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Die Debatte geht weiter

Nach dem Verfassungsvertrag – Die Europäische Union in der Krise

Von Helmuth Markov*

Wie steht es eigentlich um den europäischen Verfassungsvertrag? Zwar geht der Ratifizierungsprozess, wenn auch auf Sparflamme, weiter, doch mit dem Non in Frankreich und dem Nee in den Niederlanden ist klar, dass dieser Vertrag gescheitert ist. Da nützt auch die trotzige Haltung Merkels nichts, die ihn, versehen nur mit einer unverbindlichen Zusatzerklärung, noch einmal zur Abstimmung stellen will.

Die EU befindet sich in einer Krise, denn die Bevölkerungen Frankreichs und der Niederlande haben den europäischen Eliten in dieser Frage ihre Gefolgschaft gekündigt. Mit anderen Worten: »Das Publikum verlässt den Saal.« Das ist denn auch der Titel eines Buches von Andreas Wehr, in dem er die Debatte um den Verfassungsvertrag nachzeichnet. Bereits in dem von ihm 2004 veröffentlichten Buch »Europa ohne Demokratie? Die europäische Verfassungsdebatte – Bilanz, Kritik und Alternativen« hatte sich der Mitarbeiter der Fraktion der Linken im Europäischen Parlament mit dem Entwurf des Europäischen Konvents auseinander gesetzt. In seinem neuen Buch zeichnet er nun die Debatte der letzten zwei Jahre nach. Er setzt sich dabei vor allem mit den Positionen von Sozialdemokraten und Grünen auseinander. In beiden Lagern trauert man dem Verfassungsvertrag nach, da er ihrer Meinung nach ein Mehr an Demokratie, ein sozialeres und sicherheitspolitisch eigenständigeres Europa gebracht hätte. Wehr verweist dies ins Reich der Legenden, denn der Verfassungsvertrag hätte mitnichten den Kurs der Europäischen Union korrigiert.

Ausführlich wird auf die Referenden in Frankreich, den Niederlanden und Luxemburg eingegangen. Zur Position der Linken dort lässt der Autor in umfangreichen Interviews Europapolitiker zu Wort kommen, für Frankreich den Vorsitzenden der Linken im EP, Francis Wurtz, und für die Niederlande den Europaabgeordneten Erik Meijer. Man erfährt dabei viel über die Hintergründe des Scheiterns des Verfassungsvertrags, aber auch, dass immerhin 43 Prozent in Luxemburg mit Nein stimmten. Nach dieser Lektüre wird wohl kaum jemand mehr behaupten können, dass es innenpolitische Gründe waren, die zur Ablehnung führten. Erkennbar wird vielmehr, wie eingehend und intensiv man sich in allen drei Ländern mit der Politik der EU auseinander gesetzt hat. Bedauerlich ist nur, dass ein vergleichbares Interview mit einem spanischen Politiker fehlt, wäre es doch interessant gewesen, mehr darüber zu erfahren, warum dort das Referendum mit einem Ja endete.

Wie die Debatte in Deutschland verlief und warum es hier zu keinem Referendum kam, wird in einem eigenen Kapitel dargestellt. Es wird daran erinnert, dass es vor allem die PDS war, die sich von Beginn an vehement für eine Volksabstimmung einsetzte. Gezeigt wird auch, wie schwer sich die Linken dann aber taten, ihre ablehnende Position in den Landesregierungen, an denen sie beteiligt sind, auch in entsprechende Beschlüsse umzusetzen. Insbesondere in diesem Teil des Buches merkt man Andreas Wehr seine persönliche Betroffenheit an. Schließlich wurde nur in Mecklenburg-Vorpommern von der PDS eine Enthaltung im Bundesrat durchgesetzt.

Der Autor blickt in seinem Buch nicht nur zurück, sondern beschreibt detailliert Überlegungen, die gegenwärtig in Brüssel, in Außenministerien und in diversen Think Tanks angestellt werden, um den Kern des Verfassungsvertrags doch noch zu retten. So seien die Inhalte eines neuen Vertrags bereits umrissen. Er sei sehr viel kürzer als der Verfassungsvertrag und bestehe nur aus wenigen Teilen: Einem allgemeinen Abschnitt zu den Institutionen, der Grundrechtecharta und Schlussbestimmungen. Und auch der Zeitpunkt für den Start dieses Unternehmens liege bereits fest: Es soll die zweite Hälfte 2007 sein, dann, wenn in Frankreich ein neuer Präsident und in den Niederlanden ein neues Parlament gewählt worden sind. Die Verfassungsdebatte geht also weiter.

Wehr lässt keinen Zweifel daran, dass er in den mit dem Verfassungsvertrag vorgesehenen institutionellen Veränderungen nicht eine Demokratisierung, sondern vielmehr die Gefahr der Entstehung einer neuen europäischen Hegemonialordnung sieht. Dazu könne es kommen, wenn zukünftig bei Entscheidungen im Rat vor allem die Bevölkerungsgröße entscheiden soll. Deutschlands Anteil stiege dadurch um nicht weniger als 102 Prozent, die Stimmanteile Frankreichs, Großbritanniens und Italiens immerhin noch um 47, 44 und 40 Prozent. Verlierer wären alle mittelgroßen und kleinen Staaten. Es entstünde so ein Direktorium weniger großer Staaten unter Führung Deutschlands.

Alternativen für einen anderen Verfassungsvertrag sieht der Autor vor allem in der Stärkung der nationalen Parlamente und in einer Beschränkung der Macht Brüssels, denn nur auf der Ebene der Mitgliedstaaten können sich kritische Öffentlichkeiten so bemerkbar machen, dass auch eine Kurskorrektur der europäischen Politik durchsetzbar wird. Ein Ansatz, der die Debatte geradezu provoziert. Schon jetzt steht fest: Wer in der noch lange nicht beendeten europäischen Verfassungsdebatte mitreden will, kommt um das Buch von Andreas Wehr nicht herum.

Andreas Wehr: Das Publikum verlässt den Saal. Nach dem Verfassungsvertrag: Die EU in der Krise. PapyRossa Verlag, Köln 2006. 180 S., br., 14,90 EUR.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Mai 2006


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