Spiegel zugrunde, daß für die Terrortat von Oslo »bisher nicht einmal eine Kategorie« existiere, sie »jenseits jeder Begrifflichkeit« angesiedelt sei. Jedoch, der Spiegel-Schreiber irrt nicht nur, er bringt auch ein selbstzerstörerisches Existenzprinzip spätkapitalistischer Gesellschaften zum Ausdruck: Der selbstverordnete Realitätsverlust wird zur Bedingung, um so weitermachen zu können wie bisher.

Die Ursachenverdrängung komplettiert einen konstitutiven Irrationalismus im Handeln und im Denken: Aggressivität und Zerstörungsdrang sind allgegenwärtig, und die rechtsextrem motivierte Mordlust ist nur eine Ausdrucksform davon. Es ist ein Zustand erreicht, in dem »die imperialistische Gesellschaft, weit stärker als die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft in ihren früheren Phasen, keiner gesamtgesellschaftlichen Rationalität mehr unterliegt« (Thomas Metscher), sich soziale und zivilisatorische Auflösungstendenzen gleichermaßen zeigen. Aber gerade weil praktizistische Rationalität immer häufiger zu sozialdestruktiven Konsequenzen führt, und auch intellektueller Widersinn zum »guten Ton« gehört (typisch ist die Penetranz, mit der von einem »ökonomischen Sachverstand« zerstörerische Kapitalverwertungsstrategien als die höchste Form »wirtschaftlicher Vernunft« gefeiert werden), wird der Eindruck zu erwecken versucht, daß Irrationalität und Gewaltexzesse jenseits herrschender Entwicklungslogik angesiedelt wären.

Tatsächlich jedoch sind durch die krisenhaften Umwälzungen der Sozialverhältnisse bei den Gewalttätern Frustration und Verzweiflung ebenso wie Wut und Zerstörungsbereitschaft über einen längeren Zeitraum gewachsen: Psychische Defundierung, soziale Desintegration und weltanschauliche Desorientierung haben sich so verdichtet, daß es nur noch eines Anlasses für den Ausbruch von schon lange in der Phantasie vorgestellter Zerstörungshandlungen bedurfte.

Welche Störungen im psychosozialen Regulationsgefüge sind eingetreten, so ist zu fragen, wenn eine affektgeleitete Aggressivität die psychogenetischen Kontroll- und Selbstbeherrschungsstandards außer Kraft setzt und gleichzeitig regressive, irrational geprägte Orientierungsmodelle (darin eingeschlossen Fremdenfeindlichkeit und andere neofaschistische Ideologeme, die von mindestens einem Drittel der Bevölkerung akzeptiert werden) ihren Einfluß verstärken können?

Aus den Fugen

Unter den verschiedenen Ursachensträngen sozialer Bedrängungserfahrungen und Desintegrationsentwicklungen sind die wirksamsten und sich immer wieder zur Geltung bringenden Konstanten, die aus einem irreversiblen Kapitalverwertungszwang Konkurrenzdynamik, sowie eine ebenso profitorientierte wie menschenfeindliche Zweckrationalität resultiert, die mittlerweile fast alle Lebensbereiche beherrscht. Indem »die abstrakte Logik des Kapitals (…) in alle Poren der Gesellschaft eindringt, frißt sie sich durch alle Traditionstatbestände hindurch und zehrt sie auf. Die Warenform wird universell und damit auch jene strukturelle Kälte, die mit der Dominanz des Tauschwerts über den Gebrauchswert einhergeht.« (Götz Eisenberg/Reimer Gronemeyer)

Zusätzliche sozial-desintegrative und individual-destruktive Effekte sind durch eine ausbeutungszentrierte Umgestaltungsdynamik der Sozialverhältnisse entstanden. Gefühle der Verlorenheit und Unsicherheit konnten sich verallgemeinern, weil in vielen gesellschaftlichen Bereichen die dominanten ökonomischen Strategien nur noch zu Abwertung und Ausgrenzung führen und keine – wie das in Zeiten des Prosperitätskapitalismus der Fall war – positiven und den Psychohaushalt stabilisierenden Entwicklungsperspektiven mehr vermitteln. Dem Jugendlichen aus einer Londoner Migrantenfamilie wird ebenso wie dem Hauptschüler in der Bundesrepublik alltäglich zu verstehen gegeben, daß für sie in den »Normalitätszonen« einer »neoliberal« auf Vordermann gebrachten Arbeitswelt kein Platz mehr ist. Immer häufiger gibt es auch für ehemals gutsituierte Bevölkerungskreise nur noch zwei konträre Existenzperspektiven: Entweder zur kleinen Zahl der Gewinner zu gehören oder in die inferioren Bereiche der Verlierer abzurutschen.

Gewalt ist dem Kapitalismus seit seinen Anfängen eingeschrieben: Er hat sich mit zerstörerischem Elan die Welt unterworfen, um sich selbst entwickeln zu können, die Menschen entwurzelt und diszipliniert, um ihre Ausbeutung sicherzustellen. Aggressive Strategien sind auch auf seinen »entwickelten« Stufen noch allgegenwärtig: Bedient er sich nach außen, um seine »Geschäfte« abzusichern, ungebrochen der Formen eines militärischen Interventionismus, so gehört zu seinen »inneren« Äußerungsweisen die arbeitsplatzvernichtende Rationalisierungsstrategie, für die der verantwortliche Manager großzügig belohnt wird, ebenso wie die Erwerbslosigkeit als Massendisziplinierungsmittel, die Menschen aus der Bahn wirft und ihnen psychisches Leid zufügt.

Herrschende Formen struktureller Gewalt (Verfügung über die Menschen nach Verwertungsgesichtspunkten, ihre Funktionalisierung und Verunsicherung) haben eine lange Tradition, während die Eskalation der Alltagsgewalt jüngeren Datums ist und mit der krisenhaften Veränderung der Sozialverhältnisse seit den späten 80er Jahren des 20. Jahrhunderts korrespondiert.

Wie es sich im Einzelfall auch immer darstellen mag: Die Gewalt, Terror- und Amoktaten sind die Konsequenzen eines aus den Fugen geratenen imperialen Weltsystems, das – um seine Funktionalität zu gewährleisten – die Menschen psychisch und zunehmend auch mental beschädigt und gerade in Krisenzeiten destruktive Reaktionsmuster und die Bereitschaft zum wilden Um-sich-Schlagen provoziert. Denn »die tektonischen Beben, die durch die Wucht von Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen ausgelöst werden, erschüttern nicht nur die tragenden Gerüste des Gesellschaftsbaus, sondern auch die tradierten Formen sozialer Integration und reichen bis in den Innenbau der Menschen hinein. Von den Funktionsprinzipien des ›flexiblen Kapitalismus‹ dazu aufgefordert, sich an nichts zu binden und auf sich drehende Marktwinde wendig und prompt zu reagieren, sind immer mehr Menschen genötigt, eine fragmentarische Identität auszubilden, die borderlineartige Züge trägt. Die Erosionskrisen der Gegenwart führen also dazu, daß Massen von Menschen Gefahr laufen, auf einfache Mechanismen der psychischen Regulation zu regredieren.« (Götz Eisenberg)

Die als »Borderline-Syndrome« eher beschriebenen denn analysierten psychischen Deformationen wirken sich als Zerfall personaler Stabilisierungs- und zivilisatorischer Selbststeuerungsmechanismen aus. Sie sind der Ausdruck sowohl emotionaler als auch mentaler Rückbildungsprozesse, die besonders in Krisensituationen zum vollständigen Zusammenbruch nur schwach entwickelter Ich-Strukturen führen können.

Irrationalismus dominiert

Es sind zwar auf den ersten Blick »Außenseiter«, die aus dem Ruder laufen, aber sie sind das Produkt einer Gesellschaft, die den Irrationalismus als Kehrseite der ökonomischen Verwertungsrationalität hervorbringt, die gerade durch den »Siegeszug« des »Neoliberalismus« auch noch in die letzten sozialen Winkel eingedrungen ist. Totalisierter Wettbewerb jedoch führt zur Entzivilisierung, zum sozialen Zerfall, ebenso wie zu einer Instrumentalisierung des Denkens, das nur noch den naheliegenden, »handgreiflichen« Erfolg kennt.

Rationale Weltaneignungsmuster verlieren ihre Überzeugungskraft und ihren Orientierungswert, weil immer öfter eine vielbeschworene betriebswirtschaftliche Rationalität einen strukturellen Gegensatz zu den gesellschaftlichen Reproduktions- und individuellen Sicherheitsbedürfnissen bildet. Der Irrationalismus ist konstitutiv und der soziale Widersinn zur ökonomischen Handlungsmaxime geworden, weil Kapitalverwertung immer häufiger nur noch mit sozialdestruktiven Konsequenzen möglich ist: Es werden profitable Betriebe um eines noch höheren Profits willen zerschlagen, Menschen auf die Straße gesetzt, um kurzfristig den Aktienkurs zu steigern und – selbst um den Preis des kollektiven Untergangs – ohne Netz und doppelten Boden spekuliert. Und was praktizieren die Londoner Vorstadtjugendlichen anderes als den konkurrenzgesellschaftlichen Grundsatz: »Wenn man etwas im Leben bekommen will, dann muß man es sich nehmen – notfalls mit Gewalt«?

Seit den 90er Jahren hat es krisenhafte Veränderungen in vielen Arbeits- und Lebensbereichen gegeben, die von den Betroffenen oft nur noch als zusammenhanglose und bedrohliche Geschehnisse wahrgenommen werden und deren Auswirkungen auf die individuelle Biographie kaum noch kalkulierbar sind. Immer häufiger wird beispielsweise die Erfahrung gemacht, daß auch qualifizierte Ausbildung und berufliche Leistung nicht vor dem Arbeitsplatzverlust schützen.

Allein schon durch den Zwang, sich immer wieder neu positionieren zu müssen, wird ein latentes Unsicherheitsgefühl erzeugt, auch die Entstehung labiler Psychostrukturen gefördert. Die Reaktionsmuster können jedoch sehr verschieden sein, und ein vollständiges Abgleiten in den Status psychosozialer Selbstaufgabe ist kein Automatismus: Die Krisenopfer können sich »durchschlagen«, versuchen über die »Runden zu kommen«, jedoch absorbiert das im hohen Maße psychische Energie. Wer sie nicht aufzubringen vermag, irgendwann an den Anforderungen der personalen Selbststabilisierung scheitert, zieht sich in der Regel »still« zurück, verfällt der Depression oder dem Alkohol. Er kann jedoch auch zu weltanschaulichen Surrogaten greifen, die geeignet scheinen, wieder »Ordnung« in das Bild einer aus den Fugen geratenen Welt zu bringen. Dann kommt die große Stunde neofaschistischer »Sinnangebote«.

Entfremdetes Weltverhältnis

Auf einer ersten Stufe bietet die Akzeptanz rechtsextremer Gedanken- und Phantasiewelten das Gefühl, der als bedrohlich erlebten Welt nicht mehr ganz hilflos ausgeliefert zu sein. Allein schon die Bedrängungserfahrungen benennen zu können (auch wenn es in einer verzerrten und hilflosen Weise geschieht), entlastet die defundierten Subjekte: Sie können ihre Existenzängste auf vermeintliche »Auslöser« (in historischer Abfolge die »Juden« und »Ausländer«, die »Arbeitslosen« und »Islamisten«) projizieren und durch »Konkretisierung« ihre diffusen Ängste abmildern.

Das psychisch destabilisierte Subjekt gewinnt durch die Identifikation mit diesem weltanschaulichen »Erklärungsrahmen« einen sozialen Schutzraum. »Identifizierung« kompensiert seine Isolation, die Übereinstimmung mit »übergeordneten« Identifikationsmustern (»Nation«, »Normalitätskultur«) vermittelt ein Gefühl von Identität und Einbindung. Diese Illusion ermöglicht es dem Subjekt, »seine tatsächliche infantile Machtlosigkeit gegenüber der Realität zu überwinden« (Ernst Simmel).

Jedoch ist die entlastende Wirkung rechter Ideologie nur begrenzt (denn sie ändert ja nichts an den bedrohlichen Lebensumständen). Das Surrogat verbraucht sich schnell, provoziert das Verlangen nach einem »Ersatz«, den nur ein »aktives Weltverhältnis« bieten kann. Die »Auffanglinie« kann in der Form einer öffentlichen Demonstration der politischen Gesinnung, jedoch auch in einer fortschreitenden Radikalisierung bestehen, die ihre Endpunkte erst im Gewalthandeln und terroristischem Aktivismus findet.

In welch elementarer Weise die Gewalt aus der »Mitte der Gesellschaft« kommt, sie weitgehend dem herrschenden Prinzip eines instrumentellen Verhältnisses zum Mitmenschen entspricht, ist daran zu erkennen, daß sich die Täter nicht mehr unbedingt menschenverachtender Rechtfertigungsmuster (etwa dem vom »unwerten Leben«) bedienen, es also nicht mehr der expliziten Abwertung des anderen bedarf. Obwohl in einigen Fällen eine rassistische Abwertung noch eine große Rolle spielt (wie es beispielsweise auch bei dem Oslo-Terroristen der Fall ist), häufen sich Amok- und Gewalttaten, bei denen »wie selbstverständlich« das soziale Gegenüber als Objekt der eigenen »Artikulationsbedürfnisse« mißbraucht wird. Es werden zwar noch Obdachlose traktiert und angezündet, weil ihnen das Existenzrecht abgesprochen wird, aber die brutalen U-Bahn-Attacken der letzten Zeit waren durch einen unspezifischen, frustrationsgeprägten »Haß« charakterisiert, der sich auf eher »zufällige« Opfer richtete.

Für den Aggressor besitzen seine Handlungen neben der Dimension einer entfremdeten »Selbstbestätigung« auch ein Moment des hilflosen Protestes: »Gelegentlich möchte er damit auch unter Beweis stellen, daß es ihn überhaupt noch gibt« (Rainer Paris). Das entstrukturierte und demoralisierte Individuum versucht durch Gewalt, sich der »Gesellschaft« in Erinnerung zu bringen und neben seiner Verachtung, auch seine Ansprüche ihr gegenüber auszudrücken. Destruktionshandlungen werden zur Quelle von Macht- und Überlegenheitsgefühlen, zu einer Strategie, Angst und Hilflosigkeitsgefühle abzuwehren.

Sozialangst und Fremdenhaß

Auch wenn sich nicht prognostizieren läßt, wann bei einem psychisch destabilisierten und ideologisch aufgeladenen Subjekt alle Dämme brechen, läßt sich nach der Tat der gesellschaftliche Einfluß recht exakt bestimmen. Es kann nachgezeichnet werden, welche sozialen Entwicklungen zur Defundierung der Psychostruktur beigetragen haben und auf welche Weise irrationalistische »Orientierungssysteme« ihren Einfluß geltend machen konnten.

Der Oslo-Attentäter jedenfalls hat einen fast »mustergültigen« Entwicklungsweg durchlaufen: Er war ein labiles Kind und als Schüler sozial isoliert. Zunehmend flüchtete er sich in die Kunstwelten des Computers und fand im »Netz« eine Ersatzrealität. Die Gesellschaft« erlebte er zunehmend als bedrohlich, auch weil seine wirtschaftlichen Aktivitäten, mit denen er als junger Mann Fuß zu fassen versuchte, wenig erfolgreich waren. Bei der Suche nach »Erklärungen« für seine Lebenssituation, drängten sich die »Antworten« des Rechtspopulismus und auch eines »traditionellen« Rechtsextremismus auf. Erst nach deren nachlassenden Kompensationswirkungen entwickelte und verstärkte sich ein Bedürfnis nach einem »aktivistischen« Weltverhältnis, das in einen unbändigen Zerstörungsdrang mündete.

Während der Spiegel unmittelbar nach der Tat nur »wenige Spuren« erkennen wollte, die aus des Attentäters »wirrer Gedankenwelt in die Wirklichkeit« führten, präsentierte sich faktisch ein dichtes Einflußnetz expliziter rechtsextremer Ideologie. Der Attentäter konnte sich mit einer rechtspopulistischen Grundstimmung verbunden fühlen, die in fast allen europäischen Ländern verbreitet ist und denen Parteien und Gruppierungen bis in die »bürgerliche Mitte« hinein die Reverenz erweisen. Ihr einigendes Band ist ein Antiislamismus, durch den meist ein latenter Antisemitismus überdeckt wird. »Hundert Prozent der Ideen Breiviks sind richtig«, sagt der Lega-Nord-Europaabgeordnete Mario Borghezio, und der niederländische Rechtspopulist ­Geert Wilders vertrat nach der Terrortat die Auffassung, daß »Widerstand gegen die multikulturelle Idee (…) kein Aufruf zur Gewalt« sei.

Über das Internet hatte der Oslo-Terrorist Zugriff auf alle Spielarten des Irrationalismus, wobei aber Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sich nicht unbedingt in Gestalt »klassischer« faschistischer Ideologie (obwohl auch diese »Orientierungsangebote« reichlich vorhanden sind) präsentieren müssen: Wie einst der »Republikaner«-Chef Franz Schönhuber angeblich nichts gegen »die Türken« hatte, tritt auch der fremdenfeindliche Wanderprediger Sarrazin als »abgeklärter« Menschenfreund auf: »Ich habe nichts gegen türkische Menschen. Wenn sie gut deutsch sprechen, einen ordentlichen Beruf ausüben, unsere Gesetze achten und sich an unsere Sitten und Gebräuche anpassen, ist nichts gegen sie einzuwenden.«

Drang zur Selbstzerstörung

Deutlich wurden durch die Osloer Terrortaten, die weder in ihrer Dimension noch als Symptom des zivilisatorischen Zerfalls »einmalig« sind, die Risse und Schattenseiten der »sozialstaatlichen Modellgesellschaften« Skandinaviens, in denen Depressionen und Selbstmorde, Gewalttaten und Alkoholismus weit verbreitet sind. Daß skandinavische Kriminalromane und -filme von besonderer Grausamkeit und trostloser Absurdität sind, ist vielleicht doch kein Zufall, sondern Spiegelbild elementarer Entfremdungsprozesse, die auch durch demonstrative »Solidaritäts-« und »Gemeinschafts«gesten nicht länger verdeckt werden können. Zu deutlich ist geworden, wie dünn die zivilisatorische Hülle auch in diesen Gesellschaften ist. Der Mord an Olof Palme 1986 war ein Zeichen für die Brüchigkeit der Illusion des sozialstaatlichen »Paradieses« in den skandinavischen Ländern: Auch Kapitalismus mit »menschlichem Antlitz« bleibt Kapitalismus, der die Menschen fragmentarisiert und defundiert, ihre antisozialen »Sinne schärft« und einen Drang zur Selbstzerstörung provoziert.

Gesellschaften, in denen das abstrakte Kapitalverwertungsprinzip über elementare Lebensinteressen dominiert, in denen das Prinzip sozialer Ausgrenzung und individueller Selbstinstrumentalisierung prägend ist, unterliegen einer Tendenz zur Selbstzerstörung, weil sie (im besten Fall) verstörte, aber zunehmend auch zerstörte Menschen produzieren, von denen ein Teil psychisch so strukturiert ist, daß sie von der Vorstellung beherrscht werden, mit monströsen Destruktionshandlungen auf die erlittene Gewalt reagieren zu müssen.

Trotz der Abwiegelungsversuche und der üblichen Konzentration auf die Geschichte vom »Einzeltäter« hat dennoch ein Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes das Problem auf den Punkt gebracht: Es gebe auch in der BRD viele Menschen mit ähnlichen Defekten, aber akute Gefahr ginge von keinem von ihnen aus. Jedoch, »lebende Zeitbomben« gibt es genug: Was die Psychiatrie als »antisoziale Persönlichkeitszerstörung« bezeichnet und landläufig als »psychopathische« Disposition wahrgenommen wird, läßt sich bei ein bis zwei Prozent der bundesrepublikanischen Bevölkerung diagnostizieren. In einer Großstadt wie Frankfurt würden danach an die zehntausend Menschen leben, bei denen Ausbrüche pathologischer Gewalt möglich sind.

Jedoch läßt sich nicht prognostizieren, bei welchem psychosozial defundierten Individuum alle Dämme brechen, vor allem, wann sie auf Grundlage ihrer pervertierten Phantasie grauenvollste Taten begehen. Zum Ausbruch der Destruktions- und Selbstdestruktionsbereitschaft bedarf es besonderer alltagspraktischer Konstellationen, individueller Frustrationserlebnisse und ideologischer Anlässe. Sie können (ebenso wie die Handlungsabläufe) vielfältig variieren, jedoch entspricht der terroristische Akt durchaus der Entwicklungslogik einer aus den Fugen geratenen Gesellschaftsformation, erweist sich das individuelle Zerstörungsbedürfnis als Spiegelbild von Vergesellschaftungsbedingungen, in deren Kontext soziokulturelle Destruktionstendenzen die Regel und nicht die Ausnahme sind. Und nicht zuletzt: Keinesfalls nur für den Täter, sondern für die betroffene Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, wirkt der Gewaltakt wie ein Ventil, mit dem ein aufgestauter Haß und eine daraus resultierende Aggressionsenergie »abgelassen« werden. Letztlich findet darin ein kollektiver Selbstzerstörungszwang seinen Ausdruck.

Notwendigkeit der Veränderung

Natürlich sind andere Formen der Widerspruchsverarbeitung, progressive Reaktionen auf die gesellschaftlichen Krisentendenzen möglich. Aber sie sind an gewisse Voraussetzungen gebunden. Auch wenn Kapitalismusskepsis weit verbreitet ist (mittlerweile stellt sie sogar einen Haupttrend des Massenbewußtseins dar!), ist die Entwicklung zur profilierten Kapitalismuskritik und gesellschaftsverändernder Handlungsbereitschaft ein weiter und voraussetzungsvoller Weg. Sie setzt eine Kultur des Widerstandes und die Organisationen der Selbstaufklärung, also eine funktionierende und das heißt letztlich auch kampfbereite Arbeiterklasse voraus. Dem neofaschistischen Spuk und dem weiteren Abgleiten der bürgerlichen Verhältnisse in (auch politische) Barbarei kann wirksam nur begegnet werden, wenn sich ein Bewußtsein der gesellschaftlichen Veränderungsmöglichkeiten entwickelt. Das setzt alltagspraktisch nachvollziehbare Konzepte einer anderen Gesellschaft voraus.

In diesem Sinne ist die Perspektive des Klassenkampfes zu einer Frage des zivilisatorischen Überlebens der Menschheit geworden: Denn »dort, wo der Klassenkampf der Lohnarbeit stillgestellt, unterdrückt, überformt wird«, ist, wie es Heinz Jung schon vor fast zwei Jahrzehnten treffend gesagt hat, »der Rückfall in die Barbarei nicht mehr nur ein abstraktes Menetekel für diese Gesellschaft«. Nur mit anderen Worten hat Marx– noch länger zurückliegend – das gleiche gesagt: »Um des erzielten Resultats nicht verlustig zu gehen, um die Früchte der Zivilisation nicht zu verlieren, sind die Menschen gezwungen, sobald die Art und Weise ihres Verkehrs den erworbenen Produktivkräften nicht mehr entspricht, alle ihre überkommenen Gesellschaftsformen zu ändern.« (Karl Marx, MEW 27, S.453)

* Der Autor ist Vorstandsmitglied der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal. Von ihm erscheint zum Thema Vergesellschaftungskrise und Zivilisationsverlust im September im Hamburger Laika-Verlag das Buch »Dialektik der Entzivilisierung. Krise, Irrationalismus und Gewalt«

Aus: junge Welt, 9. September 2011



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