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Europa als Volkshochschule

Hintergrund. Warum Oskar Negts "Gesellschaftsentwurf" als politischer Kompaß für die Linke nicht taugt

Von Thomas Wagner *

Wenn ein linker Philosoph wie Oskar Negt (geb. 1934) ein Buch zur Zukunft der Europäischen Union publiziert, verdient das schon deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil die reelle Chance besteht, daß hier ein Intellektueller endlich einmal die soziale Frage in den Mittelpunkt der von bürgerlichen Interessen dominierten Diskussion stellt. Tatsächlich sorgt sich der Autor, der sich nie in Spezialprobleme seines Faches verrannt hat und immer auf enge Tuchfühlung mit den Gewerkschaften bedacht war, in »Gesellschaftsentwurf Europa. Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen« (Göttingen 2012) vor allem darum, daß der Sozialstaat als Fundament jeder demokratischen Entwicklung in Europa nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit erhält und die Einigung in Verruf gerät, weil »im verengten Horizont der mit diesem epochalen Projekt Beschäftigten die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Menschen in den einzelnen Ländern nicht vorkommen« (ebd., S.6).

Soziale Frage

Die Eliten trügen mit ihren neoliberalen Politikvorschlägen zur Lösung dieser Probleme nichts bei, und selbst ein Jürgen Habermas verliere in seinem jüngsten Buch (»Zur Verfassung Europas. Ein Essay«, Berlin 2011) »kein Wort über die Bedeutung des Sozialstaats für die europäische Integration« (»Gesellschaftsentwurf Europa«, S. 17f). Dabei sei es fraglich, »ob es für einen spanischen Jugendlichen, der hochqualifiziert ist und dennoch keinen Arbeitsplatz findet, überhaupt einen Unterschied macht, wer seine Lebensperspektiven verengt: die Brüsseler Behörde oder die Sozialämter des eigenen Staates« (ebd., S. 18). Daß er diese schlichte Wahrheit ausspricht und damit einen deutlichen Gegenakzent zum Europadiskurs der Eliten setzt, ist Negt erst einmal zugute zu halten.

Wenn er darüber hinaus die Arbeitslosigkeit als einen nicht hinzunehmenden Gewaltakt beschreibt, die Verschleierung zentraler gesellschaftlicher Probleme in den üblichen Talkshowrunden anprangert, die Rationalisierungsmaßnahmen nach Maßgabe privater Profitmaximierungsvorgaben als Belastung der Allgemeinheit kenntlich macht, auf die Bekämpfung innergesellschaftlicher Spaltungstendenzen orientiert und schließlich sogar darauf beharrt, daß diejenigen, »die aktiv an der kollektiven Wertschöpfung beteiligt sind, über die Resultate dieser Wertschöpfung auch demokratische Verfügungsrechte besitzen« (ebd., S.28) sollen, dann fällt es einem Linken leicht, seiner Argumentation zu folgen. Zumal noch hinzukommt, daß sich der Autor im Unterschied beispielsweise zu Habermas nicht in den Spezialsprachen des akademischen Elfenbeinturms verliert, sondern mit einigem Erfolg darum bemüht ist, ein verständliches Deutsch zu schreiben.

Dennoch stellt sich die Frage, ob Negts Stellungnahme tatsächlich jene dringend notwendige Argumentationshilfe für die demokratischen Kräfte ist, die sie dem eigenen Anspruch nach sein will und dem ersten Anschein nach auch zu sein scheint. Vorsicht ist vor allem deshalb geboten, weil der textkundige Interpret der Schriften von Immanuel Kant und Karl Marx schon in der Vergangenheit immer wieder eine ganze Menge gut klingender Ideen vorgestellt hat, ohne daß ihn das davor bewahrte, noch in reifem Alter als kritischer Intellektueller auf der ganzen Linie zu versagen. Als die Regierung Gerhard Schröder/Joseph Fischer den neoliberalen Abriß des Sozialstaats in einem vorher kaum vorstellbaren Ausmaß vorantrieb, war Negt ihr intellektuelles Feigenblatt. Wie aber konnte es dazu kommen? An dieser Stelle lohnt der Blick auf Negts Werdegang.

Schröders Vorzeigeintellektueller

Seit den fünfziger Jahren war der stets an Fragen der Arbeiterbildung interessierte Philosoph Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), wurde als solches aus der SPD ausgeschlossen, gehörte 1968 dann zu den Wortführern der Außerparlamentarischen Opposition und geriet damals mit Jürgen Habermas aneinander, als dieser die rebellierenden Studenten mit dem wenig schmeichelhaften und unzutreffenden Etikett des »linken Faschismus« versah.

In den siebziger Jahren setzte sich Negt tatkräftig für eine Demokratisierung der Schulen ein und begann eine langjährige Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge, aus dem die lesenswerten gemeinsamen Bücher »Öffentlichkeit und Erfahrung« (1972) und »Geschichte und Eigensinn« (1981), »Maßverhältnisse des Politischen« (1992) sowie zahlreiche Fernsehdialoge hervorgingen. In den neunziger Jahren gehörte er mit dem ehemaligen niedersächsischen Kultusminister Peter von Oertzen (1924–2008) zu den Mitbegründern der Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftler, machte sich als linker Sozialdemokrat ohne Parteibuch aber auch für den SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder bei der Bundestagswahl 1998 stark, zu dessen Hannoveraner Freundeskreis er gehörte und den er während seiner Amtszeit offensichtlich ohne großen Erfolg sozialphilosophisch beriet.

Obwohl er Schröders Hartz-»Reformen« später als eine Katastrophe für die SPD bezeichnete, weil sie einen Bruch mit ihrer Gerechtigkeitstradition bedeuteten, kann man Negt von einer Mitverantwortung für den fatalen Kurs der Parteiführung nicht ganz freisprechen. Allzu lange hatte er es vermieden, sich von der Politik eines Kanzlers zu distanzieren, der links blinkte, um schlußendlich unter größtmöglichem Verlust an Glaubwürdigkeit nach rechts abzubiegen. »Es war meine Hoffnung, das Gespräch zu suchen und ihn zu überzeugen. Jedenfalls habe ich offiziell nie etwas anderes gesagt als privat. Aber ein Bundeskanzler neigt wohl immer zu den Tatsachenmenschen und nicht zu denen, die in Abwägung von Vernunft und Wirklichkeit mit Hegel sagen, umso schlimmer für die Tatsachen«, erklärte er dem Spiegel (9.8.2010). Nach Ansicht eines prominenten linken Sozialdemokraten kam Negts Distanzierung von der neoliberal vergifteten Sozialpolitik der Regierung Schröder viel zu spät. Leider habe er sich nicht zu Wort gemeldet, »als 1999 mit dem Wechsel von Lafontaine zu Eichel und dann vollends mit der Agenda 2010 im Winter/Frühjahr 2003 das Wahlprogramm der SPD verlassen und auf den Kopf gestellt wurde«, schreibt Albrecht Müller auf seinem Internetportal Nachdenkseiten. Negt gehöre zu jenen »Pseudolinken«, die von einem anderen System träumten, dabei aber »die Hände in den Schoß« legten und »deshalb die tatsächlich stattfindende Systemänderung weg von der Sozialstaatlichkeit untätig« hinnähmen: »Wenn Oskar Negt seinem Freund Gerhard Schröder rechtzeitig signalisiert hätte, mit ihm seien die Agenda 2010 und Hartz I–IV nicht zu machen, dann hätte sich dies Schröder jedenfalls noch einmal etwas genauer überlegt. So hatte er ja mit Oskar Negt immer seinen Vorzeigeintellektuellen.«

Mangelndes Urteilsvermögen

Zu den Leitmotiven der politischen Philosophie Negts gehört ganz sicher der Gedanke, daß für die politische Befreiung kollektive Lernprozesse unverzichtbar sind. Das ist in der Theorie leicht einzusehen. Aber wie schwierig sich solche Lernprozesse im konkreten Fall gestalten können, das zeigt Negts eigener Umgang mit der Schröder-Episode. Zwar sah er schließlich ein, auf das falsche Pferd gesetzt zu haben. Doch ließ er die Chance ungenutzt, einmal am eigenen Fall zu demonstrieren, wie einer jener politischen Lernprozesse aussehen könnte, deren Notwendigkeit er in seinen Büchern ja nicht zu unrecht unablässig betont. Statt also seine schmerzhafte Erfahrung mit der Macht zum Ausgangspunkt seiner intellektuellen Anstrengungen zu machen, schrieb er eine Reihe von Büchern, die in gewohnter Weise eine Reihe von diskussionswürdigen Ideen und Vorschlägen enthalten. Obwohl bisher keine Anzeichen dafür zu erkennen sind, daß die SPD in absehbarer Zukunft ihren ungebrochen neoliberalen Kurs aufgeben könnte, begriff sich Negt nach wie vor als ihr Vordenker und erwies sich damit als Lernverweiger auf höchstem akademischen Niveau.

Das blieb nicht ohne Folgen. Immer dann, wenn er die Gelegenheit hatte, seine politische Urteilskraft in der Bewertung aktueller Vorgänge öffentlich zu demonstrieren, erwies sich der Philosoph als erstaunlich unvermögend. In unschöner Regelmäßigkeit zeichneten sich seine politischen Interventionen auch nach der SPD-Grünen-Katatstrophe dadurch aus, daß sie Überlegungen, die auf der abstrakten Ebene zutreffen mochten, mit Äußerungen verbanden, die in der konkreten Situation als politisch dumm bezeichnet werden müssen. So ließ Negt kaum eine Gelegenheit aus, um zu versuchen, die neu gegründete und im Aufbau befindliche Partei Die Linke zu beschädigen. Damit schwächte er jene politischen Kräfte in der Gesellschaft, die er mit seinen Büchern doch eigentlich zu stärken beabsichtigt. Es macht eben einen Unterschied, ob man Oskar Lafontaine für mißglückte Wahlkampfäußerungen scharf kritisiert, oder ob man ihn, wie Negt es in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit (23.6.2005) tat, als einen »vormals Linken« tituliert, dessen Forderungen »einen rechtsradikalen Kern« enthielten, der an Carl Schmitt und an Rechtspopulisten »von Haider über Blocher bis Le Pen« erinnerten. Negt agierte damals wie ein vom Willy-Brandt-Haus ins Feld geschickter Parteisoldat der SPD und machte sich zudem zum Stichwortgeber all jener Medienvertreter, die darum bemüht waren, die Etablierung einer bundesweit wirksamen linken Partei schon im Ansatz zu verhindern.

Bei diesem einen Ausrutscher blieb es nicht. Als sich die Parteispitze der Linken wenige Jahre später, nach dem überraschenden Rücktritt Horst Köhlers, aus nachvollziehbaren Überlegungen dazu entschied, den in beinahe allen relevanten Politikfeldern reaktionären ehemaligen Stasi-Beauftragten Joachim Gauck als gemeinsamen Kandidaten der Opposition nicht mitzutragen und stattdessen mit der Bundestagsabgeordneten Luc Jochimsen eine respektable, dem sozialen Gedanken und dem Frieden verpflichtete eigene Kandidatin gegen Christian Wulff (CDU) ins Rennen schickte, fehlte Negt dafür jedes Verständnis. »Eine Linkspartei, die bei der Wahl des Bundespräsidenten durch Enthaltung dem Kandidaten der Konservativen zum Sieg verhilft - ich bitte Sie, da ist die pure Borniertheit am Werk«, verriet er dem Spiegel (9.8.2010). Wenn es darauf ankommt, erweist sich der Sozialphilosoph als verläßlicher Parteigänger der SPD, selbst wenn sich die Partei noch so weit von sozialdemokratischen Positionen entfernt. Auch profunde Kenntnisse der Klassiker helfen anscheinend nicht weiter, wenn die notwendige politische Urteilskraft nicht vorhanden ist. Das gilt für Fragen der nationalstaatlichen Innenpolitik und ist in Sachen Europa nicht anders.

Gerechtigkeit als Bildungsauftrag

Dabei hat Negt einen entscheidenden Faktor in der Nachkriegsgeschichte durchaus erkannt: »Es sind die sozialstaatlichen Errungenschaften, die den europäischen Demokratien ihre Stabilität verliehen haben; Humanisierung der Arbeitsverhältnisse, Verkürzung der Arbeitszeit und Verlängerung der Lebenszeit, Sicherung der Renten und der allgemeinen Gesundheitsversorgung. All diese und viele andere Fakten haben entscheidend dazu beigetragen, daß die Demokratie als Lebensform so lange Bestand hat – über ein halbes Jahrhundert.« (»Gesellschaftsentwurf Europa«, S. 14) Zu recht erinnert er daran, daß der Sozialstaat unmittelbar nach dem Untergang des Nazifaschismus als Grundpfeiler einer demokratischen Entwicklung gedacht war. »Nie wieder sollten die wirtschaftlich Mächtigen ohne demokratische Kontrollen ihre Macht gebrauchen und mißbrauchen können! Die sozialstaatlichen Errungenschaften wurden daher nicht nur als Solidarbeiträge für die in Not geratenen Menschen betrachtet, sondern als tragende Pfeiler rechtsstaatlicher und demokratischer Aufbauprinzipien der Gesellschaft.« (ebd., S 13)

Gerade weil er aber in der Erweiterung und Pflege sozialstaatlicher Errungenschaften die unverzichtbaren Grundlagen für den Rechtsstaat und die Demokratie erkennt und ihre neoliberale Plünderung, die mit der Aufblähung des Sicherheitsstaates einhergeht, entschieden verwirft, ist Negts Antwort auf den Klassenkampf von oben enttäuschend. Denn nicht die Frage der Organisation einer politischen Gegenmacht, etwa die, wie aus einer politisch noch unverbundenen »Klasse an sich« eine handlungsfähige »Klasse für sich« werden kann, steht im Mittelpunkt seiner Überlegungen, sondern das allgemeiner gefaßte Problem einer Bewußtseinsbildung für das Soziale, ohne die keine solidarische Ökonomie entstehen könne, »die Ausgleichsbewegungen zwischen Schwachen und Starken möglich macht« (ebd., S. 7).

Negt will die soziale Demokratie in Europa daher auf dem Wege der Erwachsenenbildung ins Werk setzen. Erziehung, Lernen, Bildung, Gesundheitspflege »sind die eigentlichen Investitionsposten der Gesellschaft, von denen alles abhängt, was wir mit den Begriffen Bürgergesellschaft oder Zivilgesellschaft oder Demokratie verknüpfen« (ebd., S. 86). Um die für die Bildung einer tragfähigen Gemeinschaft unverzichtbare Erinnerungs- und Gedächtniskultur auf den Weg zu bringen und das politische Urteilsvermögen der Europäer zu stärken, fordert Negt die staatlichen Akteure dazu auf, »Pflichtinstitutionen für Erwachsenenbildung zu schaffen« (ebd, S. 88).

Was ist nun aber davon zu halten? Allein über die verstärkte Förderung politischer Bildungseinrichtungen, die zweifellos wünschenswert ist, läßt sich die forcierte Umverteilung von oben nach unten und erst recht die Überwindung des Kapitalismus durch eine wirklich demokratische und solidarische Gesellschaft sicher nicht realisieren.

Achillesferse Antikommunismus

Zwar hat Negt durchaus recht, wenn er die Weiterentwicklung des Sozialstaates als ein wesentliches Element im Prozeß der europäischen Einigung erkennt und dieser nur dann Erfolgsaussichten bescheinigen will, »wenn sie von unten gestützt wird, wenn sie ein soziales Fundament hat« (ebd., S. 19). Doch reicht die sicherlich auch notwendige soziale Herzensbildung der Menschen ganz gewiß nicht aus, um die dafür notwendige Machtbasis herzustellen. Ohne politische Bewußtseinsbildung, das heißt, die Verbreitung der Einsicht in die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfs für eine konsequente Umverteilung des gesellschaftlich erzeugten Reichtums von oben nach unten und schließlich für die Ausdehnung des Demokratieprinzips auf den Bereich der Güterproduktion und der Dienstleistungen, liefe die von Negt geforderte soziale Bewußtseinsbildung auf nicht viel mehr hinaus als auf eine Verbreiterung der Grundlagen privater Wohltätigkeit, wie sie aus den USA seit langem bekannt ist.

Was also not tut, ist der Aufbau von wirksamen politischen Kampforganisationen und Bündnissen, die innerhalb der bestehenden Nationalstaaten und auf europäischer Ebene alle Möglichkeiten nutzen, um die Klassenmachtverhältnisse so zu verändern, daß ein soziales Europa keine bloße Idee bleibt, sondern real erzwungen, den Herrschenden abgetrotzt werden kann. Man kann Negt nicht unterstellen, daß er um die Bedeutung der Gewerkschaften in den anstehenden Auseinandersetzungen nicht wüßte. Deshalb fordert er auf der einen Seite zu recht, daß sie »angesichts Millionen Armer, Ausgebeuteter, Kranker viel stärker ihr gesamtgesellschaftliches Mandat wahrnehmen« (ebd., S. 81) müßten. Doch was ist damit gemeint, wenn er von ihnen verlangt, daß sie »ihren Interessenbegriff deutlicher auf den Lebenszusammenhang der Menschen richten, der ja nicht nur durch den Arbeitsplatz definiert« (ebd.) sei? Wie weit reicht eigentlich sein Anspruch, die Gesellschaft zu demokratisieren, wenn er die in den realsozialistischen Staaten gemachten Erfahrungen mit der Planwirtschaft nicht etwa kritisch auswerten will, sondern in schlechter Kalter-Kriegs-Manier in Bausch und Bogen als autoritäres Teufelszeug verdammt. »Der planwirtschaftliche Kollektivismus als ein großes Wahngebilde ist aus sich heraus zusammengebrochen; es ist dessen eigene Irrationalität gewesen, die das bewirkte. Das ist gut, und es war überfällig« (ebd., S. 70), schreibt ein Mann, auf dessen Urteil viele Linke nach wie vor großen Wert legen.

Imperiale Identität

Statt die Fehler, Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten demokratischer Planung zu erörtern und auf diesem Wege einen neuen Anlauf zum Sozialismus vorzubereiten, versucht er, eine sachbezogene und konstruktive Diskussion durch pure Polemik zu verhindern. Das ist ein schwerer politischer Fehler, der auch durch Negts Bekenntnis zu den Traditionen der Genossenschaftsbewegung nicht wettgemacht wird. »Ein kollektives Gedächtnis zu bewahren für diese Sozialexperimente, ist meines Erachtens von größter Wichtigkeit auch für die Gegenwart.« (ebd.) Die selbst von einst führenden Sozialpolitikern der CDU heute eingestandene Wahrheit, daß die pure Existenz des sozialistischen Machtblocks einen wichtigen Beitrag zur Verschiebung der Klassenmachtverhältnisse zugunsten der abhängig Beschäftigten in den kapitalistischen Staaten Westeuropas und damit mittelbar zur Etablierung eines beachtlichen Sozialstaats leistete, läßt Negt bei seinen Überlegungen gänzlich unberücksichtigt.

Das mag auch daran liegen, daß er sich nicht »auf Felder der Außenpolitik begeben« (ebd., S. 63) will, für die er sich »nicht kompetent fühle« (ebd.), was an sich schon ein Armutszeugnis für einen Denker ist, der aus einer Bewegung kommt, die immer schon internationalistisch orientiert war. Die Frage, ob es sich bei der EU um ein imperialistisches Projekt handeln könnte, wird von Negt daher gar nicht erst gestellt. Aber bekanntlich kehrt das, was einer verdrängt, nicht selten auf eine gänzlich unerwartete Weise wieder. So enthält der von ihm propagierte Gesellschaftsentwurf Europa auch eine Aufgabenbestimmung für die postulierte politische Bildung. Neben der Vermittlung des Sozialstaatsgedankens und der Perspektive einer umfassenden gesellschaftlichen Demokratisierung (unter Ausklammerung der Systemfrage) zielt diese auf die Herausbildung einer europäischen Identität, »die vergleichbar wäre mit der eines US-Amerikaners oder in der Vergangenheit der einer Vollbürgerin des Römischen Reiches (ebd., S. 98f). Was die Bürger eines künftig vereinten Europas verbinden soll, ist also eine Identität nach dem Vorbild eines klassischen und eines modernen Imperiums.

* Aus: junge Welt, Freitag, 28. September 2012


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