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Ursachen werden nicht beseitigt

Rosemarie Will über die Verhandlung des Bundesverfassungsgerichtes zur Antiterrordatei


Dürfen Polizei und Verfassungsschutz ihre Daten austauschen und in einer Datei zusammenfügen? Über diese Frage verhandelt heute das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Konkret geht es um die sogenannte Antiterrordatei (ATD), die seit 2007 besteht und die Daten von fast 19 000 gewaltbereiten Islamisten enthält.
Vor der Verhandlung zur Antiterrordatei sprach nd-Autor Dirk Farke über die verfassungsrechtlichen Probleme mit der ehemaligen Landesverfassungsrichterin und heutigen Vorsitzenden der Humanistischen Union, Rosemarie Will. Sie wird im höchsten Deutschen Gericht Stellung zum Gesetz nehmen.



nd: Welche Daten der Bürgerinnen und Bürger finden sich in der Antiterrordatei (ATD)?

Will: In dieser Datei werden sowohl die Grunddaten, als auch die erweiterten Grunddaten gespeichert, d.h. eigentliche alle Daten, mit denen Menschen identifiziert werden können. Das geht dann bis hin zu Fahr- und Flugerlaubnissen oder sogar eine ehemalige oder zeitweise Anwesenheit an Orten, an denen sich auch Terroristen schon mal aufgehalten haben. Alle Nachrichtendienste und Polizeibehörden des Bundes und der Länder sind verpflichtet, ihre erhobenen Daten in der ATD zu speichern, wenn sie über Anhaltspunkte verfügen, es könnte sich um Terroristen, Kontaktpersonen oder Unterstützer handeln.

Ein pensionierter Richter hat Verfassungsbeschwerde gegen die ATD eingelegt mit der Begründung, er werde hierdurch in seinen Grundrechten verletzt. Welche Grundrechte der Bürger werden seiner Meinung nach konkret hiervon tangiert?

Der Beschwerdeführer sieht sich vor allem in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt. Er rügt aber auch eine Verletzung des Fernmeldegeheimnisses und des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung, weil aus Überwachungsmaßnahmen des Telefonverkehrs und aus Lauschangriffen in die Wohnung hinein Daten in die ATD gelangen können. Zudem rügt er eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutzes.

Teilen Sie die Ansichten des ehemaligen Richters?

Ja, ich denke, man muss allen diesen Rügen ernsthaft nachgehen und das ATDG in seinen Strukturen grundsätzlich auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand stellen. Dabei muss fast jede Regelung aus dem Gesetz überprüft werden.

Die ATD verstößt vor allem auch gegen das Trennungsgebot von Polizei und Nachrichtendienst, weil Polizeibehörden so Zugriff auf die von den Nachrichtendiensten eingestellten Daten haben und sie auf diese Weise an Informationen kommen, die sie selbst gar nicht erheben dürfen. Ist eine Zusammenführung der Daten damit nicht automatisch verfassungsrechtlich unzulässig?

Nicht automatisch, aber immer dann, wenn entgegen den eigenen gesetzlichen Befugnissen durch die ATD Daten erlangt und verwendet werden, wird das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt. Ob darüber hinaus auch das Trennungsgebot durch die ATD verletzt wird, ist eine der spannendsten Fragen in diesem Verfahren. Dazu muss das Verfassungsgericht dem Trennungsgebot erst einmal überhaupt Verfassungsrang einräumen. Bisher hat es diese Frage in seinen Entscheidungen offen gelassen.

Seit dem Bekanntwerden der NSU-Morde befürworten selbst Linke und Linksliberale einen vereinfachten Datenfluss von Verfassungsschutz und Polizei. Steht zu befürchten, dass sich die Verfassungshüter davon beeindrucken lassen?

Das glaube und hoffe ich nicht. Die Untersuchungen zum Versagen des Staates bei der Aufklärung und Ahndung der NSU-Verbrechen zeigen, warum die Möglichkeiten des gesetzlich vorgesehenen Datenaustausches nicht funktioniert haben. Die Ursachen dafür werden mit einer Verbunddatei nicht beseitigt, sondern wirken fort. Sie liegen in strukturellen Rechtsstaatsdefiziten der Nachrichtendienste.

* Aus: neues deutschland, Montag, 05. November 2012


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