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Sozial statt liberal

Die EU-Verfassung steht seit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wieder auf der Tagesordnung. Worin liegen ihre Missstände und welche Grundzüge sollte ein alternativer Vertrag haben?

Von Gregor Schirmer *

Zur Zukunft der EU und ihrer Verfassung hat die »feierliche« Erklärung des Berliner Gipfeltreffens anläßlich des 50. Jahrestages der Römischen Verträge im März so gut wie nichts gebracht. Derweil handelt die deutsche Ratspräsidentschaft mit ihren Partnern hinter dem Rücken der Völker einen sogenannten Fahrplan aus, mit dem die »Substanz« des durchgefallenen Vertrags – womöglich unter einem weniger ambitionierten Namen – gerettet werden soll. Vieles deutet darauf hin, daß ein »abgespeckter« Vertrag vorgelegt werden soll. Das Ganze riecht nach einer Mogelpackung. Die deutsche EU-Präsidentschaft ist weder gewillt noch fähig, die Chance zu einem notwendigen Neuanfang im Verfassungsprozeß zu nutzen.

Gegen einen kürzeren Verfassungstext ist an sich nichts einzuwenden. Das fast 500 Druckseiten dicke Monstrum mit zwei Präambeln, 448 Artikeln, 38 Protokollen und Anhängen sowie 50 Erklärungen ist unzumutbar. Der Vertrag ist bürgerfern und nicht durchschaubar. Gestrichen werden muß der Teil III mit seinen 321 Artikeln über die Politikbereiche und die Arbeitsweise der Union, nicht nur weil die dort enthaltenen Detailregelungen nicht in eine Verfassung gehören, sondern vor allem, weil dort die unsoziale, neoliberale und militaristische Politik der Union im einzelnen verfassungsrechtlich festgezurrt werden soll. Aber auch der Teil I ist nicht akzeptabel.

Grundübel des alten Vertrags

Es geht nicht einfach um einen kürzeren Verfassungsvertrag, sondern um einen anderen, in dem die drei Grundübel ausgemerzt sind, die die »Substanz« des abgelehnten Vertrages ausmachen: Erstens wird der im Maastricht-Vertrag von 1992 festgelegte und seither immer schärfer praktizierte neoliberale Kurs eines Markt- und Wettbewerbsrigorismus mit Verfassungsrang festgeschrieben. Der »freie und unverfälschte Wettbewerb« wird schon im Teil I des Vertrags als Unionsziel deklariert. Im Teil III wird der »Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb« als Leitidee der Wirtschafts- und Währungspolitik aufgestellt und näher ausgeführt. Eine Sozialunion mit sozialen und ökologischen Mindeststandards und Schranken gegen Sozialdumping ist nicht vorgesehen.

Zweitens wird die Europäische Union auf einen militaristischen Kurs festgelegt. Der Verfassungsvertrag ermöglicht Kampfeinsätze außerhalb der Selbstverteidigung und ohne Mandat des Sicherheitsrats der UNO, also die Beteiligung der EU an völkerrechtswidrigen Kriegen. Er enthält keine strikte Friedenspflicht und kein klares Aggressionsverbot. Aufrüstung wird zur Verpflichtung der EU-Mitgliedstaaten erklärt (siehe jW-Themaseiten vom 7.4.2007).

Drittens verfestigt der Verfassungsvertrag trotz einiger Verbesserungen im Vergleich zu Nizza das strukturelle Demokratiedefizit der EU. Die Union selbst ist undemokratisch verfaßt, und ihre Spielregeln und Praktiken untergraben die ohnehin nicht sehr festen nationalstaatlichen Demokratien. Der Altbundespräsident Roman Herzog hat in der Welt am Sonntag vom 14. Januar konstatiert: »Die verfassungsmäßigen Kompetenzen der staatlichen Organe in den Mitgliedstaaten, vor allem der Parlamente wie des Bundestages, sind (...) einem substantiellen Aushöhlungsprozeß ausgesetzt«, und er hat die Frage gestellt, »ob man die Bundesrepublik Deutschland überhaupt noch uneingeschränkt als eine parlamentarische Demokratie bezeichnen kann«. Das war starker Tobak. Der derzeitige Bundestagspräsident Norbert Lammert wurde aufgeboten, um Herzog in der Welt-online vom 17. März zu widersprechen. Nach ihm gibt es in der Union kein Demokratiedefizit. Die »Balance« auf supranationaler Ebene und im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten sei »gelungen«. Aber gerade das ist nicht der Fall.

Grundrechte und Eigentumsfrage

Es kann keinen alternativen Verfassungsvertrag ohne einen aussagekräftigen und wirksamen Katalog der Grundrechte geben. Dazu muß die bisher unverbindliche Charta der Grundrechte der Union mit präzisierten und ergänzten Inhalten in die Verfassung aufgenommen und damit rechtsverbindlich gemacht werden. Vor allem die sozialen Rechte müssen erweitert werden. Es muß das Recht auf menschenwürdige und existenzsichernde Arbeit anstelle eines dubiosen »Rechts zu arbeiten« statuiert werden. Die Grundrechte auf soziale Sicherheit, auf Gesundheitsschutz, auf Zugang zu Dienstleistungen und auf Verbraucherschutz müssen zwingender formuliert werden.

Die Eigentumsfrage muß eindeutig geregelt werden. In Artikel III-425 des Verfassungsvertrags steht: »Die Verfassung läßt die Eigentums­ordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt.« Eine gleichlautende Bestimmung enthielten schon der Gründungsvertrag der Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957 und alle Nachfolgeverträge. Wird mit dieser Nichtzuständigkeitserklärung der EU die Neutralität der EU-Verfassung gegenüber den Eigentumsordnungen der Mitgliedstaaten und die freie Entscheidung der Mitgliedstaaten über ihre Eigentumsordnung gesichert? Wenn man den Zusammenhang mit anderen Bestimmungen des Verfassungsvertrags und die von der EU ausgelösten Privatisierungswellen beachtet, muß man diese Fragen verneinen.

Der »Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb« hebelt das Recht der Mitgliedstaaten zur freien Gestaltung ihrer Eigentumsordnung aus. Es muß klargestellt werden, daß keine Bestimmung der Verfassung und des sonstigen Gemeinschaftsrechts so ausgelegt und angewendet werden darf, als schlössen sie die Vergesellschaftung von Grund und Boden, von Naturressourcen und von einzelnen Wirtschaftsbereichen aus oder als verlangten oder begünstigten sie die Privatisierung bestehenden Gemeineigentums.

Der Artikel II-77 über das Eigentumsrecht in der Charta der Grundrechte der Union schützt das rechtmäßig erworbene Eigentum und erlaubt zugleich Enteignungen »aus Gründen des öffentlichen Interesses« nach Gesetz und gegen Entschädigung. Es fehlt die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Das ist kein zu vernachlässigender Schönheitsfehler, der durch postulierte soziale Ziele der EU kompensiert wird. Unter den Zielen der Union in Artikel I-3 wird der »soziale Fortschritt« von neoliberalen Zielen überlagert. Bei den Werten der Union in Artikel I-2 fehlt die Sozialstaatlichkeit. Artikel III-117 enthält eine vage Bestimmung, daß die Union in ihren Politiken »der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes (...) Rechnung« trägt. Ungenauer geht es nicht. In einer solchen Grundsatzfrage wie der des Eigentums ist jedoch Eindeutigkeit anstatt vager Floskeln geboten. Deshalb ist eine Ergänzung von Artikel II-77 nötig: »Eigentum verpflichtet. Die Verfügung über das Eigentum und seine Nutzung müssen auch sozialen Belangen, dem Umweltschutz und anderen Erfordernissen des Gemeinwohls entsprechen.« Die deutschen Linken müssen einer Verfassung die Zustimmung verweigern, die den Standard der Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes verläßt, den neoliberalen Kapitalismus zur Verfassungsnorm erhebt, eine andere Ordnung faktisch als verfassungswidrig denunziert. Die Linke sollte für eine Verfassung eintreten, die offen ist für eine Lösung der Eigentumsfrage in antikapitalistische und demokratisch-sozialistische Richtung.

Grenzen der EU-Macht

Im gescheiterten Verfassungsvertrag ist zwar richtig festgelegt, daß die Union nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung tätig wird. Das heißt, sie besitzt nur diejenigen Zuständigkeiten, die ihr die Mitgliedstaaten übertragen haben. Zuständigkeiten, die nicht ausdrücklich übertragen werden, verbleiben bei den Mitgliedstaaten. Die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten hat Vorrang. So weit, so gut.

Das Problem ist, daß die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten einerseits und der Union andererseits im gescheiterten Vertrag nur verschwommen und ungenau geregelt ist. Die verwendeten Begriffe sind vage und unterschiedlich auslegbar. Ein weites Feld für die Usurpation von Zuständigkeiten durch die Europäische Kommission mit Hilfe des Europäischen Gerichtshofes. Die Regelungen für die Bereiche geteilter Zuständigkeiten sind undurchschaubar. Die Union kann in diesen Bereichen Zuständigkeiten an sich ziehen. Was in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verbleibt, ist unklar. Die Zuständigkeitsregelungen sind überhaupt erst durch Teil III des Vertrags zu entschlüsseln. Ein anderer Verfassungsvertrag muß in diesen Wirrwarr der Zuständigkeiten klare Unterscheidungen bringen, wofür die EU und wofür die Mitgliedstaaten zuständig sind. Das gegenwärtige Maß an Übertragung von Zuständigkeiten an die Union erscheint im Prinzip als hinreichend. Man muß Folgendes beachten: Jede Kompetenzübertragung schmälert den Bereich souveräner Entscheidungen der nationalen Parlamente. Diese verlieren Gesetzgebungsrechte, die auf der EU-Ebene nur eingeschränkt beim Europäischen Parlament ankommen. Hauptsächlich landen sie beim Ministerrat der EU, einem Gremium von Regierungsvertretern, also der Exekutive, die in der Union als ihr eigener Gesetzgeber tätig werden. Das widerspricht gröblich dem Grundsatz der Gewaltenteilung.

Für die Tätigkeit der Union gelten zwei bedeutsame Grundsätze, die Subsidiarität und die Verhältnismäßigkeit. Beide laufen ins Leere, wenn sie nicht verfassungsrechtlich zwingender ausgeformt werden. Das Subsidiaritätsprinzip besagt, daß die EU in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nicht machen darf, was sie will. Sie kann dort nur tätig werden, wenn die Probleme erstens auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene nicht ausreichend und zweitens auf Gemeinschaftsebene besser gelöst werden können. Bei der weiten Auslegbarkeit dieses Grundsatzes hängt alles von der Stringenz des Verfahrens ab. Ein anderer Vertrag muß die Schwelle für die Einleitung eines Subsidiaritäts-Kontrollverfahrens zur Überprüfung niedriger senken. Er muß regeln, wer die Überprüfung vornimmt und darf es den EU-Organen nicht gestatten, trotz der Einwände nationaler Parlamente an ihrem Vorhaben festzuhalten. Die Klagemöglichkeit vor dem Gerichtshof der EU ist keine ausreichende Garantie für die Durchsetzung der Subsidiaritätsgrundsatzes, denn der Gerichtshof entscheidet in der Regel zugunsten möglichst weiter EU-Zuständigkeiten.

Demokratie im EU-Parlament

In der Öffentlichkeit, zumal in der linken, werden die institutionellen und prozeduralen Fragen zu unrecht oft weniger beachtet. Hier spielen sich nämlich Machtkämpfe ab, geht es doch darum, wer im Getriebe der EU welchen Einfluß hat und wessen Interessen sich wie weit durchsetzen.

Die Rechtsvorschriften der EU müssen gleichrangig durch den Ministerrat und das Parlament getroffen werden. Dazu müssen die Rechte des Europäischen Parlaments gegenüber den anderen Organen im Gesetzgebungsprozeß und in anderen Entscheidungsverfahren in einem alternativen Verfassungsvertrag ausgebaut werden. Das Parlament und konsequenter Weise auch der Ministerrat müssen neben der Kommission das Recht zu eigenständiger Gesetzesinitiative erhalten. Gegenwärtig hat dieses Recht nur die Kommission. Die Mitentscheidung und Mitsprache des Parlaments muß auf alle Bereiche ausgedehnt werden, in denen die Union Kompetenzen besitzt, also auch auf Fragen, über die im Ministerrat einstimmig entschieden wird. Das gilt auch für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, wo das Parlament nach dem Verfassungsvertrag nichts zu sagen hat. Das Parlament muß den Präsidenten der Kommission ohne Vorentscheidung durch den Europäischen Rat wählen und ihn und einzelne Kommissionsmitglieder abberufen können.

Es ist zu bezweifeln, ob die Einführung des Amtes eines hauptamtlichen Präsidenten des Europäischen Rates hilfreich ist. Die Rotation der Präsidentschaft muß kein Hemmnis, sondern kann eher ein Vorzug der EU sein, der ihrem Charakter als Union verschiedener Nationalstaaten und Völker gerecht wird und unterschiedliche Sichtweisen zur Geltung bringt. Fraglich ist auch, ob die Einführung der Funktion eines Außenministers und der Aufbau eines eigenen diplomatischen Dienstes die EU außenpolitisch handlungsfähiger macht. Daß Europa nicht mit einer Stimme spricht, liegt nicht daran, daß es keinen Außenminister hat, sondern daß die Mitgliedstaaten unterschiedliche, oft entgegengesetzte Interessen verfolgen. Ein Außenminister würde etwas vortäuschen und Erwartungen wecken, die die EU nicht erfüllen kann.

Ein besonderer Streitpunkt waren und sind die Abstimmungsregeln im Europäischen Rat und im Ministerrat. Hier geht es ans Eingemachte. Die Räte sind Kampfplatz unterschiedlicher, oft entgegengesetzter Staats- und Klasseninteressen. Das Erfordernis der Einstimmigkeit wird je nach Interessenlage als Integrationshemmnis hingestellt oder verbissen verteidigt. Die Auffassung ist falsch, daß sich Integration nur da vollziehen kann, wo Mehrheitsentscheidungen möglich sind und »Unwillige« überstimmt werden können. Integration hält dann fest, wenn alle mit dem jeweiligen Integrationsschritt einverstanden sind. Aber in einer Institution mit 27 oder mehr Mitgliedstaaten muß es Beschlüsse mit qualifizierten Mehrheiten geben, bei denen die Bevölkerungsgröße die gebührende Beachtung findet. Die Stimme Maltas mit 360 000 Einwohnern kann dort, wo Mehrheitsentscheidungen zweckdienlich und vereinbart sind, nicht dasselbe Gewicht haben wie die Stimme Deutschlands mit 82 Millionen.

Der Verfassungsvertrag hat die qualifizierte Mehrheit definiert als Mehrheit von mindestens 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung der Union ausmachen. Das ist eine Überbetonung des demographischen Faktors, eine Begünstigung der Großen auf Kosten der Kleinen. Der Vertrag von Nizza aus dem Jahr 2000 hatte die qualifizierte Mehrheit durch »gewogene Stimmen« definiert. Danach haben am oberen Rand der Skala Deutschland, Frankreich und Großbritannien je 29 Stimmen, Spanien und Polen je 27 und am unteren Rand Malta 3, Estland, Zypern, Lettland und Slowenien je 4 Stimmen. Das mag keine optimale Lösung sein. Aber wenn der Verfassungsvertrag in Kraft träte, würden sich folgende Verschiebungen des Stimmengewichts im Rat im Vergleich zu Nizza ergeben. Zugunsten der Großen: Deutschland von 8,4 Prozent auf 17,0 Prozent, Frankreich von 8,4 auf 12,4, Großbritannien von 8,4 auf 12,3, Italien von 8,4 auf 11,9, Spanien von 7,8 auf 8,5 und Polen von 7,8 auf 7,9. Die Verlierer wären die kleinen und mittleren Mitgliedstaaten. Der Stimmanteil Tschechiens würde zurückfallen von 3,5 Prozent auf 2,2 Prozent, der Dänemarks von 2,0 auf 1,1, der Estlands von 1,2 auf 0,3 und der Maltas von 0,9 auf 0,1. Das wäre eine enorme Machtverschiebung. Deutschland wäre der Hauptgewinner mit einem Zuwachs an Stimmgewicht von mehr als 100 Prozent. Die EU würde mehr denn je eine Domäne Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens werden, in der sich ihre Machtkämpfe und ihre unterschiedlichen Bündniskonstellationen abspielen.

Bundesstaat Europa?

Seit dem Vertrag zur Gründung der EWG von 1957 wird in den Präambeln der EG- und EU-Verträge das Ziel proklamiert, einen »immer engeren Zusammenschluß«, eine »immer engere Union« zu bewerkstelligen. Wie eng denn nun am Ende? Was ist die »Finalität« der Union? Die Frage kann natürlich nicht mit dem Anspruch darauf beantwortet werden, daß einer die endgültige Gestalt der EU kennt. Man darf ihr aber auch nicht mit der banalen Ausrede ausweichen, die Geschichte sei nun einmal offen.

In den politischen Thesen des Athener Kongresses der Partei der Europäischen Linken vom Oktober 2005 heißt es: »Wir vertreten den Standpunkt, daß die alternative Vision der Linken vom demokratischen Sozialismus kein nationales Thema ist, sondern ein Ziel von europäischen und internationalen Dimensionen.« Sozialisten wollen die gegenwärtige euroimperialistische Verfaßtheit der EU überwinden und in historischer Perspektive auf demokratischem Weg eine sozialistische Gesellschaftsordnung in Europa, eine Union sozialistischer europäischer Staaten erreichen.

Die Linke kann nicht ernsthaft erwarten, daß sozialistische Werte und Ziele in einer alternativen Verfassung für die EU durchgesetzt werden können. Eine andere europäische Verfassung für eine Union kapitalistischer Staaten – und nichts anderes ist die EU – kann und muß aber für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen offen sein.

Soll die EU ein Bundesstaat werden? Das Bundesverfassungsgericht hat im Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 festgestellt, der EU-Vertrag begründe einen »Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der – staatlich organisierten – Völker Europas, keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat«. Was »immer enger« bedeutet, wo die Abgrenzung zwischen Staatenbund, Staatenverbund und Bundesstaat liegt, blieb offen. Die Union ist längst über einen Staatenbund hinausgewachsen. Sie hat sich in mancher Hinsicht in Richtung auf einen Bundesstaat entwickelt und ist ein staatsähnliches Gebilde. Aber soll das bis zur Vollendung eines europäischen Bundesstaates so weiter gehen? Soll die EU Weltmacht werden? Wer das will, muß einen Verfassungsvertrag wollen, der die Souveränität der Nationalstaaten möglichst klein hält und die Souveränität der Union, die Erweiterung ihrer Kompetenzen möglichst groß schreibt. Das wäre aus linker Sicht in absehbarer Zukunft weder realisierbar noch wünschenswert.

Einen europäischen Staat nach Art der USA oder der Bundesrepublik Deutschland, wo die Mitglieder zu bloßen Gliedstaaten ohne eigene Souveränität heruntergestuft sind, wollen die EU-Bürger nicht. Sie befürchten, nicht ohne Grund, daß ein Europa-Staat ihre soziale Lage verschlechtert und ihnen die nationale Identität und kulturelle Eigenart wegnimmt oder schmälert. Bundespräsident Horst Köhler will Freude verbreiten, wenn er sagt, daß »Produzenten und Verbraucher in Europa einen großen Heimatmarkt in der Globalisierung bekommen« haben (Die Welt vom 8.2.2007). Die Bürger wollen aber ihre alte Heimat behalten und sie nicht in einem europäischen Geld- und Warenmarkt verschwinden lassen. Auch die Regierungen der Mitgliedstaaten wollen keinen europäischen Bundesstaat. Sie wollen wesentliche Souveränitätsrechte, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik, behalten. Die Konzerne brauchen keinen Europa-Staat. Sie wollen auf allen Ebenen von staatlichen Regulierung befreit werden, auf der nationalen wie auf der europäischen und globalen. Linke können ein solches Gebilde schon deshalb nicht wollen, weil der nach Lage der Dinge nur eine imperialistische Weltmacht neben den USA sein könnte. Die Vereinigten Staaten von Europa sind eine sozialistische Zukunftsvision.

Die EU darf weder auf eine Freihandelszone zurückfallen noch soll sie ein Suprastaat in Gestalt einer auf die EU-Organe zentralisierten Föderation werden. Sie soll sich als eine Union sui generis entwickeln, als eine politische, ökonomische, soziale, ökologische, dem Völkerrecht, den Menschenrechten und der Gleichberechtigung verpflichtete Union von Staaten und Völkern, die souveräne Rechte gemeinschaftlich ausüben oder an die Union übertragen, aber einen wesentlichen Bestand an souveränen Rechten behalten, darunter die Entscheidung über die Übertragung solcher Rechte und über die Mitgliedschaft selbst. Die Mitgliedschaft in der EU ist freiwillig. Die Aufnahme einer Austrittsklausel in die Verfassung ist folgerichtig, wenn auch ein Austritt praktisch äußerst schwierig und nicht zukunftsträchtig wäre. Die unterschiedlichen souveränen Nationalstaaten in der Union sind nicht per se etwas Überholtes und daher Rückständiges. Sie sind eher Voraussetzung für eine demokratische Union der europäischen Völker und für die viel beschworene »Einheit in der Vielfalt«. Der europapolitische Sprecher der Linksfraktion, Diether Dehm, hat mit seiner Feststellung in der Welt-online vom 10. April recht: »Will die EU aber endlich ein Europa der Bürger sein, muß dies ein Europa der Völker werden.«

* Gregor Schirmer ist Professor für Völkerrecht. Er war Stellvertreter des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen der DDR und Stellvertretender Abteilungsleiter im ZK der SED

Aus: junge Welt, 24. April 2007



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