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Bürgermitentscheidung nur auf dem Papier

EU-Regierungen gegen Volksabstimmungen über Reformvertrag

Von Saskia Jansens, André Anwar und Axel Reiserer *

Der EU-Reformvertrag, der auch mehr Bürgermitsprache fordert, ist unter Dach und Fach. Doch nun kommt für die meisten Regierungen die schwierigste Phase, die Ratifizierung. Die Stimmung ist in vielen Ländern EU-kritisch. In der Mehrzahl der Mitgliedstaaten sollen deshalb Volksabstimmungen vermieden werden.

Diesmal soll die Ratifizierung nicht misslingen und der neue EU-Vertrag nicht an einer Volksabstimmung in einem der 27 Mitgliedstaaten scheitern. Das ist jedenfalls der Wunsch der europäischen Regierungen. Die Bürger sehen das allerdings anders. Laut einer Umfrage der »Financial Times« wünscht sich eine Mehrheit in den fünf grossen EU-Ländern eine Volksabstimmung. In Deutschland, das seit dem Krieg noch nie eine nationale Abstimmung durchgeführt hat, sind es 76 Prozent, in Großbritannien 75, in Italien 72, in Spanien 65 und in Frankreich 63 Prozent.

Dennoch scheint die Strategie aufzugehen, die Bürger außen vor zu lassen. Die meisten Länder, die 2005 über die EU-Verfassung abgestimmt haben oder abstimmen wollten, sehen dieses Mal kein Referendum vor. Das einzige Land, in dem es mit Sicherheit eine Volksabstimmung über den EU-Vertrag geben wird, ist Irland. Die Zustimmung der Iren zum Reformabkommen gilt als sicher, die Iren sind bekanntlich europafreundlich. Keine führende Partei in Irland kämpft gegen den EU-Vertrag. Doch selbst wenn die Iren den EU-Vertrag ablehnen würden wie 2001 den Vertrag von Nizza, könnte dies die EU kaum aufhalten. Die Bewohner der grünen Insel müssten dann vielleicht »nachsitzen« wie 2002, als sie in einer zweiten Abstimmung zustimmten.

In einer solchen Weise könnte die EU mit den Briten nicht umgehen, falls diese mit Nein stimmen würden. Deshalb versucht der neue Premierminister Gordon Brown alles, eine Abstimmung über das Lissabonner Dokument zu verhindern. Doch der Druck wächst, eine Volksabstimmung auch im Königreich abzuhalten. Brown ist innenpolitisch zu geschwächt, um das Begehren einfach zu ignorieren. Noch behauptet die Regierung in London, ihr ursprüngliches Versprechen für ein Referendum habe nur für die beerdigte EU-Verfassung gegolten. Immer mehr Briten meinen aber nicht zu unrecht, der Vertrag und die Verfassung seien praktisch identisch. Weil für diesen Fall aber mit einem Nein der Briten gerechnet wird, will die Regierung den Vertrag nur dem Parlament zur Ratifizierung vorlegen.

Die beiden Nein-Sager von 2005 dürften diesmal der Urne fernbleiben: In Frankreich hat Präsident Nicolas Sarkozy bereits vor seiner Wahl klar gemacht, dass er keine Abstimmung über den neuen Vertrag abhalten wird. Gemäss Verfassung entscheidet er allein über die Durchführung eines Referendums. Allerdings braucht er dann eine Mehrheit von drei Fünfteln in der Nationalversammlung, um den EU-Vertrag zu ratifizieren. Die Stimmen seiner eigenen Partei, der UMP, reichen dafür nicht.

Etwas komplizierter ist die Situation bei den Niederländern. Die meisten Parteien der Opposition wollen das Volk an die Urne rufen. Dazu zählen EU-Gegner wie die rechtspopulistische Freiheitspartei und die Sozialisten ebenso wie die Grünen als EU-Befürworter. Der rechtsliberale VVD hat sich noch nicht entschieden. Doch eine Mehrheit bekämen die Referendumsbefürworter nur, wenn die Sozialdemokraten für eine Volksabstimmung votierten. Und das lehnen sie bisher ab. Die größte Regierungspartei, die Christdemokraten von Ministerpräsident Jan Peter Balkenende, hat sich gegen eine Abstimmung ausgesprochen.

Noch offen ist die Lage in Dänemark, das 1992 den Vertrag von Maastricht und vor sieben Jahren die Einführung des Euro abgelehnt hatte. Der liberale Regierungschef Anders Fogh Rasmussen will bislang kein Referendum. Laut einer Gallup-Umfrage wünschen die Dänen mehrheitlich eine Volksabstimmung – und lehnen mehrheitlich den Vertrag ab. Das Justizministerium muss überprüfen, ob der vorliegende EU-Entwurf die dänische Souveränität beeinträchtigt. In diesem Fall verlangt die Verfassung zwingend eine Volksabstimmung. Pia Christmas-Möller von den mitregierenden Konservativen fordert, dass die Dänen in jedem Fall abstimmen sollten.

Kein Thema sind Volksabstimmungen derzeit in Polen und Tschechien, die 2005 ebenfalls die Bürger zur EU-Verfassung befragen wollten. 2005 hatten insgesamt vier Länder abgestimmt. Spanien und Luxemburg votierten deutlich für den Verfassungsvertrag. Frankreich und die Niederlande lehnten ihn ab. Für die Annahme eines EU-Vertrages braucht es die Zustimmung aller Mitgliedsländer.

Chronik: Der Weg zum Lissabon-Vertrag

Der Vertrag von Lissabon gibt der Europäischen Union eine neue Rechtsgrundlage. An die Stelle der ursprünglich geplanten Verfassung tritt ein 256 Seiten umfassendes Dokument. Die Etappen bis Lissabon:
  • Rom 1957: Die BRD, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten unterzeichnen die Römischen Verträge zur Gründung von Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Europäischer Atomgemeinschaft EURATOM. Zehn Jahre später entstehen nach Fusion mit der Montanunion die Europäischen Gemeinschaften (EG).
  • Maastricht 1992: Der Vertrag von Maastricht begründet die Wirtschafts- und Währungsunion. In der Folge entstehen der europäische Binnenmarkt und die europäische Einheitswährung. Die EG wird in Europäische Union (EU) umbenannt.
  • Amsterdam 1997: Der Vertrag von Amsterdam verändert und ergänzt den Vertrag von Maastricht, scheitert aber in dem Vorhaben einer Reform der EU-Institutionen. Die Rechte des Europaparlaments werden gestärkt.
  • Nizza 2001: Mit dem Vertrag von Nizza wird der Startschuss für die Osterweiterung der EU gegeben, auch wenn der Vertrag hinter den Erwartungen an eine Reform der erweiterten Union zurückbleibt. Die Stimmrechte im Ministerrat werden neu festgelegt. Polen und Spanien erhalten fast ebenso viele Stimmen wie die vier größten Mitgliedsländer Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien.
  • Lissabon 2007: Laut Reformvertrag von Lissabon werden unter anderem EU-Beschlüsse erleichtert, indem in vielen Fällen der Zwang zur Einstimmigkeit wegfällt. Europäische Kommission und Europäisches Parlament werden verkleinert, die EU erhält einen Ratspräsidenten mit einer Amtszeit von zweieinhalb Jahren und einen Hohen Repräsentanten für die Außenpolitik. (AFP/ND)


* Aus: Neues Deutschland, 22. Oktober 2007


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