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Ein Nein mit Folgen

Zur Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags in Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden vor zehn Jahren

Von Andreas Wehr *

Anfang Juni 2005, wenige Tage nach den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden zum »Vertrag über eine Verfassung für Europa« machte ein Satz das Desaster deutlich. Der außenpolitische Sprecher der britischen Konservativen im Unterhaus, Liam Fox, erklärte in einer Debatte über diesen Vertrag: »Ich praktiziere zwar nicht mehr als Arzt, aber eine Leiche kann ich sehr wohl noch erkennen.«

Was war geschehen? Am 29. Mai bzw. am 1. Juni 2005 hatten in Volksabstimmungen erst die Franzosen und dann die Niederländer den Verfassungsvertrag mit jeweils klaren Mehrheiten abgelehnt. Bedeutungslos geworden war damit das Ja des spanischen Volkes aus einem Referendum im Februar 2005. Zwar fand nach dem doppelten Nein noch ein weiteres Referendum über diesen Vertrag statt, in Luxemburg sprach sich eine Mehrheit dafür aus. Doch an der Tatsache, dass er mit der Zurückweisung in Frankreich und in den Niederlanden gescheitert war, war nicht mehr zu rütteln. Änderungen in den Abkommen zur Europäischen Union (EU) können die Mitgliedsstaaten nur einstimmig beschließen. Und der Verfassungsvertrag sah sogar gravierende Veränderungen vor. Mit ihm sollte das traditionell in zwei Verträgen – dem »Vertrag über die Europäische Union« und dem »Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union« – festgelegte europäische Vertragsrecht erstmals zusammengefasst und dabei in Teilen neu geschrieben werden. Um dem ganzen Vorhaben eine höhere Weihe zu verleihen, nannte man diesen Text »Vertrag über eine Verfassung für Europa«. Zugleich sollte damit zum Ausdruck gebracht werden, dass die EU eine neue Stufe der Integration erreicht hat.

Das Nein der Franzosen und der Niederländer traf die politische Klasse Europas wie ein Keulenschlag. Entsetzen breitete sich aus. Ratlos beugte man sich auf dem EU-Gipfel Mitte Juni 2005 in Brüssel über die Leiche. Um sich nicht die Tatsache einer peinlichen Niederlage eingestehen zu müssen, verordnete man dort der Union zunächst eine »Phase der Reflexion«. In ihr sollte alles auf den Prüfstand gestellt werden. Reumütig gestand man sich ein, etwas falschgemacht und dadurch den Kontakt zu den einfachen Menschen verloren zu haben. Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok verlangte in der Süddeutschen Zeitung vom 2. Juni 2005, dass »die EU in den nächsten zwölf Monaten ein Zeichen setze, dass sie sich begrenzen solle«. Über alles müsse neu nachgedacht werden, resümierte Die Welt vom 17. Juni: »Während der Denkpause sollten vor allem die Themen Regulierung und Erweiterung sowie die Frage, wozu eine EU nötig sei, diskutiert werden.« Ein sichtlich verstörter EU-Kommissar Günter Verheugen verstand die Welt nicht mehr: »Etwas ganz Fundamentales ist geschehen: Ein lange aufgestauter Unmut bricht sich Bahn. Es scheint, als seien Jahrzehnte europäischer Praxis spurlos an den Menschen vorübergegangen.«[1] Die in einigen Mitgliedsländern noch ausstehenden Referenden wurden eines nach dem anderen abgesagt. Für Deutschland war übrigens erst gar keins vorgesehen gewesen, da sich CDU/CSU und SPD darauf verständigt hatten, es für unvereinbar mit dem Grundgesetz zu erklären.[2]

Der »europäische Verfassungsprozess«, der mit der Einrichtung eines »Europäischen Konvents« zur Erarbeitung einer europäischen Verfassung im Februar 2002 seinen Anfang genommen und im Juli 2003 zur Vorlage des »Vertrags über eine Verfassung für Europa« geführt hatte, war im Sommer 2005 abrupt an sein Ende gekommen. Jahrelange politische und juristische Anstrengungen waren plötzlich wertlos geworden – zumindest schien es so.

Abstimmen, bis es passt

Einmal mehr hatte sich gezeigt, dass Volksabstimmungen über EU-Angelegenheiten für die herrschenden politischen Klassen regelmäßig Zitterpartien sind, denn meist erleiden sie dabei Niederlagen. Der Vertrag von Maastricht wurde 1992 in Frankreich in einem Referendum zwar noch mit äußerst knapper Mehrheit angenommen, in Dänemark scheiterte er hingegen. Erst nachdem man dem Land Ausnahmen einräumte, etwa in der Sicherheits- und Innenpolitik, und es vom Zwang befreite, den Euro einführen zu müssen, votierte eine Mehrheit in Dänemark 1993 mit Ja. Auch der Vertrag von Nizza scheiterte in einer Volksabstimmung. Diesmal waren es die Iren, die ihn ablehnten. Auch hier setzte man eine Wiederholung an, die dann die erhoffte Zustimmung brachte. Die Beteiligung in der zweiten Runde war allerdings deutlich geringer als bei der ersten. Dies alles zeigt: Dort, wo den Völkern die Gelegenheit gegeben wird, über europäische Fragen abzustimmen, entscheiden sie sich meist gegen das ihnen aufoktroyierte europäische Projekt. Somit lassen diese Referenden die Schlussfolgerung zu, dass die Konstruktion EU in Wahrheit keine Mehrheit unter den Bevölkerungen ihrer Mitgliedsländer hat. Dass der europäische Integrationsprozess dennoch bislang nicht an den Klippen der Volksabstimmungen gescheitert ist, liegt allein daran, dass negative Voten von den Regierenden regelmäßig ignoriert werden, indem man einfach noch einmal abstimmen lässt, getreu dem Motto: Es wird so lange abgestimmt, bis das Ergebnis am Ende passt. So hielt man es mit dem Verträgen von Maastricht und von Nizza, und auch – wie noch gezeigt werden soll – mit dem Verfassungsvertrag.

Die in Europa Herrschenden scheuen aber nicht nur Volksabstimmungen, sie fürchten ebenso die aus den Referendumskampagnen sich regelmäßig ergebende Politisierung. In Frankreich wurde der trockene und eigentlich nur für Europarechtler lesbare Text des Verfassungsvertrags über Nacht zu einem Bestseller. Auf unzähligen Websites und Blogs wurden immer neue Analysen und Bewertungen veröffentlicht und anschließend von Tausenden diskutiert. Ans Licht gebracht wurde dabei, dass sich unter harmlosen Überschriften, die etwa eine soziale Marktwirtschaft versprechen, oft beinharte neoliberale Verpflichtungen verbargen. Und hinter den schönen Parolen von der Bewahrung des Friedens fanden sich Forderungen nach einer Militarisierung der EU und sogar nach einer Verpflichtung ihrer Mitgliedsstaaten zur Aufrüstung. Überprüft wurde von einer breiten Öffentlichkeit, wie sich die Einführung des demographischen Faktors bei den neuen Abstimmungsregelungen im Europäischen Rat und im Rat auf die Kräfteverhältnisse in der EU auswirken. Aufgedeckt wurde so, dass diese Änderung vor allem die Machtstellung Deutschlands stärkt.[3]

Hohe Beteiligung

Der Gegenstand der Kontroverse in Frankreich war dessen Zukunft in der EU. Joachim Schild, Professor für Vergleichende Regierungslehre an der Universität in Trier, dazu: »Man würde das mit dem Referendum einhergehende Signal jedoch völlig falsch deuten, wenn man die genuin europapolitischen Beweggründe im Abstimmungsverhalten der Französinnen und Franzosen nicht berücksichtigte. Denn die Referendumskampagne drehte sich inhaltlich um Europapolitik, nicht um Innenpolitik, wiewohl innenpolitische Kalküle der Beteiligten natürlich eine eminent wichtige Rolle spielten. So umfassend und so intensiv über die Europapolitik diskutiert wurde in Frankreich zuletzt im September 1992, anlässlich des Maastricht-Referendums.« Und: »Das abstimmungsentscheidende Thema, das mit vielfältigen Variationen die französische Referendumsdebatte beherrschte, war jedoch der Gegensatz zwischen einem ungezügelten Neoliberalismus und einem sozialstaatlich geprägten europäischen Gesellschaftsmodell in seiner spezifisch französischen Ausprägung.«[4]

Nicht anders war es in den Niederlanden. Als feststand, dass es eine Volksabstimmung geben würde, ging man zunächst davon aus, dass nur wenige daran teilnehmen würden. Und von jenen, die hingingen, würde eine Mehrheit mit Ja stimmen. So schätzte man die Teilnahmequote auf vielleicht 20 Prozent, und darunter würden gut 15 Prozent Europaanhänger oder Leute sein, die ein wirtschaftliches Interesse mit der Europäischen Union verbinden. Es kam aber anders: Innerhalb kürzester Zeit bildete sich ein Komitee »Verfassung: Nein«, das vor allem aus bisher politisch nicht aktiven Bürgern bestand und im ganzen Land tätig wurde. Nichtregierungsorganisationen wie ATTAC und auch die Sozialistische Partei nahmen sich des Themas an und begannen mit intensiver Aufklärungsarbeit.

Ohne dieses Interesse an EU-Fragen wäre die erstaunlich hohe Beteiligung an den Volksabstimmungen nicht möglich gewesen. In Frankreich lag sie bei 69,4 Prozent und damit deutlich höher als bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, an denen sich regelmäßig nicht einmal die Hälfte beteiligt. Ähnlich die Situation in den Niederlanden, wo 63 Prozent zur Abstimmung kamen. Das Non der Franzosen und das Nee der Niederländer war denn auch alles andere als ein Nein, das den Willen nur einer Minderheit ausdrückte. Es fiel vielmehr eindeutig aus: In Frankreich sagten 54,7 Prozent der Teilnehmenden Non zum Verfassungsvertrag. Und in den Niederlanden war die Ablehnung mit 61,6 Prozent sogar noch deutlicher.

Doch diese demokratische Mobilisierung beeindruckte das europäische Establishment nur wenig. Der heutige Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), reagierte darauf im Handelsblatt vom 31. Mai 2005 arrogant und trotzig: »Ich weiß, was in der Verfassung steht – dass nämlich mein deutsches Votum genausoviel wert ist wie ein französisches. Darauf beharre ich als Europäer.« Was ja wohl bedeuten sollte, dass seiner Meinung nach eine Mehrheit des Deutschen Bundestages für den Verfassungsvertrag denselben Stellenwert wie das Nein von nicht weniger als 15.422.000 französischer Wählerinnen und Wähler habe. Noch vermessener äußerte sich sein sozialdemokratischer Abgeordnetenkollege Klaus Hänsch. Allen Ernstes forderte er noch am Morgen nach dem niederländischen Nee von mehr als 60 Prozent der am Referendum teilnehmenden Wahlberechtigten die Regierung in Den Haag auf, das Ratifizierungsgesetz dennoch in das Parlament einzubringen.

Ein Nein der Linken

Bei den Abstimmungen in Frankreich, den Niederlanden und auch in Luxemburg sind Parallelen nicht zu übersehen. Überall dort war das Nein eine Absage vor allem derjenigen, die sich der Linken zurechnen. Die Anhänger von kommunistischen, linksradikalen und linkssozialistischen Parteien stimmten nahezu geschlossen gegen den Verfassungsvertrag. Dies hätte aber nicht für eine Ablehnung gereicht, wenn sich nicht auch eine relative Mehrheit der Unterstützer sozialdemokratischer Parteien und von Gewerkschaftsmitgliedern dieser Position angeschlossen hätte. In Frankreich votierten 95 Prozent der Anhänger der Kommunistischen Partei sowie der radikalen Linken und 61 Prozent der der Sozialisten gegen den Verfassungsvertrag. In den Niederlanden lag der Anteil unter den Mitstreitern der Sozialistischen Partei bei 87 Prozent und bei denen der sozialdemokratischen Partei bei 63 Prozent. Es ist offensichtlich, dass Zustimmung und Ablehnung des Verfassungsvertrags eng mit der sozialen Lage korrespondierten. In Frankreich stimmten 76 Prozent der am Referendum teilnehmenden Arbeiter und 55 Prozent der Angestellten und in den Niederlanden gar 78 Prozent der Arbeiter und 60 Prozent der Angestellten gegen den Vertrag. Ein ähnliches Bild ergab sich auch in Luxemburg bei dem Referendum am 10. Juli 2005. Obwohl dort der Verfassungsvertrag angenommen wurde, sprachen sich nicht weniger als 43,5 Prozent der Abstimmenden gegen ihn aus. Auch hier votierten die Arbeiter darunter zu 60 Prozent mit Nein, ebenso 60 Prozent der Jugendlichen. Eine absolute Mehrheit stand im Industriegebiet des Südens gegen den Vertrag. »Der soziale Bruch, der Luxemburg in zwei Lager teilt, war nie so deutlich erkennbar. Es gibt eben nicht nur das Luxemburg, das man mit oft unverdientem Wohlstand gleichsetzt und als Steuerparadies bezeichnet. Es gibt auch ein anderes Luxemburg«, sagte Henri Wehenkel von der linkssozialistischen Partei déi Lénk dem Autor.[5]

Das Nein war somit vor allem ein Nein der Linken. Doch überall stellten sich auch konservative und rechte Kräfte gegen den Verfassungsvertrag. In Frankreich knüpfte ein Teil der gaullistischen Partei an ihre Ablehnung des Vertrags von Maastricht 1992 an und kämpfte nun für ein Nein auch zum Verfassungsvertrag. In den Niederlanden lehnten ihn die Christlich-Orthodoxen ab. »Die sagen: Wir haben einen besonderen Staat, einen von Gott gegebenen, ihre Parole heißt: Gott, Niederlande und Oranien. Sie wollen nicht zu einem Europa gehören, das katholisch oder atheistisch ist, das die Sonntage nicht respektiert.«[6] In Luxemburg wandte sich das »Aktionsbündnis für Demokratie und Rentengerechtigkeit (ADR)« gegen eine europäische Verfassung. Doch trotz dieser Kritik auch von rechts bestand überall das Gros der Ablehnungsfront aus Lohnabhängigen, die zumindest potentiell der Linken zugerechnet werden können.

Die Ergebnisse der Volksabstimmungen machten die Kluft zwischen Repräsentanten und Repräsentierten deutlich. So gab es etwa in der französischen Nationalversammlung so gut wie keine Opposition gegen den Verfassungsvertrag. Noch am 28. Februar 2005 – nicht einmal ein halbes Jahr vor dem klaren Nein der Wahlberechtigten – plädierten die Abgeordneten mit einer Mehrheit von nicht weniger als 92 Prozent für die Ratifizierung. Das Luxemburger Parlament hatte sich vor dem Referendum sogar einstimmig dafür ausgesprochen. Die Volksabstimmungen stellten die bürgerliche parlamentarische Demokratie in Frage. Man fühlt sich an das Wort von Karl Marx aus seiner Schrift »Der Bürgerkrieg in Frankreich« (MEW, Band 17, Seite 340) erinnert: Der bürgerliche Parlamentarismus erschöpft sich darin, »einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll (…).«

Nach einer Anstandspause

Nach einer zweijährigen »Reflexionsphase« wurde im Oktober 2007 mit dem Lissabonner Vertrag, anfangs Reformvertrag genannt, zwar ein formal neuer Entwurf vorgelegt, der aber im Kern alle Bestimmungen des abgelehnten enthielt. Einmal mehr wandte man die Taktik an, einen zurückgewiesenen Vertragstext – nach einer gewissen Anstandspause – erneut vorzulegen. Diesmal vermied man es aber, den Lissabonner Vertrag unwägbaren Wählerentscheidungen auszusetzen. Auch in Frankreich und in den Niederlanden wurde er lediglich in den Parlamenten beschlossen. Dies stellte einen beispiellosen Affront für die französische und die niederländische Bevölkerung dar, hatte die doch den mit dem Lissabonner Vertrag weitgehend identischen Text erst zwei Jahre zuvor abgelehnt.

Das Nein bei diesen beiden Volksabstimmungen blieb aber dennoch nicht ohne Folgen. Auf der Tagung des Europäischen Rats Ende Juni 2007 wurde eine Reihe von Festlegungen für den künftigen Lissabonner Vertrag getroffen, mit denen einige Souveränitätsrechte der Mitgliedsstaaten gesichert werden konnten. Aufgewertet wurden etwa die nationalen Parlamente. Von Bedeutung war auch der Verzicht darauf, den neuen Vertrag »Verfassung« zu nennen. Eine europäische Verfassung muss ja im allgemeinen Bewusstsein stets dazu führen, die alten, noch dem Klassenkompromiss der unmittelbaren Nachkriegszeit verpflichteten westeuropäischen Verfassungen wie etwa das deutsche Grundgesetz, mit ihrer Offenheit auch für andere Gesellschaftsformen, weiter in den Hintergrund treten zu lassen. Aufgegeben werden musste auch die im Verfassungsvertrag noch enthaltene Nennung der Symbole der Union, wie Flagge, Leitspruch, Hymne und Gedenktag. Mit ihnen sollte ursprünglich eine erreichte Staatlichkeit der EU herausgestellt werden. Der Verzicht darauf fiel den EU-Protagonisten nicht leicht.

Auch in den betroffenen Mitgliedsländern sind die Spuren des Referendumskampfs aus dem Jahr 2005 noch immer sichtbar. In Frankreich verstärkte sich in allen politischen Lagern eine europaskeptische Haltung, die mit wachsender Kritik an der neuen Hegemonialrolle Deutschlands in der EU einhergeht. Die Unterstützung der Führung der französischen Sozialisten für den Verfassungsvertrag führte zu Austrittswellen aus der Partei und schließlich zur Entstehung der Parti de Gauche (Linkspartei) unter dem Europaabgeordneten Jean-Luc Mélenchon. Unter ausdrücklichem Bezug auf den zehnten Jahrestag der Volksabstimmung präsentierte Mélenchon Anfang Mai 2015 sein neues Buch »Le Hareng de Bismarck. Le poison allemand« (Der Bismarckhering. Das deutsche Gift; siehe "Giftige Heringe", jW-Thema vom 23.5.2015).

Auch in den Niederlanden wurde das EU-Lager dauerhaft geschwächt. Galt das Land als Gründungsmitglied der Europäischen Gemeinschaften lange als einer der wichtigsten Motoren der Integration, so fordern inzwischen so gut wie alle niederländischen Parteien – vergleichbar der Situation in Großbritannien – eine Rückübertragung von an die EU abgegebenen Kompetenzen auf die nationale Ebene. Die Sozialistische Partei der Niederlande, die 2005 noch als eine kleine Partei führend in der Nein-Kampagne engagiert war, hat inzwischen die Sozialdemokraten in der Wählergunst überholt.

Im Sommer 2005 wurde für einen historischen Augenblick eine neue Form der Souveränität der EU-Mitgliedsländer sichtbar, indem sich das Volk, »der große Lümmel« (Heinrich Heine), einmischte. Es zeigte sich dabei, dass der sich als unaufhaltsam gebende und allen Widerstand niederwalzende europäische Vereinheitlichungsprozess zugunsten der Kapitalherrschaft sehr wohl gestoppt werden kann, wenn sich ihm die Mehrheit der Bevölkerung in den Mitgliedsstaaten entgegenstellt.

Anmerkungen
  1. Ohne Erweiterung wäre alles viel schlechter, Interview mit Günter Verheugen, in Süddeutsche Zeitung vom 13. Juni 2005
  2. Zur Debatte über die Möglichkeit, auch in Deutschland eine Volksabstimmung über den Verfassungsvertrag durchzuführen, vgl. Andreas Wehr: Das Publikum verlässt den Saal. Nach dem Verfassungsvertrag: Die EU in der Krise, PapyRossa Verlag, Köln 2006, S. 95 ff.
  3. Vgl. dazu Andreas Wehr: Verbriefte Hegemonie, jW vom 1.11.2014, sowie Andreas Wehr: Europa ohne Demokratie? Die europäische Verfassungsdebatte – Bilanz, Kritik und Alternativen, PapyRossa Verlag, Köln 2004, S. 39 ff.
  4. Joachim Schild: Ein Sieg der Angst – das gescheiterte französische Verfassungsreferendum, in Integration 3/2005 , S. 190 f.
  5. Gespräch über das Referendum in Luxemburg am 10. Juli 2005, in Andreas Wehr: Das Publikum verlässt den Saal, a. a. O., S. 147
  6. Gespräch mit Erik Meijer über das Referendum in den Niederlanden am 1. Juni 2005, in Andreas Wehr: Das Publikum verlässt den Saal, a. a. O., S. 136
* Aus: junge Welt, Freitag, 29. Mai 2015

Lesen Sie auch:

Die Verfassung ist (schein)tot – Die Militarisierung schreitet voran
Von Peter Strutynski (28. August 2006)

Vgl. Sie bitte auch unser Dossier zur EU-Verfassung




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