Snowden drehte die Stimmung
Eine Mehrheit in den USA sieht ihn heute als Whistleblower, nicht als Verräter
Von Max Böhnel, New York *
Trotz aller Enthüllungen des vergangenen
Jahres – die meisten Politiker
in Washington stehen weiter
zur NSA.
Nein, ein NSA-freier Ort in den USA
falle ihm nicht ein, klagt der in Chicago
beheimatete Journalist Kevin Gozstola. Zu sämtlichen Kommunikationswegen
habe sich die NSA Zugang verschafft. Der schmächtige 30-
Jährige weiß, wovon er spricht. Er gehört
zu der ersten Generation unabhängiger
Internet-Bürgerrechtler. Seine Plattform ist der Blog www.firedoglake.
com mit täglich bis zu 100 000 Lesern, seine Themen heißen
nationale Sicherheit und Internet.
Er war während des Militärprozesses
gegen Chelsea (Bradley) Manning
vor eineinhalb Jahren zeitweise
der einzige anwesende Reporter. Die
Snowden-Enthüllungen waren für ihn
»wie die Bestätigung dessen, was wir
schon ahnten«, sagt Gosztola.
Wie man sich gegen den größten
Bespitzelungs- und Abhörapparat aller
Zeiten schützen könne? Politische
Kontrolle sei »theoretisch denkbar«,
meint Gosztola, aber unrealistisch,
weil sich die übergroße Mehrzahl der
gewählten Politiker im Kongress »mit
dem nationalen Sicherheitsapparat
identifiziert«. So bleibe nur der individuelle
Schutz vor der Totalüberwachung
– mit Verschlüsselungssystemen
für Telefon, PC »und jegliche
Kommunikationstechnologie, die wir
benutzen«. Inklusive des GPS im Auto,
wie er betont.
»Snowden sei dank« habe sich die
Stimmung im Land gedreht. Vor eineinhalb
Jahren waren sich Umfragen
zufolge zwei Drittel der Befragten sicher,
dass die USA-Regierung im Antiterror-
Krieg für »mehr Überwachung
« sorgen müsse. Heute ist eine
knappe Mehrheit von 51 Prozent laut
einer Umfrage der Quinnipiac-Universität
der Meinung, die Freiheit des
Bürgers sei »zu stark eingeschränkt«.
57 Prozent halten Snowden für einen
»Whistleblower«, 34 Prozent für einen
»Verräter«. Diese Zahlen stehen
gegen die mehrheitliche Haltung der
Eliten in Politik und Medien.
Die hiesigen Massenmedien begegneten
seinen Enthüllungen mit
der herkömmlichen Masche des Psychologisierens
und Verdrängens. Als
Snowden vor einem Jahr in Hongkong
seine Identität preisgab, wurde
er als »chinesischer Spion« bezeichnet.
Als er in Moskau blieb, weil das USA-Außenministerium seinen Reisepass
für ungültig erklärte, wurde er zum »Spion Putins« erklärt. Danach handelte es sich um eine »chinesischrussische
Operation«. Immer wieder war die Rede von einem »ruhmsüchtigen
Narziss«. Einigen US-amerikanischen
Journalisten wie Glenn Greenwald und dem britischen »Guardian
« ist es allerdings zu verdanken,
dass sich diese haltlosen Anschuldigungen
nicht verfestigen konnten. Die hiesigen Medien waren
deshalb gezwungen, über die NSASpitzelei
zu berichten. Die kluge Strategie
von Edward Snowden, ihnen
monatelang keine Interviews zu geben,
trug dazu bei. Erst kürzlich ließ
er nach komplizierten wochenlangen
Verhandlungen den NBC-Interviewer
Brian Williams zu sich nach Moskau.
In dem Gespräch, das Ende Mai ausgestrahlt
wurde, konnte Snowden vor
Millionen Zuschauern in der Heimat
nicht nur seine Beweggründe, sondern
auch das Ausmaß und die Gefahren
der NSA-Totalüberwachung
darlegen. Er sei ein »amerikanischer
Pariot«, der als hochrangiger Spion
ausgebildet worden sei, und verstehe
sich als Beschützer der Verfassung. Der
USA-Sicherheitsapparat sei außer
Rand und Band geraten und eine Bedrohung
für die Amerikaner, erläuterte
er. Besonders anschaulich war
Snowdens Schilderung der technischen
Möglichkeiten, über die die NSA
verfügt. Als Williams ihm sein angeblich
abhörsicheres Handy reichte, lächelte
er nur: Natürlich könne es die
NSA anzapfen und in ein Mikrofon verwandeln,
ohne dass man es bemerkt.
Die NSA, die über ein Jahresbudget
von fast elf Milliarden Dollar verfügen
soll, schickte ihren neuen Chef
dieser Tage auf eine öffentliche Veranstaltung.
Snowden sei »wahrscheinlich
kein« ausländischer Spion,
sagte Admiral Michael Rogers jovial,
er glaube an das, was er tut. »Doch
ich bin total gegen das, was er tut. Ich
glaube, es war falsch und illegal.« Und
ja, die NSA überwache mithilfe eines
Gesichtserkennungssystems in sozialen
Netzwerken ausländische »Ziele«
– eine Bestätigung der jüngsten Snowden-
Enthüllung.
Dass all diese Enthüllungen in
Washington ans Eingemachte gehen,
zeigt sich an den Äußerungen
des Präsidenten. Barack Obama forderte
den Kongress wiederholt auf,
für rechtliche »Anpassungen« zwischen
bürgerlicher Freiheit und nationaler
Sicherheit zu sorgen. Im Januar
hatte er mit einer Direktive das
Staubsauberprinzip, nachdem die
NSA Telefongespräche speichert, mit
Auflagen versehen. Im Mai verabschiedete
das Repräsentantenhaus
den USA Freedom Act, der die Macht
der NSA im Lande allerdings nur
symbolisch beschränkt. Aber vielleicht
versteht die Regierung ja die
Sprache des Geldes.
In einem Artikel auf der CNN-Webseite
hieß es am Mittwoch warnend,
dass große US-amerikanische
Internetunternehmen wie Cisco und
IBM wegen des Geheimdienstskandals
massive Einbußen im Ausland
hinnehmen müssten. Die NSA-Aktivitäten
seien weder bei der Terrorismusbekämpfung
erfolgreich, noch
trügen sie zum Schutz der Amerikaner
bei. Vielmehr würden sie den
Wirtschaftsinteressen der USA und
ihren internationalen Beziehungen
Schaden zufügen.
* Aus: neues deutschland, Freitag, 6. Juni 2014
Keine Karriere in Moskau als neuer Kim Philby
Noch vier Asylverlängerungen bis zur Einbürgerung in Russland
Von Irina Wolkowa, Moskau **
Das russische Asyl für Edward Snowden wurde vom Kreml als humanistischer
Akt zelebriert. Doch der bedürfte einer Verlängerung.
Mit höchst widersprüchlichen Signalen
über sein künftiges Asyl meldete
sich der vor knapp einem Jahr in
Russland gestrandete NSAWhistleblower
Edward Snowden im Rampenlicht zurück. Erst hieß es Brasilien,
dann wollte er in Russland um
Asylverlängerung nachsuchen. Schon
seine Flucht im Jahre 2013 bis in den
den Transitbereich des internationalen
Moskauer Flughafens Scheremetjewo
war verwirrend genug.
Anfang Juli griff hier Präsident
Wladimir Putin ein: Russland sei kein
Land, das »Kämpfer für Menschenrechte
« ausliefere. Politisches Asyl
setze jedoch Verzicht auf Handlungen
voraus, mit denen Snowden, »so
paradox das aus meinen Munde auch
klingen mag, unseren Partnern von
russischem Gebiet aus weiteren
Schaden zufügt«. So der Kremlchef
wörtlich mit Blick auf die schon damals
schwer getrübten Beziehungen
zu den USA. Kurz danach überbrachten
russische Bürgerrechtler
Snowden das Angebot offiziell.
Es war nicht nur unter außenpolitischen
Aspekten ein genialer Schachzug, sondern auch der erste
Aufzug im letzten Akt eines innenpolitischen
Dramas: Die Kollegen hätten sich von Putin als Statisten für
dessen Inszenierung als sicherer Hafen
für Bedrängte aus Gewissensgründen
missbrauchen lassen, schäumte der radikale Flügel der Protestbewegung.
Snowden, der mit russischen Interna
bis heute so wenig vertraut ist
wie mit der Sprache seines Gastlandes,
schlug ein. Am 1. August entschied
die Föderale Migrationsbehörde
sein Asylgesuch positiv. Es war
zunächst auf ein Jahr befristet, Snowdens
Anwalt erwartet eine Verlängerung.
Erst nach der vierten ließe sich
Einbürgerung beantragen. Damit
würde Snowden in gewisser Weise
sein Leben und einige Freizügigkeit
der Bewegung zurückgewinnen. Derzeit
kann er Russland nicht verlassen.
Und dann? Eine Karriere als neuer
Kim Philby strebt er offenbar nicht an.
Anders als der zu Sowjetzeiten übergelaufene
britische Meisterspion pflege
er keine Beziehungen zu russischen
Diensten, bekomme von diesen
kein Geld. Auch den Präsidenten habe
er nie getroffen. Das behauptete
Snowden in Interviews, die er westlichen
Medien gewährte. Russland, so
auch Putin, habe nicht versucht, von
ihm Einzelheiten zur Arbeit der USGeheimdienste
zu erfahren, nie »operativ
« mit ihm zusammengearbeitet
und das auch nicht vor.
Beobachter treiben andere Sorgen
um. Steht in dem Archiv, das Snowden
noch vor seiner Flucht Journalisten
übergab, auch etwas zu
Lauschangriffen auf Russland und
dessen politische Eliten? »Wir haben
die bessere Abwehr«, glaubt ein ehemaliger
Mitarbeiter der »Organe«, der
anonym bleiben will.
Wachsamkeit habe sich schon zu
Sowjetzeiten bewährt, betont der Experte,
heute sei Russland wieder von
Feinden umzingelt. Daher seien auch
Spekulationen müßig, wonach
Snowden mit russischen »Kollegen«
zusammenarbeiten werde. Das sei
viel zu heiß. Der Amerikaner könnte
ein Doppelagent sein. Vor allem aber:
Ein Überläufer, der sein Wissen bereits
mit den Medien geteilt habe, sei
für Geheimdienste ohnehin wertlos.
** Aus: neues deutschland, Freitag, 6. Juni 2014
Traumziel Rio?
Edward Snowden würde ab August
gern in Brasilien wohnen,
doch die dortige Regierung stellt
sich unerwartet stumm.
Von Nils Brock, Rio de Janeiro ***
»Ich würde liebend gern in Brasilien
wohnen und wäre mehr als
froh, wenn man meinem Asylgesuch
dort nachkommen würde.«
Edward Snowden macht keinen
Hehl daraus, wohin die Reise gegen
soll, wenn im August seine befristete
Aufenthaltsgenehmigung
in Russland abläuft. Doch ausgerechnet
die beiden prominentesten
»Abhöropfer« der NSA, Bundeskanzlerin
Angela Merkel und
die brasilianische Präsidentin Dilma
Rousseff, scheuen davor zurück,
ihre schützende Hand über
den Mann zu halten, der die Enthüllungslawine
ins Rollen brachte.
Dabei hatte gerade Rousseffs
engagierter Auftritt vor der UNO-Generalversammlung
bei Snowden die Hoffnung geweckt, Brasilien
würde den USA die Stirn bieten.
Dort hatte sie appelliert, dass
jeder das Recht habe zu kommunizieren,
ohne bespitzelt zu werden.
Zuvor war bekannt geworden,
dass die NSA in Brasilien nicht
nur Telefonate der Präsidentin abgehört,
sondern auch intensiv im
staatlichen Erdölunternehmen Petrobras
und im Bergbau- und Energieministerium
spioniert hat. Die
nationalen Gemüter kochten. Laut
Snowden hatte er zu diesem Zeitpunkt
längst formal um Asyl gebeten;
doch wie damals bestritt der
brasilianische Außenminister Luís
Figueiredo am vergangenen
Dienstag erneut den Eingang eines
solchen Antrags. Und erst
wenn dieser vorliege, könne man
ihn prüfen und sich konkret zum
Fall äußern.
Der ehemalige Botschafter
Marco Azambuja wurde in einer
Gesprächsrunde im brasilianischen
Fernsehen dagegen sehr
deutlich und meinte, dass ein positiver
Asylbescheid die Beziehungen
zu den USA nachhaltig belasten
würde, da bei diesem
»Schlamassel ja noch nicht mal ein
Ende in Sicht ist«. Damit spielt er
auf die neuerliche Aussage von
Snowdens Partner Glenn Greenwald
an, »dass es noch viele Dokumente
gibt, die den Brasilianern
vor Augen führen werden, was die
USA in ihrem Land anstellten«.
Derweil wird auch darüber spekuliert,
ob die Asylfrage an einen
vorherigen Austausch vertraulicher
Informationen geknüpft wird.
Snowden hatte gegenüber dem TVSender
Globo ungefragt geäußert,
er sei zu einem solchen Deal nicht
bereit und beantrage ein bedingungsloses
»Asyl aus humanitären
Gründen«. Dieser Schritt müsse
gegangen werden, fordert auch der
brasilianische Jurist Ronaldo Lemos,
der sich für den Schutz der
Menschenrechte im Internet einsetzt.
Die USA seien nicht länger
die Fahnenträger eines freien Internets.
Brasilien müsse gemeinsam
mit anderen Ländern diese
Debatte an sich reißen.
*** Aus: neues deutschland, Freitag, 6. Juni 2014
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