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Auf dem Weg zur EU-Armee: Vereint marschieren

Von Sabine Lösing und Jürgen Wagner (Teil I und II)

Von Sabine Lösing und Jürgen Wagner *

Lange war von ihr nichts zu hören gewesen. Aber kürzlich hat Jean-Claude Juncker der Idee neues Leben eingehaucht. In einem Anfang März in der Welt am Sonntag veröffentlichten Interview sprach sich der EU-Kommissionspräsident für den Aufbau einer EU-Armee aus. Neu ist das Vorhaben indes nicht. Zu Recht gilt die Entscheidung zur Aufstellung der mittlerweile einsatzbereiten schnellen Eingreiftruppe im Jahr 1999 als eigentliche »Geburtsstunde« der Militarisierung der Europäischen Union. Um eine EU-Armee handelt es sich dabei deshalb aber noch lange nicht, sondern um einen nicht stehenden Verbund, der modular aus einzelstaatlichen Truppen zusammengesetzt ist, die sich weiter unter nationaler Kontrolle befinden. Obwohl die EU von einer »Vereinigten Armee von Europa« aktuell noch weit entfernt ist, reichen die Pläne für deren Aufbau bis in die frühen 1950er Jahre zurück.

Seither werden sie in schöner Regelmäßigkeit aus der Mottenkiste geholt, zuletzt von Juncker, dem schnell andere Politiker, besonders aus Deutschland, beisprangen. Dahinter steckt das Kalkül, nur im Verbund ließe sich die militärische – und damit auch die machtpolitische – Schlagkraft der Europäischen Union auf das Niveau ihrer Wirtschaftskraft hieven. So schreibt Karl-Heinz Kamp von der »Bundesakademie für Sicherheitspolitik«: »Eine auf diese Weise verstärkte Europäische Union würde in der künftigen multipolaren Welt einen ernst zu nehmen ›Pol‹ bilden, der neben wirtschaftlichem auch militärischen Einfluss geltend machen könnte.«[1]

Genau aus diesem Grund wurde mit ersten Schritten in diese Richtung auch schon vor einiger Zeit begonnen, wofür im Prinzip zwei sehr unterschiedliche Optionen zur Verfügung stehen. Entweder wird eine echte Europäisierung (»Vergemeinschaftung« oder »Supranationalisierung«) verfolgt, indem Kompetenzen weg von den Nationalstaaten hin zur EU-Kommission und dem EU-Parlament verlagert werden, wie dies etwa im Wirtschaftsbereich bereits in weiten Teilen der Fall ist. Oder es wird eine Stärkung des Europäischen Rates präferiert, in dem die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer das Sagen haben (»Intergouvernementalisierung«).[2]

Eine derzeit ausgesprochen prominent diskutierte Maßnahme zum Ausbau der Militärkooperation nennt sich »Pooling und Sharing« (P&S), die gemeinsame Bündelung und Nutzung militärischer Güter. Sie zeigt, dass die Staaten keineswegs bereit sind, die Entscheidung, ob, wie und zu welchem Zweck Soldaten oder Rüstungsgüter eingesetzt werden, pauschal an Brüssel abzutreten. Statt dessen achten die Mitgliedsländer sorgsam darauf, auch in Zukunft in allen wesentlichen Fragen der sogenannten Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) die Zügel fest in der Hand zu behalten. Deshalb geht es primär darum, die Effizienz zu steigern und Kosten zu reduzieren. Allerdings soll dies selbstredend nicht zu einer Verkleinerung des Rüstungsbudgets führen, sondern zu einer Vergrößerung der militärischen Kapazitäten.

»Dass wir es ernst meinen«

Kommissionschef Juncker lieferte in dem genannten Interview mit der Welt am Sonntag ein ganzes Bündel an Begründungen, weshalb eine EU-Armee wünschenswert sei: »Eine solche Armee würde uns helfen, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten und die Verantwortung Europas in der Welt wahrzunehmen. […] Eine europäische Armee hat man nicht, um sie sofort einzusetzen. Aber eine gemeinsame Armee der Europäer würde Russland den klaren Eindruck vermitteln, dass wir es ernst meinen mit der Verteidigung der europäischen Werte. […] Im übrigen würde eine europäische Armee zu einer intensiven Zusammenarbeit bei der Entwicklung und beim Kauf von militärischem Gerät führen und erhebliche Einsparungen bringen.«

Der Verweis auf Russland soll hier augenscheinlich den nötigen Alarmismus erzeugen, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Viel interessanter ist dagegen Junckers Äußerung, eine solche Armee sei generell von großem Nutzen, und zwar unabhängig davon, ob sie überhaupt eingesetzt wird. Hier reproduziert der EU-Kommissionschef die innerhalb der Eliten omnipräsente Vorstellung, dass der weltpolitische Einfluss eines Landes (oder eines Staatenverbundes) eng mit dessen militärischer Schlagkraft zusammenhängt. So schrieb etwa Jürgen Dreifke vom Bundeswehr-Reservistenverband schon 2012: »Europa hat das Potential als globaler Akteur aufzutreten, spricht aber noch nicht wirklich mit einer Stimme und kann seine politischen und militärischen Ressourcen nicht gebündelt in die Weltpolitik einbringen. Europa wird sich in einer Welt mit zahlreichen neuen aufstrebenden Machtzentren behaupten müssen und kann sich nicht andauernd auf die USA verlassen, die zur Zeit einen weit höheren Anteil an der gemeinsamen Sicherheit finanzieren als zu Zeiten des Kalten Krieges.«[3]

Folgt man dieser Auffassung, dann ist ein Zuwachs an militärischer Macht allein deshalb schon erstrebenswert, weil er mit der Vergrößerung des eigenen Einflusses einhergeht. Insofern wird es als besonders misslich erachtet, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis im Militärbereich erheblich zu wünschen übrig lässt: »Derzeit umfassen die Verteidigungshaushalte der EU immerhin fast 200 Milliarden Euro – die Fähigkeiten der EU-Streitkräfte entsprechen aber nur 10 bis 15 Prozent der Leistungsfähigkeit des amerikanischen Militärs.«[4] Und genau hier soll die Intensivierung der europäischen Rüstungskooperation Abhilfe schaffen.

»Unbefriedigende Situation«

Ausgangspunkt der meisten aktuellen Debatten über die EU-Militärpolitik ist der kleinteilige europäische Rüstungssektor, der sich auf viele Länder und Betriebe verteilt und der als Ursache der attestierten Ineffizienz identifiziert wird. So argumentierte etwa Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel in einer Grundsatzrede vom 8. Oktober 2014: »Die Verteidigungsindustrie in der EU ist nach wie vor national ausgerichtet und stark fragmentiert. Europa leistet sich den ›Luxus‹ zahlreicher Programme für gepanzerte Fahrzeuge, den intensiven Wettstreit zwischen drei Kampfflugzeugen und eine starke Konkurrenz z. B. im U-Boot-Bereich. […] Folgen dieser unbefriedigenden Situation sind hohe Kosten und nachteilige Folgen für den internationalen Wettbewerb, aber auch negative Auswirkungen für die Streitkräfte. Die Bundesregierung muss daher nach meiner Meinung verstärkt auf eine europäische Zusammenarbeit bis hin zum Zusammengehen von in einzelnen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen setzen.«[5]

Wie Gabriel andeutet, soll dieser Zustand mittels einer Bündelung im Rüstungssektor (»Konsolidierung«) behoben werden. Die bislang aus manchen der 28 Einzelarmeen mit häufig vollkommen unterschiedlicher Ausrüstung modular oder ad hoc zusammengesetzten EU-Einheiten sollen sukzessive durch einen Ausbau der Militärkooperation in immer mehr Teilbereichen durch stehende gemeinsame Truppenteile mit gemeinsamen Stäben und einheitlicher Bewaffnung ersetzt werden. Auf der einen Seite soll dies eine deutlich höhere Interoperabilität zwischen den nationalstaatlichen Teilstreitkräften gewährleisten: Einheitliche Standards und einheitliches Gerät sollen helfen, die militärischen Fähigkeiten deutlich zu erhöhen. Andererseits erhofft man sich von einem Ausbau der Rüstungskooperation auch einen weiteren Mehrwert. Und genau hier setzt Junckers zweites Argument in seinem Plädoyer für eine EU-Armee an: beim Geld. Denn von derart gebündelten Kräften verspricht man sich eine erhebliche Kostenreduzierung in den Bereichen Anschaffung, Betrieb und Wartung militärischen Geräts. Das Ganze ergibt dann deutlich mehr Militärmacht als die Summe seiner Teile, so die Argumentation.

»Zersplitterter Markt«

Seit einiger Zeit überbieten sich die Verfasser diverser Studien mit ihren Prognosen geradezu dabei, welche Summen durch einen Ausbau der Rüstungszusammenarbeit eingespart werden könnten. Unter anderem die Consulter von McKinsey beschäftigten sich hiermit. »Laut einer neuen Studie verschwenden die EU-Staaten durch den zersplitterten Markt für Rüstungsgüter viel Geld. Darin rechnen die Berater von McKinsey vor, dass sich die EU-Staaten sechsmal so viele unterschiedliche Waffensysteme leisten wie die USA, obwohl ihre Wehretats zusammengerechnet nur 40 Prozent des US-Budgets ausmachen. So betrieben die europäischen Armeen 14 unterschiedliche Kampfpanzer, die US Army nur einen, die Europäer 16 verschiedene Kampfjets, die Amerikaner nur sechs. […] Langfristig könnten die Staaten demnach rund 30 Prozent sparen, wenn sie bei der Rüstungsbeschaffung enger zusammenrückten. Bei gesamten Rüstungsausgaben von 43 Milliarden Euro im Jahr 2012 wären das immerhin 13 Milliarden.« (Handelsblatt online, 26.6.2013)

Noch »optimistischer« zeigten sich die Autoren einer Studie des wissenschaftlichen Dienstes des EU-Parlaments namens »Cost of Non-Europe Report«. Bei Spiegel online hieß es dazu am 8. Dezember 2013: »73 Prozent der Beschaffungsvorhaben würden bis heute nicht europaweit ausgeschrieben. ›Zusammenarbeit bleibt die Ausnahme‹, urteilen die Experten. Die daraus entstehenden Mehrkosten sind immens. Laut Bericht belaufen sie sich auf mindestens 26 Milliarden Euro pro Jahr. Maximal könnten sich die verschwendeten Steuergelder sogar auf 130 Milliarden Euro jährlich summieren. Im Jahr 2012 gaben die EU-Staaten rund 190 Milliarden für Rüstung aus.«

Ausgerechnet diese absurd hohen Zahlen wurden dann u.a. von einer Expertengruppe zum Aufbau einer EU-Armee unter Leitung des ehemaligen EU-Außenbeauftragten Javier Solana aufgegriffen, die ihre Studie nahezu parallel als Begleitmusik zu den Vorschlägen von Juncker veröffentlichte.[6] Auch der Pressesprecher des Kommissionspräsidenten, Margaritis Schinas, gab an, durch die stärkere »Zusammenarbeit bei der Entwicklung und beim Kauf von militärischem Gerät«, also mit Pooling und Sharing, könnten Kostensenkungen in dieser Größenordnung erreicht werden: »Wir haben Studien, die zeigen, dass wir bis zu 100 oder 120 Milliarden Euro pro Jahr einsparen können« (Euractiv, 10.3.2015)

»Chronisch unterentwickelt«

Lange dümpelte die europaweite Rüstungszusammenarbeit vor sich hin. Erst in jüngster Zeit gewinnen Überlegungen in diesem Bereich wieder an Gewicht, und zwar vor dem Hintergrund wachsender Sorgen um die künftige militärische Handlungsfähigkeit. Ausgangspunkt ist hier die Rede von angeblich drastischen Einschnitten bei den Rüstungshaushalten der Mitgliedsländer. Tatsächlich fallen diese bei weitem nicht so dramatisch aus, wie das Gejammer von Politik, Militär und Rüstungsindustrie nahelegt. Letzteres bildet aber den Grund, weitreichende Maßnahmen zu fordern. Ganz oben auf der diesbezüglichen Agenda rangiert Pooling und Sharing, wie ein Papier der regierungsnahen »Stiftung Wissenschaft und Politik« (SWP) von 2012 verdeutlicht: »Europa verliert die Fähigkeit, jenseits seiner Grenzen militärisch zu handeln. […] Die chronisch unterentwickelten militärischen Fähigkeiten drohen weiter zu verkümmern: als Folge der Finanzkrise schrumpfen die Verteidigungsapparate rasant […]. In den verteidigungspolitischen Kommuniqués von NATO und EU gilt Pooling und Sharing (P&S) derzeit als technokratische Wunderwaffe gegen drohende militärische Handlungsunfähigkeit.«[7]

Der erste wesentliche Impuls zur Intensivierung von Pooling und Sharing ging von der deutsch-schwedischen Gent-Initiative aus, deren Vorschläge der Europäische Rat am 9. Dezember 2010 billigte. In seinen Schlussfolgerungen bezeichnete der Rat schon damals die intensivierte Zusammenarbeit im Rüstungsbereich als unerlässlichen »Kräftemultiplikator« und forderte die Mitgliedsstaaten dazu auf, in diese Richtung verstärkte Anstrengungen zu unternehmen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der strikt intergouvernementale Charakter von P&S, da es allein die Staaten (und nicht etwa EU-Kommission oder EU-Parlament) sind, die hier das Sagen haben: »Pooling ist die dauerhafte Bereitstellung nationaler Fähigkeiten zur Verwendung durch eine multinationale Struktur, bei der die Entscheidungshoheit beim jeweiligen Mitgliedsstaat verbleibt […] Sharing ist die temporäre Zurverfügungstellung nationaler Fähigkeiten in einem multinationalen Kontext, ohne dass hierfür ein Verwendungsmechanismus geschaffen wird. Auch hier behalten die Mitgliedsstaaten die Entscheidungshoheit und bestimmen, unter welchen Bedingungen die Verwendung der Fähigkeiten stattfindet (z.B. EU-Battlegroup).«[8]

Nachdem es vor diesem Hintergrund an den Ländern war, in einem ersten Durchgang 300 mögliche P&S-Projekte vorzuschlagen, wurden diese durch den EU-Militärstab zunächst auf 40 und in einer weiteren Runde 2012 dann auf 13 Initiativen reduziert. Am 19. November 2012 wurde ferner ein Verhaltenskodex (Code of Conduct) verabschiedet, dessen Zweck der damalige Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Christian Schmidt, folgendermaßen zusammenfasste: »Dieser Verhaltenskodex enthält eine starke politische Selbstverpflichtung der Mitgliedsstaaten, die multinationale Kooperation stärker und von Anfang an in ihre nationalen Planungen einzubeziehen und möglichst zur bevorzugten Methode im Bereich der Fähigkeitsentwicklung zu machen.«[9]

»Gemeinsame Streitmacht«

In einem weiteren Schritt verabschiedete der Europäische Rat im November 2014 ein »Policy Framework for Systematic and Long-Term Defence Cooperation« und nahm die Neufassung des »Plans zur Fähigkeitsentwicklung« (»Capability Development Plan«) an, in dem 16 Prioritäten angesichts von »Fähigkeitslücken« festgelegt wurden, die bevorzugt über Militärkooperationen geschlossen werden sollen. Auf dem anstehenden Rüstungsgipfel im Juni 2015 soll die Intensivierung von Pooling und Sharing erneut weit oben auf der Agenda stehen. So dürfte dabei der besonders originelle, wohl erstmals im Dezember 2013 von der damaligen EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton unterbreitete Vorschlag eine Rolle spielen, transeuropäische Beschaffungsprojekte generell von der Mehrwertsteuer zu befreien.

Dieser Vorschlag wurde u. a. – explizit mit Blick auf den kommenden Rüstungsgipfel – auch im »Entwurf eines Berichts über die Umsetzung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« des französischen Konservativen Arnaud Danjean aufgegriffen, der augenblicklich im Europäischen Parlament die Runde macht. Darin heißt es: »Das Europäische Parlament […] ist verwundert darüber, dass auf europäischer Ebene noch immer keine Möglichkeiten finanzieller Anreize für die Zusammenarbeit und Kräftebündelung bestehen; verweist auf den Aufruf des Rats im Dezember 2013, solche Möglichkeiten auszuloten und bedauert, dass nach einem Jahr die Diskussionen noch zu keiner konkreten Maßnahme in diesem Bereich geführt haben; merkt an, dass die belgische Regierung bereits spontan zugestimmt hat, Ausnahmen von Mehrwertsteuer in Vorbereitungsphasen bestimmter Projekte […] zu genehmigen; findet, dass diese Ausnahmen systematisch auf Infrastruktur und konkrete kapazitive Programme erweitert werden sollten«.[10]

Zuletzt wurde am 30. März 2015 u. a. von Deutschland eine Reihe von Vorschlägen zum weiteren Ausbau der Militärzusammenarbeit vorgelegt. Die Wunschliste umfasst neben anderem die »Beauftragung und Mitgestaltung einer neuen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitischen Strategie« sowie die »Vorbereitung der EU-Battlegroups auf den Einsatz für Eintrittsoperationen«. Unscheinbar hört sich zunächst die Bitte nach einer »Unterstützung bei der Umsetzung der vorbereitenden Maßnahme als Grundlage für Forschungsprogramme im Zusammenhang mit der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« an. Dabei geht es aber um nicht weniger als die grundsätzliche Möglichkeit, EU-Haushaltsgelder für militärrelevante Bereiche zu nutzen – was aber bisher fast unmöglich ist.[11]

Die entscheidende Frage, die sich hier stellt, lautet, ob mit all diesen Versuchen, Teile des EU-Militärbereichs miteinander zu verbinden, nicht schon mehr oder weniger unbemerkt der Nukleus einer künftigen EU-Armee geschaffen wird. Dies ist zumindest die Interpretation von Karl-Heinz Kamp von der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, wenn er schreibt: Es »ergibt sich der Gedanke einer gemeinsamen Streitmacht nahezu automatisch, wenn man den Gedanken des ›Pooling and Sharing‹ – also der Bündelung der vorhandenen militärischen Fähigkeiten – zu Ende führt.«[12]

Während eine solche Entwicklung von Deutschland favorisiert wird, kristallisiert sich allerdings immer deutlicher heraus, dass eine wachsende Zahl der anderen EU-Mitgliedsstaaten dem zunehmend ablehnend gegenübersteht, worauf im zweiten Teil dieses Artikels eingegangen werden wird. Der Grund dafür liegt nicht darin, dass mit Pooling und Sharing die nationalen Parlamente weitgehend entmachtet werden sollen. Eher spielt da schon das von Deutschland propagierte »Rahmennationskonzept« eine Rolle, das – vollkommen zu Recht – auf erbitterten Widerstand der kleineren Mitgliedsländer stößt. Vor allem aber bremsen Großbritannien und auch Frankreich, da beide zunehmend die Sorge umtreibt, durch diese Initiativen könnte nach der Wirtschafts- auch die Militärpolitik unter die Fuchtel »Deutsch-Europas« geraten.

"Germanische Macht"

(Auf dem Weg zur EU-Armee: Teil II und Schluss): Eine gemeinsame europäische Streitkraft wäre vor allem im Interesse der Bundesrepublik. Andere Mitgliedsstaaten stellen sich deshalb quer

In den europäischen Chefetagen herrscht über den machtpolitischen Mehrwert einer verstärkten europäischen Militärzusammenarbeit grundsätzlich Einigkeit. Weitgehend unstrittig ist ebenso, dass hierfür »Pooling und Sharing« (P&S), die gemeinsame Anschaffung und Nutzung von Militärgerät, eines der wichtigsten Projekte darstellt, das es voranzutreiben gilt. In Kombination mit einer zweiten zentralen Initiative, dem Konzept von den »Rahmennationen«, soll dies eine mehrfache Machtkonzentration zur Folge haben: Die Regierungen der Nationalstaaten sollen sowohl gegenüber den nationalen Parlamenten als auch gegenüber EU-Kommission und EU-Parlament gestärkt werden, wobei dies lediglich für die großen Mitgliedsländer gelten soll, während den kleinen und mittleren EU-Ländern der Platz am Katzentisch zugewiesen wird.

Eine »Europäisierung» des Militärbereichs, also die Kompetenzverlagerung an EU-Kommission und EU-Parlament unterbleibt damit nahezu vollständig. Obwohl die BRD diese Initiativen voll mitträgt und häufig sogar angestoßen hat, deutet derzeit viel darauf hin, dass sie als Führungsmacht zu weitergehenden Schritten in Richtung einer EU-Armee bereit wäre. Der Grund liegt darin, dass Berlin in den letzten Jahren erfolgreich die Schaltzentralen in Brüssel unter seine Kontrolle gebracht hat. Überspitzt formuliert wäre eine »Europäisierung« gleichbedeutend mit einer »Germanisierung« im Militärbereich, und genau deshalb bremsen Großbritannien und zunehmend auch Frankreich sämtliche Bestrebungen in diese Richtung aus.

Entmachtung der Parlamente

Es ist zwar mehr als fraglich, ob sich die teils auf bis zu 120 Milliarden Euro geschätzten jährlichen Einsparpotentiale durch P&S auch nur ansatzweise realisieren lassen werden. Ganz unabhängig davon ist die Initiative aber auch noch aus einem vollkommen anderen Grund überaus attraktiv: Aktuell dient sie als wichtigstes Argument, um nationale parlamentarische Befugnisse ein für allemal auszuhebeln. Der eigentliche Haken an P&S ist die Frage der demokratischen Kontrolle über gemeinsame und geteilte Militärkapazitäten. Denn die nationalen Parlamente verfügen in einigen EU-Ländern, unter anderem auch hierzulande, (noch) über erhebliche Mitspracherechte, insbesondere was die Zustimmung zu Auslandseinsätzen anbelangt.

Dabei ist natürlich ein Szenario, in dem der Bundestag einen von der Regierung befürworteten Einsatz kippen würde, nur schwer vorstellbar. Und auch das Tempo, mit dem angeblich eine Entscheidung herbeigeführt werden muss, ist lediglich ein vorgeschobenes Argument: »Niemals war die Beteiligung des Parlamentes ein Hindernis«, versicherte denn auch Hans-Peter Bartels (SPD), der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, am 14. März 2014 in einer Rede vor dem Bundestag. Dennoch hat der Parlamentsvorbehalt eine überaus wichtige Funktion: Er zwingt dazu, über den Sinn bzw. Unsinn von Militäreinsätzen öffentlich zu verhandeln und ein Mindestmaß an Rechenschaft darüber abzulegen. Genau hier ergibt sich aus der Debatte um P&S ein militaristischer »Kollateralnutzen«. Denn damit, so das Argument, dürfe es nicht mehr passieren, dass der Bundestag – und sei es nur theoretisch – dem Einsatz von gemeinsam angeschafftem und/oder genutztem Militärgerät die Zustimmung versagen könnte. Dieser Mangel an »Verlässlichkeit« sei der wesentliche Stolperstein, der deshalb aus dem Weg geräumt werden müsse, damit P&S vorankomme.

So heißt es in einem »Positionspapier zur Europäisierung der Streitkräfte« der SPD-Bundestagsfraktion von Ende 2014: »Wer eine europäische Armee anstrebt, muss für seine Partner berechenbar und verlässlich sein. […] Einige Fähigkeiten sind redundant in den Streitkräften der EU vorhanden, andere sind interdependent, d.h. diese sind in der EU/NATO nur einmal vorhanden und die beteiligten Nationen sind aufeinander angewiesen, um sie zur Wirkung bringen zu können. Für solche Fähigkeiten könnte der Ausstieg nur eines beteiligten Partners den Einsatz unmöglich machen. Es sind jedoch Prozesse mit einem Höchstmaß an Verlässlichkeit notwendig.«

Wie in Deutschland die Parlamentsbeteiligung am »besten« reformiert werden könnte, damit beschäftigt sich derzeit eine Kommission unter Leitung des ehemaligen Verteidigungsministers Volker Rühe die in absehbarer Zeit ihre Vorschläge präsentieren will. Wohin die Reise geht, zeichnet sich bereits seit einiger Zeit ab. Der Tagesspiegel schrieb in seiner Ausgabe vom 21. März 2015: »Noch muss der Bundestag bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr zustimmen. Eine Europäische Armee könnte das ändern. ›Es kann sein, dass wir das deutsche Recht ändern müssen‹, sagt die Verteidigungsministerin. […] Mit den Konsequenzen aus der Europäisierung nationaler Streitkräfte, unter anderem für den Parlamentsvorbehalt, befasst sich in Deutschland die ›Rühe-Kommission‹, die nach dem früheren Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) benannt ist. Sie soll im Frühsommer ihren Bericht vorlegen. Ihr Mitglied Roderich Kiesewetter (CDU) sagt: ›Niederländer und Polen wären schwer enttäuscht, wenn ein von ihnen gewünschter Einsatz gemeinsamer Einheiten am Bundestag scheitert. Wer integrierte Streitkräfte aufbaut, erwartet Verlässlichkeit – sie von uns und wir von ihnen.‹«

Ein Abbau nationaler Kontrollmöglichkeiten ist grundsätzlich abzulehnen. Dies gilt umso mehr dann, wenn gleichzeitig keine Stärkung des EU-Parlaments erfolgt, das derzeit in der Außen und Sicherheitspolitik faktisch nichts zu sagen hat. Seine diesbezüglichen »Kompetenzen« finden sich in Artikel 36 des EU-Vertrags, in dem es heißt, die Abgeordneten würden »gehört« und darüber »unterrichtet«, was sich im Militärbereich abspielt, sie dürften auch »Anfragen oder Empfehlungen« an den Rat richten, aber mitnichten entscheiden bzw. mitreden. Nichts deutet aktuell darauf hin, dass irgend jemand ernsthaft beabsichtigt, an diesem Zustand etwas zu ändern und das EU-Parlament mit substantiellen Befugnissen auszustatten. Demzufolge soll also alles darauf hinauslaufen, die nationalen Parlamente zugunsten der Regierungen zu entmachten, die sich so maximale Befugnisse in Fragen der europäischen Militärpolitik verschaffen wollen.

Die »Rahmennationen«

Neben P&S ist aktuell vor allem auch das Rahmennationskonzept von Bedeutung, dessen Kern, die Aufstellung und Organisation multinationaler Truppenverbände, allerdings alles andere als neu ist. Schon im November 1987 wurde zum Beispiel die Deutsch-Französische Brigade ins Leben gerufen, die 1993 dem 60.000 Mann starken Eurokorps unterstellt wurde. Ein weiteres prominentes Beispiel sind die 2004 beschlossenen EU-Battlegroups, auch wenn diese multinationalen schnellen Eingreiftruppen mit etwa 1.500 Soldaten jeweils nur für ein halbes Jahr aufgestellt werden. Darüber hinaus gibt es zahlreiche multinationale Verbände, häufig allerdings basierend auf einer Kooperation kleinerer EU-Staaten. Doch genau diese »Patchworkrealität« wird in der Bundeswehr augenscheinlich kritisch betrachtet. Claudia Major, stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik an der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), stellte dazu 2011 fest: »In der Praxis kooperieren die europäischen Streitkräfte jedoch vor allem partiell, wie etwa Belgien und die Niederlande im Marinebereich.« Die Europäische Verteidigungsagentur liste derzeit 80 verschiedene Projekte auf. Diese glichen in der Summe einem »Flickenteppich« und seien nur »wenig auf europäischer Ebene abgestimmt«.[13]

Mit dem Argument, Kooperationsprojekte müssten künftig systematischer ablaufen, bewirbt Deutschland seit 2013 das Konzept der »Rahmennationen«. Die SWP beschreibt die Kernelemente des Vorhabens folgendermaßen: »Die Idee ist, dass kleinere Armeen ihre wenigen verbliebenen Fähigkeiten an eine große Rahmennation andocken, die das organisatorische Rückgrat bildet. […] Dem Konzept zufolge sollen die Europäer Cluster bilden: Gruppen aus kleineren und größeren Staaten sollen sich künftig intensiver darüber absprechen, wer dauerhaft welche Geräte und Truppen bereithält. Die Führung des Clusters übernimmt jeweils die ›Rahmennation‹. Diese bringt vor allem die militärische Grundausstattung in die Kooperation ein, also Logistik, Führungseinrichtungen etc. An dieses Rückgrat docken die kleineren Armeen ihre Spezialfähigkeiten an, etwa Luftabwehr oder Pioniere.«

Dies hat natürlich seinen Preis: »Die Großen müssen das Funktionieren des Rahmens politisch, militärisch und finanziell langfristig in Aussicht stellen können. Im Gegenzug werden sie politische Führung beanspruchen. […] Die Umsetzung des Konzepts liefe darauf hinaus, dass sich die europäischen Staaten militärisch um die wenigen großen Länder organisieren, die bis auf weiteres ein breites Fähigkeitsspektrum vorhalten werden, also Deutschland, Frankreich, Großbritannien, vielleicht auch Italien und die Türkei.« Auffällig abwesend in dieser Aufzählung ist etwa ein Land wie Polen, das über beachtliche militärische Fähigkeiten verfügt, dennoch werde Warschau dem SWP-Papier zufolge mit dem Rahmennationskonzept »faktisch abhängig von der Sicherheitspolitik Berlins.«[14]

Es dürfte daher nicht weiter verwundern, dass sich in Ländern wie Polen keine Begeisterung breit macht. So wird in einem Beitrag des polnischen »Centre for Eastern Studies« nicht mit Kritik gespart: »Sollte das deutsche Rahmennationskonzept voll umfänglich implementiert werden, könnten die kleineren Partner des deutschen Clusters langfristig militärisch und damit auch politisch von den deutschen militärischen und politischen Entscheidungen abhängig werden. […] Jedenfalls haben die deutschen Ideen wenig mit einer europäischen Armee zu tun, die als eine supranationale Struktur nach Vorbild nationaler Armeen verstanden wird und über deren Einsatz die EU-Kommission oder der Rat entscheidet, möglicherweise mit dem Europäischen Parlament als koentscheidendes Gremium.«[15]

Souveränitätsverluste

In der Tat beschleicht die kleinen und mittleren EU-Länder völlig zu Recht die Sorge, bei wesentlichen Entscheidungen zur europäischen Militärpolitik künftig über wenig bis gar keine Mitspracherechte mehr zu verfügen. Ihre Skepsis bezüglich der aktuellen Pläne zur EU-Militärkooperation ist also vollkommen nachvollziehbar. Traditionell tun sich Staaten mit einer Einschränkung oder Verringerung ihrer Hoheitsrechte in diesem hochsensiblen Bereich extrem schwer. Weshalb, begründet Heinz Gärtner, Direktor des »Österreichischen Instituts für Internationale Politik« in der österreichischen Tageszeitung Die Presse vom 30.3.2015: »Denkbar ist für Gärtner eine EU-Armee nur, wenn sich Europa in Richtung eines Bundesstaates entwickelt, mit einer gemeinsamen Regierung und mit dem Gewaltmonopol auf europäischer Ebene. Dann könne es auch eine europäische Armee mit einer Kommandozentrale in Brüssel geben. Ob das die EU-Länder wollen, sei allerdings fraglich: ›Denn dann fällt die Entscheidung über Leben und Tod in Brüssel.‹«

Der erneute Vorstoß des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker zum Aufbau einer EU-Armee vom März dieses Jahres erfreute sich in der BRD allerdings quer durch das politische Spektrum großer Beliebtheit. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und auch Kanzlerin Angela Merkel (beide CDU) begrüßten den Vorstoß ebenso wie der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Hans-Peter Bartels, und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (beide SPD). Als eine »hervorragende Idee« bezeichnete auch der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour die jüngste EU-Armee-Initiative. Dem Vorhaben stünden allerdings einige »Elefanten« im Weg. Eine EU-Armee sei unrealistisch, »solange es nicht eine europäische Außenpolitik gibt« (Spiegel online, 9.3.2015).

Der Grund, weshalb eine »Europäisierung« des Rüstungsbereiches augenscheinlich präferiert wird, dürfte darin liegen, dass dies als der »effizienteste« Weg zur Steigerung der militärischen Schlagkraft erachtet wird: »Intergouvernementale Zusammenarbeit bedeutet eine vertiefte Zusammenarbeit der EU-Staaten, ohne jedoch eine mit Souveränitätsabgabe verbundene Integration zu vollziehen. Es wäre die Fortsetzung der bislang eingeschlagenen Zusammenarbeit auf EU-Ebene. Beispiele dafür sind die schnellen Krisenreaktionsverbände der EU, die multilateralen EU-Battlegroups (EUBG). Sie könnten bis zu einem gewissen Grade als Nukleus einer europäischen Armee fungieren, denn hier haben die EU-Staaten in begrenztem Rahmen eine intensive Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen, etwa Führungsfähigkeit, geübt. Da jedoch Wehrrecht, Ausrüstung oder ähnliches nicht europäisiert sind, können die EUBG nicht als Blaupause für eine EU-Armee dienen. Die EUBG zeigen zudem, dass die intergouvernementale Zusammenarbeit in Sachen Effektivität und Effizienz schnell an ihre Grenzen stößt und zudem nur sehr langsam Ergebnisse zeitigt. Allerdings ist es die von den EU-Staaten derzeit einzig akzeptierte Zusammenarbeitsform im militärischen Bereich.«[16]

Ginge es also um reine Effizienzerwägungen, müsste mit der bisherigen Praxis der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit zugunsten zielgerichteter Maßnahmen in Richtung einer EU-Armee gebrochen werden. Hierfür wäre jedoch wohl zumindest eine Verständigung unter den drei ökonomisch stärksten EU-Mitgliedsstaaten erforderlich, wovon man aktuell allerdings meilenweit entfernt ist. An dieser Stelle drängt sich deshalb eine letzte zentrale Frage förmlich auf: Weshalb legen deutsche Entscheidungsträger mehr Bereitschaft an den Tag, Kompetenzen in Sachen Krieg und Frieden an Brüssel abzutreten, als dies bei ihren Kollegen in Frankreich und Großbritannien augenscheinlich der Fall ist?

Brüssel steht drauf, Berlin ist drin

Nicht zuletzt in London und Paris dürfte es bleibenden Eindruck hinterlassen haben, auf welch ruppige Art und Weise die Bundesregierung im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise ihre Fähigkeit und ihre Bereitschaft unter Beweis gestellt hat, ihren Willen in diesem Bereich gegen andere EU-Länder durchzusetzen. Hinzu kommen die teils offen artikulierten Forderungen nach einem »deutschen Europa« und die Tatsache, dass heutzutage dort, wo »Brüssel« draufsteht, häufig »Berlin« drin ist: »Brüssel wird heute stärker von deutschen Interessen und Strategien geprägt denn je. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat Deutschland die Schlüsselposten in den EU-Institutionen erobert und Strukturen geprägt, die auch die selbstbewusste Juncker-Kommission binden. Europa spricht heute nicht nur deutsch, wie CDU-General Volker Kauder schon 2011 proklamierte. Es denkt und handelt mittlerweile auch deutsch, nach in Deutschland geprägten Modellen und Regeln. […] Insgesamt hat es die Bundesregierung verstanden, sich in den EU-Institutionen eine zentrale Rolle zu sichern. Die alte Klage über einen ›profranzösischen Bias‹ in Brüssel hat sich erledigt; die deutsche Personalpolitik hat ganze Arbeit geleistet. Fast alle strategisch wichtigen Positionen werden heute von Deutschen besetzt, was verständlicherweise nicht überall auf Begeisterung stößt. Der britische Economist machte sich über die ›teutonische Union‹ lustig und die französische Libération warf Merkel vor, im Alleingang das ›Casting‹ zu bestimmen.«[17]

Hans-Gert Pöttering gab schon 2011 die Marschrichtung vor: »Die Schuldenkrise in einigen EU-Ländern macht noch einmal offenkundig, was längst hätte klar sein müssen: Von einer gemeinsamen Währung profitieren alle, und daher müssen sich auch alle an die Spielregeln, an die vertraglichen Grundlagen der Währungsunion halten. […] In der Finanz- und Wirtschaftspolitik haben die Eurostaaten entscheidende nationale Kompetenzen schon an die supranationale Ebene übertragen. Es ist an der Zeit, dies auch im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu wagen.«[18]

Angesichts der deutschen Vorherrschaft in der EU und solcher Töne hält sich aktuell sogar der Enthusiasmus für strikt intergouvernementale Maßnahmen in Grenzen, ganz zu schweigen von einer Bereitschaft, substantielle Kompetenzen im Militärbereich an die supranationale Ebene zu übertragen. So äußerte sich etwa der britische Premier David Cameron zu Junckers Vorschlägen: »Unsere Position ist absolut klar. Für die Verteidigung sind konkrete Staaten und nicht die Europäische Union zuständig.« (Sputnik, 10.3.2015)

Und selbst aus Frankreich kommen eher zurückhaltende Töne und zwar wohl aus nicht gänzlich anderen Gründen. Schon einmal, 1954, versenkte die französische Nationalversammlung mit dem Pleven-Plan zum Aufbau einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) ein ähnliches Vorhaben. Louis Terrenoire, der damalige Generalsekretär der Gaullisten, hatte den Plan ein Jahr vor seinem Scheitern folgendermaßen kritisiert: »Acht Jahre nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus sind die diplomatischen Bestandteile der germanischen Macht wiederhergestellt. Wenn die europäischen Integrationspläne, vor allem die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, verwirklicht werden sollten, wird künftig über die deutsche Vorherrschaft kein Zweifel mehr möglich sein.« (Der Spiegel, Nr. 38/1953)

Anmerkungen
  1. Kamp, Karl-Heinz: Die Europa-Armee: Pro und Kontra, Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Arbeitspapier zur Sicherheitspolitik, Nummer 4/2015, S. 3
  2. Major, Claudia: Legitimation und Umrisse einer Europa-Armee, Reader Sicherheitspolitik, 2011. Der Reader Sicherheitspolitik erscheint im Auftrag des Bundesministers der Verteidigung und des Generalinspekteurs der Bundeswehr im Rahmen der Truppeninformation. readersipo.de
  3. Dreifke, Jürgen: Europäische Armee – Vision oder Illusion?, Beitrag zum sicherheitspolitischen Kreisseminar in der Akademie Biggesee 6.–7.10.2012, S. 30
  4. Kamp 2015, S. 2
  5. Rede von Bundesminister Gabriel zu den Grundsätzen deutscher Rüstungsexportpolitik, Berlin, 08.10.2014
  6. More Union in European Defence, Report of a CEPS Task Force, February 2015
  7. Mölling, Christian: Pooling und Sharing in EU und NATO, SWP-Aktuell, Mai 2012, S. 1
  8. Algieri, Franco u.a.: Pooling & Sharing im Rahmen der Europäischen Union, in: Felberbauer, Ernst M./Pfarr, Dietmar (Hg.): Pooling & Sharing und Smart Defense. Herausforderungen für Streitkräfte im 21. Jahrhundert, Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie Österreich, Wien, Januar 2013, S. 13–34, S. 14
  9. Schmidt, Christian: Perspektiven der EDA, Kommentar Onlineauftritt Behördenspiegel, Februar 2013
  10. Entwurf eines Berichts über die Umsetzung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (nach dem Jahresbericht des Rates an das Europäische Parlament zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik), Brüssel, 16.12.2014, Absatz 28
  11. Gemeinsame Presseerklärung im Anschluss an das Treffen der Verteidigungsminister des Weimarer Dreiecks, BMVg, Presse- und Informationsstab, Potsdam, 30.3.2015
  12. Kamp 2015, S. 2
  13. Major, Claudia: Legitimation und Umrisse einer Europa-Armee, Reader Sicherheitspolitik 2011. Der Reader Sicherheitspolitik erscheint online im Auftrag des Bundesministers der Verteidigung und des Generalinspekteurs der Bundeswehr im Rahmen der Truppeninformation. Siehe readersipo.de
  14. Major, Claudia, Mölling, Christian: Das Rahmennationen-Konzept. Deutschlands Beitrag, damit Europa verteidigungsfähig bleibt, SWP-Aktuell, November 2014
  15. Gotkowska, Justyna: Germany’s idea of a European army, OSW (Centre for Eastern Studies) 25.3.2015
  16. Major 2011
  17. Bonse, Eric: Europa tickt deutsch, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/2015, S. 5–8
  18. Kaldrack, Gerd F./Pöttering, Hans-Gert: Vorwort, in: dies. (Hg.): Eine einsatzfähige Armee für Europa. Zur Zukunft der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach Lissabon, Wiesbaden 2011, S. 7–9, S. 7
Sabine Lösing ist Mitglied des Europaparlaments und dort für die Fraktion Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke im Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung. Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen.

* Beide Teile erschienen in: junge Welt, Samstag, 9. Mai, und Montag, 11. Mai 2015



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