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"EU-Gipfel brachte weitere Militarisierung der EU-Verfassung"

Friedenswerkstatt Linz hat den neuen Verfassungstext mit dem bisherigen Entwurf verglichen

Im Folgenden dokumentieren wir eine Kurzanalyse des auf dem letzten EU-Gipfel verabschiedeten Verfassungstextes, welche die Friedenswerkstatt Linz in ihrem jüngsten Rundmail verschickt hat. Sie enthält interessante Hinweise darauf, dass in Sachen Militarisierung keine Entwarnung zu geben ist - eher das Gegenteil.


Beim EU-Gipfel in Brüssel am 17./18. Juni sind nicht nur die Abstimmungsmodalitäten überarbeitet worden, es sind auch substantielle inhaltliche Veränderungen gegenüber dem Originalentwurf vorgenommen worden, die den Charakter der EU-Verfassung als Militärverfassung weiter verschärfen. Vor allem zwei Punkte müssen hier erwähnt werden:
  1. Die Einrichtung einer expliziten militärischen Beistandsverpflichtung
  2. Das Protokoll über die sog. „Ständige strukturierte Zusammenarbeit“, d. h. Bildung des militärischen „Kerneuropas“
Einrichtung einer militärischen Beistandsverpflichtung

Art. I-40 Abs. 7
Im Altentwurf war zwar auch bereits die sog. „engere Zusammenarbeit im Bereich der gegenseitigen Verteidigung“ vorgesehen. Das war eine militärische Beistandsverpflichtung, jener die es wollten, also freiwillig. Das ist nun in eine für alle verbindliche Beistandsverpflichtung umgewandelt worden. Wörtlich heißt es im Art. I-40 Abs. 7 nun:
„Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates müssen die anderen Mitgliedstaaten gemäß Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehenden Hilfe und Unterstützung leisten. Die lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.“

Bemerkenswerterweise ist diese EU-Beistandsverpflichtung härter als etwa die NATO-Beistandsverpflichtung, die es den NATO-Staaten überlässt, in welcher Form sie Beistand geleistet (Art. 5 des NATO-Vertrags). Der letzte Satz könnte zwar noch als Möglichkeit zur Wahrung der Neutralität interpretiert werden, wird aber mit Sicherheit von der Regierung über den „Kriegsermächtigungsartikel“ 23f etc. weggedrückt, wenn es zum militärischen Ernstfall kommt. Dieser neutralitätswidrige Artikel 23f ermöglicht die Teilnahme Österreichs an weltweiten EU-Militäraktionen. Wer es mit der Verteidigung der Neutralität ernst meint, müsste die sofortige Streichung des Artikel 23f verlangen. Gerade aber die Befürworter der EU-Verfassung – von Plattner, Voggenhuber, Gusenbauer bis Haubner – tun gerade das nicht. Zudem verpflichtet die EU-Verfassung die Mitgliedstaaten "die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität" zu unterstützen. (Art. 15 (1)).

Die Strukturierte Zusammenarbeit

Beim EU-Gipfel Mitte Juni wurde ein "Protokoll über die ständige strukturierte Zusammenarbeit" eingefügt. Dieses Protokoll erläutert detailliert den Aufbau des militärischen "Kerneuropas", also jener Gruppe von Staaten, die "anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen (Militärmissionen, Anm.d.Red.) mit höchsten Anforderungen untereinander festere Verpflichtungen eingegegangen sind." (Art.I-40 (6). Wörtlich heißt es in diesem Protokoll unter anderem:

„Artikel 1

An der ständigen strukturierten Zusammenarbeit gemäß Artikel I-40 Absatz 6 der Verfassung kann jeder Mitgliedstaat teilnehmen, der sich ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags über eine Verfassung für Europa verpflichtet,

a) seine Verteidigungsfähigkeiten durch Ausbau seiner nationalen Beiträge und gegebenenfalls durch Beteiligung an multinationalen Streitkräften, an den wichtigsten europäischen Ausrüstungsprogrammen und an der Tätigkeit des Europäischen Amtes für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten (nachstehend „Amt“) intensiver zu entwickeln und

b) spätestens 2007 über die Fähigkeit zu verfügen, entweder als nationales Kontingent oder als Teil von multinationalen Truppenverbänden bewaffnete Einheiten bereitzustellen, die auf die in Aussicht genommenen Missionen ausgerichtet sind, taktisch als Kampftruppen konzipiert sind, über Unterstützung unter anderem für Transport und Logistik verfügen und fähig sind, innerhalb von 5 bis 30 Tagen Missionen nach Artikel III-210 aufzunehmen, um insbesondere Ersuchen der Organisation der Vereinten Nationen nachzukommen, und diese Missionen für eine Dauer von zunächst 30 Tagen, die bis auf 120 Tage ausgedehnt werden kann, aufrechtzuerhalten.

Artikel 2

Die an der SSZ teilnehmenden Mitgliedstaaten verpflichten sich zwecks Erreichung der in Artikel 1 aufgeführten Ziele zu

a) einer Zusammenarbeit ab dem Inkrafttreten des Vertrags über eine Verfassung für Europa zur Verwirklichung der vereinbarten Ziele für die Höhe der Investitionsausgaben für Verteidigungsgüter und zur regelmäßigen Überprüfung dieser Ziele im Lichte des Sicherheitsumfelds und der internationalen Verantwortung der Union;

b) einer möglichst weit gehenden Angleichung ihres Verteidigungsinstrumentariums, indem sie insbesondere die Ermittlung der militärischen Erfordernisse harmonisieren, ihre Verteidigungsmittel und –fähigkeiten gemeinsam nutzen und gegebenenfalls spezialisieren sowie die Zusammenarbeit auf den Gebieten Ausbildung und Logistik stärken;

c) konkreten Maßnahmen zur Stärkung der Verfügbarkeit, der Interoperabilität, der Flexibilität und der Verlegefähigkeit ihrer Truppen insbesondere, indem sie gemeinsame Ziele für die Entsendung von Streitkräften aufstellen und gegebenenfalls ihre nationalen Beschlussfassungsverfahren überprüfen (z. B. Eliminierung von Parlamentsvorbehalten, Anm. d.Red.)

d) einer Zusammenarbeit mit dem Ziel, dass sie die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um u.a. durch multinationale Konzepte und unbeschadet der sie betreffenden Verpflichtungen innerhalb der NATO die im Rahmen des „Mechanismus zur Entwicklung der Fähigkeiten“ festgestellten Lücken zu schließen;

e) einer eventuellen Mitwirkung an der Entwicklung gemeinsamer oder europäischer Programme für wichtige Güter im Rahmen des (Rüstungs-)Amtes.

Artikel 3

Das (Rüstungs-)Amt trägt zur regelmäßigen Evaluierung der Beiträge der teilnehmenden Mitgliedstaaten zu den Fähigkeiten bei, insbesondere der Beiträge nach den in erster Linie auf der Grundlage von Artikel 2 aufgestellten Kriterien, und erstattet hierüber mindestens einmal jährlich Bericht. Die Evaluierung kann als Grundlage für die Empfehlungen sowie für die Beschlüsse des Rates dienen, die gemäß Artikel III-213 der Verfassung erlassen werden.“


Militärische Führungsstruktur in der EU

Wir müssen davon ausgehen, dass die SSZ zum eigentlichen Machtzentrum der EU werden wird. Interessanterweise werden Teil der EU-Verfassung – wie eben die Herausbildung der SSZ, aber auch die Schaffung eines diplomatischen Dienstes für den EU-Außenminister – bereits jetzt in Angriff genommen, obwohl die EU-Verfassung noch nicht ratifiziert ist. Die SSZ soll bis 2007 stehen, obwohl der EU-Vertrag erst ab 2009 in Kraft treten soll. Das ist eine offene Verletzung der Rechtsstaatlichkeit. D. h. es werden einfach vollendete Fakten für den Fall geschaffen, dass die EU-Verfassung den Prozess der Ratifizierung in den EU-Staaten nicht übersteht. Wenn man das Protokoll zur SSZ und die anderen Passagen der EU-Verfassung anschaut, insbesondere den Artikel I-40 (Aufrüstungsverpflichtung, Rüstungssamt, globale Militärmissionen,...), dann erkennt man, dass sich mit der SSZ eine EU-Stuktur herausschält, die den Führungsanspruch des Militärisch-Industriellen-Komplexes in Verfassungsrang erhebt.

Der österreichische Verteidigungsminister Platter hat bereits angekündigt, dass Österreich bei der SSZ dabei sein will. Auch an den sog. EU-"Schlachtgruppen" (battle-groups), die bis 2007 für globale Einsätze zur Verfügung stehen sollen, sollen sich nach Wunsch der Regierung österreichische SoldatInnen beteiligen. Von den Oppositionsparteien im Parlament kommt kein Widerspruch. Es ist ein Skandal, dass sowohl Regierungs- als auch die parlamentarischen Oppositionsparteien eine Volksabstimmung über diese EU-Verfassung verweigern. Diese Verfassung, die eine regelrechte Militärverfassung ist, steht der österreichischen Verfassung, die mit der Neutralität eine Friedenspflicht beinhaltet, diametral entgegen. Selbst namhafte österreichische Rechtsexperten (Öhlinger, Mayer) halten mittlerweile eine Volksabstimmung für notwendig. Hand in Hand mit der Verweigerung einer Volksabstimmung geht die Verweigerung der Parlamentsparteien und der großen Medien über die Inhalte der Verfassung zu berichten.

Einen umfassenderen Überblick zur EU-Verfassung mit ausführlichen Originalzitaten finden sich in der Broschüre der Friedenswerkstatt:
„EU-Verfassung - Europa der Konzerne und Generäle"
Die EU-Verfassung aus der Sicht von Friedens-, Anti-Atom- und globalisierungskritischer Bewegung
2. Auflage, mit Beilageblatt zu den Änderungen des EU-Gipfels, 17./18. Juni 2004.
EUR 3,50 (exkl. Porto) in der Friedenswerkstatt Linz bestellt werden.

(Friedenswerkstatt Linz, Waltherstr. 15b, 4020 Linz, Tel. 0732/771094, email: friwe@servus.at)

Nähere Informationen zur EU-Verfassung auch unter www.friwe.at


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