Ja, aber
Analyse: Das Bundesverfassungsgericht bekräftigt den Lissabonner Vertrag, fordert aber zugleich ein Zustimmungsgesetz, das die Entscheidungsmacht des Bundestags in EU-Fragen stärkt
Von Gregor Schirmer
Kläger wie Beklagte waren zufrieden oder erklärten sich gar zum Sieger.
Alle Beteiligten äußerten am 30. Juni, dem Tag der Urteilsverkündung in
Karlsruhe in Sachen Vertrag von Lissabon, sie hätten einen guten Tag für
Europa, für den Bundestag und für sich selbst. Was hat das
Bundesverfassungsgericht eigentlich beschlossen?
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte über sechs Anträge
zu entscheiden. Zwei Anträge wurden im Organstreitverfahren gestellt.
Einer vom CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler, der als unzulässig
verworfen wurde, und einer von der Bundestagsfraktion Die Linke, der
zwar zum Teil für zulässig erklärt, aber im übrigen als unbegründet
zurückgewiesen wurde. Beide Antragsteller rügten, daß durch den
Lissabonner Vertrag die Rechte des Bundestags verletzt würden.
Bei den übrigen vier Anträgen handelte es sich um
Verfassungsbeschwerden, darunter eine von Diether Dehm und allen anderen
Mitgliedern der Linksfraktion. Die Beschwerdeführer sahen ihr Grundrecht
auf freie Wahlen verletzt. Die Beschwerden wurden ebenfalls zum Teil für
unzulässig erklärt und mit zwei Ausnahmen in einer wichtigen Frage
zurückgewiesen. Alle Anträge hatten mit unterschiedlichen Begründungen
die Feststellung des Gerichts begehrt, daß das Zustimmungsgesetz zum
Vertrag von Lissabon gegen das Grundgesetz verstoße. Sie hatten darauf
abgezielt, die Ratifikation des Vertrags durch Deutschland zu
verhindern. Ohne diese Ratifikation kann der Vertrag nicht in Kraft
treten. Es ging in Karlsruhe also um Schwerwiegendes.
Die Linksfraktion und ihre Mitglieder machten im Schwerpunkt die
Verletzung des in Artikel 20 des Grundgesetzes (GG) verankerten
demokratischen Prinzips durch den Lissabonner Vertrag geltend. Oskar
Lafontaine, einer der beiden Fraktionsvorsitzenden, verwies in seinem
Plädoyer in der mündlichen Verhandlung auf das demokratische Defizit,
die soziale und ökonomische Fehlorientierung und die Militarisierung der
EU. Die anderen Antragsteller behaupteten vor allem, daß der Lissabonner
Vertrag den Grundsatz der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik
verletze. Die Antragsgegner, die Bundesregierung, in der mündlichen
Verhandlung vertreten durch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier
und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, und der Bundestag, hielten
den Vertrag mit schwachen Argumenten für verfassungsrechtlich völlig in
Ordnung. Sie hatten begehrt, die Anträge samt und sonders als unzulässig
zurückzuweisen, nur hilfsweise sollten sie als unbegründet verworfen werden.
Das Gericht hat das Zustimmungsgesetz und damit den Vertrag von Lissabon
vom 13. Dezember 2007 für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt, mit
einem großen Aber: »Nach Maßgabe der Gründe« bestehen »keine
durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken« gegen das
Zustimmungsgesetz. Wer erwartet oder gehofft hatte, ausgerechnet das
deutsche Verfassungsgericht würde den Lissabonner Vertrag stoppen, wurde
enttäuscht. Das Bundesverfassungsgericht ist in den
Herrschaftsmechanismus dieses Staates eingebaut und kann in einer
solchen Grundsatzfrage mit internationalen Dimensionen wie der
Durchsetzung von Lissabon keine der herrschenden Politik zuwiderlaufende
Entscheidung treffen. Es wäre eine politisch-juristische Sensation
gewesen, hätte Karlsruhe anders entschieden. Das hätte nämlich das Ende
des Vertrags von Lissabon bedeutet. Eine Entscheidung von solcher
Tragweite kann vom Bundesverfassungsgericht nicht erwartet werden,
selbst dann nicht, wenn es Bedenken gegen den Vertrag hegt, was in den
Entscheidungsgründen an verschiedenen Stellen aufleuchtet. Das Ja des
Gerichts zu Lissabon ist nicht gerade ein Sieg für all jene, die den
Lissabonner Vertrag ablehnen.
Keine Selbstentmannung
Zwei Verfassungsbeschwerden, die von Gauweiler und seinem Parteikollegen
im EU-Parlament Franz Ludwig Schenk Graf von Stauffenberg, konnten einen
Teilerfolg verbuchen. Das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der
Rechte des Bundestags und des Bundesrats in Angelegenheiten der
Europäischen Union wurde als grundgesetzwidrig erklärt, weil die
Beteiligungsrechte beider Einrichtungen nicht »im erforderlichen Umfang
ausgestaltet worden sind«. Das Gesetz sollte mit dem Lissabonner Vertrag
in Kraft treten. Es war von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der
Bündnisgrünen eingebracht, als Stärkung der Rechte des deutschen
Parlaments bejubelt und als Beruhigungspille für Lissabon-Kritiker
verabreicht worden. Nun mußten sich die Parlamentarier vom höchsten
Gericht des Landes sagen lassen, daß sie ihre eigenen Rechte ungenügend
verankert haben und zwar in einem verfassungswidrigen Ausmaß. Ein
blamabler Vorgang! Dann setzte das Gericht noch eins drauf: »Vor
Inkrafttreten der von Verfassungs wegen erforderlichen gesetzlichen
Ausgestaltung der Beteiligungsrechte darf die Ratifikationsurkunde der
Bundesrepublik Deutschland zum Vertrag von Lissabon (…) nicht hinterlegt
werden.« Es zeugt vom Mißtrauen des Gerichts in den Gestaltungswillen
des Bundestags, daß zur Ausgestaltung des Gesetzes sehr genaue Vorgaben
gemacht wurden.
Zur »Integrationsverantwortung« von Bundestag und Bundesrat gehört es,
daß die deutsche Regierung nicht ohne Gesetz in Brüssel »Ja« sagen darf
zu einer Änderung der EU-Verträge im vereinfachten Verfahren, zur
Einführung einer »gemeinsamen Verteidigung«, zur Erweiterung der Rechte
der Unionsbürger, zum Beitritt der EU zur Europäischen
Menschenrechtskonvention, zur Erstellung der Wahlordnung zum
Europäischen Parlament, zur Übertragung der Zuständigkeit des
Europäischen Gerichtshofs für Rechtsstreitigkeiten über geistiges
Eigentum und bei Entscheidungen zu den Eigenmitteln der Union. Ein
Zustimmungsgesetz ist ferner notwendig bei der Anwendung der sogenannten
Flexibilitätsklausel, die eine Kompetenzerweiterung der EU ohne
Vertragsänderung ermöglicht. Dasselbe gilt für die Erweiterung von
Kriminalitätsbereichen, für die die Union Mindestvorschriften erlassen
kann. Konstitutive Zustimmung des deutschen Parlaments ist notwendig,
wenn die Regierung in den vorgesehenen Fällen den Übergang von der
Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit oder die Änderung des
Gesetzgebungsverfahrens in Brüssel mitbeschließen will. Eine Weisung des
Parlaments wird gebraucht, wenn das »Notbremseverfahren« in Gang gesetzt
werden soll, mit dem ein Mitgliedstaat Gesetzgebungsakte im Recht auf
Freizügigkeit der abhängig Beschäftigten und in Strafsachen verhindern
kann. Der Überblick über die vom Gericht dem Parlament aufgetragenen
Hausaufgaben zeigt das Ausmaß der bereits beschlossenen Selbstentmannung
des Bundestags.
Ob das neue Gesetz nicht bloß die Papierflut und die Redeschlachten im
Parlament anschwellen läßt, sondern realiter zu mehr Macht und Kontrolle
der Volksvertreter in Europafragen gegenüber der Regierung führt, kann
bezweifelt werden. Die Regierung verfügt im Bundestag über die Mehrheit.
Es wird ihr nicht schwerfallen, sich ihre europapolitischen Absichten
parlamentarisch absegnen zu lassen. Trotzdem: Die verstärkte Befassung
des Parlaments mit EU-Angelegenheiten wird zu größerer »Glasnost« führen
und der Opposition Gelegenheit zu konstruktivem Widerspruch geben.
BRD bleibt »Vertragsherr«
Die 90 Seiten umfassende Urteilsbegründung können hier nicht umfassend
analysiert werden. Sie bedürfen eines genauen Studiums, dem sich
hoffentlich auch die Politiker unterziehen. In vielerlei Hinsicht sind
die Gründe wichtiger als das Urteil selbst. Dabei ist die Durchsuchung
des Textes nach Anknüpfungspunkten für linke Europapolitik ein legitimes
Anliegen. Ich kann allerdings der im Bundstag am 1. Juli vorgetragenen
Meinung Gregor Gysis, ebenfalls Fraktionsvorsitzender der Linkspartei,
nicht folgen, das Gericht habe »den Lissabon-Vertrag völlig neu
interpretiert. (…) Dadurch hat der Vertrag zum Teil einen neuen Inhalt.
(…) Der Lissabon-Vertrag ist durch Interpretation des
Bundesverfassungsgerichts deutlich verändert.« Durch Interpretation kann
ein völkerrechtlicher Vertrag nicht verändert werden und keinen neuen
Inhalt bekommen. Ich kann aus den Gründen auch nicht herauslesen, daß
das Gericht eine solche politische Absicht verfolgte. Juristisch konnte
es das auch gar nicht.
Der Lissabonner Vertrag bleibt auch »nach Maßgabe der Gründe«, also in
der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts, ein Unternehmen, welches
das Demokratiedefizit nicht beseitigt und die EU auf einem neoliberalen,
sozial abträglichen und militaristischen Weg weiterführt. Dem ist nicht
durch Interpretationen, sondern nur durch Änderung der primärrechtlichen
Grundlagen der Union beizukommen. Ich hoffe, es bleibt bei der am 30.
Juni abgegebenen Erklärung der Linksparteispitze von Lothar Bisky,
Gregor Gysi und Oskar Lafontaine, »daß der Lissabon-Vertrag keine
ausreichende Grundlage für ein soziales, demokratisches, friedliches
Europa legt und dringend nachbesserungsbedürftig ist«. Die Linkspartei
sollte aber von der Regierung fordern, daß sie bei der Ratifikation
einige Vorbehalte anbringt und der Ratifikationsurkunde eine Erklärung
beifügt, daß Deutschland die EU-Verträge nur in der Auslegung des
Bundesverfassungsgerichts anwenden wird. Beides ist nach dem »Wiener
Übereinkommen über das Recht der Verträge« aus dem Jahr 1969 möglich.
Das zentrale Anliegen der Karlsruher Richter in der Begründung ihres
Urteils ist offenkundig die Klärung des Verhältnisses zwischen der EU
und den Mitgliedstaaten. Ihre Hauptsorge gilt dem Erhalt der »souveränen
Verfassungsstaatlichkeit« Deutschlands. Dazu war Klartext über die
Rechtsnatur der EU nötig: Die EU ist ein »Staatenverbund«, kein
Bundesstaat: »Der Begriff des Verbundes erfaßt eine enge, auf Dauer
angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher
Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein
der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das
heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte
demokratischer Legitimation bleiben.« Die Mitgliedstaaten bleiben kraft
des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung »dauerhaft die Herren der
Verträge«.
Von daher wendet das Gericht die Erfordernisse des Europa-Artikels 23
des Grundgesetzes (siehe Kasten) und die Artikel der zwei durch Lissabon
geänderten EU-Verträge hin und her und kommt zum Ergebnis: »Die
europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner
Staaten darf nicht so verwirklicht werden, daß in den Mitgliedstaaten
kein ausreichender Raum für politische Gestaltung der wirtschaftlichen,
kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt. Dies gilt
insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor
allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der
Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen,
sowie für solche politischen Entscheidungen, die in besonderer Weise auf
kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind
und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum
einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten. Zu wesentlichen
Bereichen demokratischer Gestaltung gehören unter anderem die
Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, Einnahmen
und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme sowie die für die
Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Eingriffstatbestände, vor allem
bei intensiven Grundrechtseingriffen wie dem Freiheitsentzug in der
Strafrechtspflege oder bei Unterbringungsmaßnahmen. Zu diesen
bedeutsamen Sachbereichen gehören auch kulturelle Fragen wie die
Verfügung über die Sprache, die Gestaltung der Familien- und
Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-, Presse- und
Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen oder
weltanschaulichen Bekenntnis.«
Das sind gehörige Grenzen für europäischen Handlungsüberschwang. Es ist
nicht nachvollziehbar, daß Karlsruhe meint, diese Grenzen seien durch
Lissabon (noch) nicht überschritten – meines Erachtens eine unrichtige
Entscheidung. Recht haben die Richter damit, daß die EU kein Bundesstaat
ist. Wer einen europäischen Bundesstaat will, der muß das sagen, eine
dementsprechende Verfassung formulieren und diese nach Artikel 146 GG
dem deutschen Volk zur freien Entscheidung vorlegen.
Demokratie, Militär und Soziales
Was sagen die Richter zu den Hauptkritikpunkten der Linksfraktion am
Lissabonner Vertrag? Erstens bestätigen sie das strukturelle
Demokratiedefizit der EU. »Das – gemessen an staatlichen
Demokratieanforderungen – bestehende Defizit der europäischen
Hoheitsgewalt kann (…) nicht aufgehoben und insoweit nicht
gerechtfertigt werden.« Geboten sei »eine dem Status und der Funktion
der Union angemessene demokratische Ausgestaltung«. Die Demokratie der
EU könne und müsse nicht staatsanalog ausgestaltet sein. »Der Vertrag
von Lissabon führt nicht auf eine neue Entwicklungsstufe der
Demokratie.« Die Defizite seien der Tatsache geschuldet, daß die EU eben
kein Staat ist. Abweichungen von den Organisationsprinzipien
innerstaatlicher Demokratie sind erlaubt. »Das demokratische Prinzip ist
nicht abwägungsfähig; es ist unantastbar.« Aber der Lissabon-Vertrag ist
nach Meinung der Richter mit dem Demokratieprinzip vereinbar.
Zweitens liefern die Richter eine eindeutige Klarstellung zum
Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr. »Der
konstitutive Parlamentsvorbehalt für den Auslandseinsatz der
Streitkräfte besteht auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon
weiter.« Im Falle eines Beschlusses über eine »militärische Mission«
wäre der deutsche Vertreter im Rat »von Verfassungs wegen verpflichtet,
jeder Beschlußvorlage die Zustimmung zu verweigern, die den
wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt des Grundgesetzes
verletzen oder umgehen würde«. Das gilt auch für geschuldete
Hilfeleistung für das Opfer eines bewaffneten Angriffs. Es bleibt
allerdings dabei, daß bei »Gefahr im Verzug« der deutsche Vertreter in
Brüssel einer Beteiligung an einem Militäreinsatz ohne vorherige
Genehmigung des Parlaments zustimmen kann. Die vorgeschriebene
nachträgliche Einholung der Genehmigung ist wohl eher ein Placebo.
Drittens. Das Sozialstaatsgebot halten die Richter für hinreichend
gesichert. Die »Behauptung, die europäische Wirtschaftspolitik sei reine
Marktpolitik ohne sozialpolitische Ausrichtung (…) ist unzutreffend.
Zugleich verfügen die Mitgliedstaaten über einen ausreichenden
Zuständigkeitsraum, um sozialpolitisch wesentliche Entscheidungen
selbstverantwortlich zu treffen.« Das Gericht singt ein Loblied auf das
angebliche soziale Verantwortungsbewußtsein der EU. Auf dem Gebiet ist
also alles im Lot. Es kann auch »nach Maßgabe der Gründe« neoliberal
weitergehen.
BVerfG und das EU-Recht
Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, daß es sich seine
Entscheidungsbefugnisse durch die EU nicht nehmen läßt. Es hat darauf
hingewiesen, daß es seine Zuständigkeit für die Prüfung von Handlungen
der EU am Maßstab der Grundrechte der deutschen Verfassung nur
»zurückgestellt« hat. Das Gericht beansprucht die Zuständigkeit zur
Prüfung, ob Rechtsakte der EU das Subsidiaritätsprinzip wahren und sich
in den Grenzen der den EU-Organen übertragenen Hoheitsrechte halten, ob
»der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes«
gewahrt ist. Dabei will es sich an den Grundsatz der
»Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes« und der »loyalen
Zusammenarbeit« halten. Verfassungs- und unionsrechtliche Gewährleistung
der nationalen Verfassungsidentität gingen »Hand in Hand«, was immer das
heißen mag. Ein Affront gegenüber dem Gerichtshof der EU ist die
Feststellung, daß Deutschland mit Lissabon »keinen verfassungsrechtlich
bedenklichen unbedingten Vorrang des Unionsrechts« anerkennt. Es handle
sich um einen Anwendungsvorrang, nicht um eine Vernichtung
innerstaatlichen Rechts. Entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht
werde in seinem Geltungsanspruch nicht berührt, sondern nur in seiner
Anwendung »zurückgedrängt«. Ausnahmsweise und unter besonderen und engen
Voraussetzungen könne das Bundesverfassungsgericht Recht der EU »für in
Deutschland nicht anwendbar« erklären. Der höflichen Aufforderung im
Urteil, einen zusätzlichen Zuständigkeitsbereich des
Bundesverfassungsgerichts in Fragen der EU zu normieren, muß durch eine
Änderung des Artikels 93 GG in der Richtung gefolgt werden, daß das
Bundesverfassungsgericht bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln
entscheidet, ob Rechtsakte der EU und Urteile des Europäischen
Gerichtshofs im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland angewendet
werden können.
Irland im Fokus
Wie wird es mit dem Lissabon-Vertrag weitergehen? Es ist zu befürchten
und schon angekündigt, daß die vom Gericht verlangte Gesetzesänderung im
Eilverfahren durch Bundestag und Bundesrat gejagt wird. Man setzt sich
künstlich unter Zeitdruck, damit bis Anfang Oktober die deutsche
Ratifikationsurkunde in Rom vorliegt, um die Volksabstimmung in Irland
»positiv« zu beeinflussen. Das neue Gesetz soll am 18. September unter
Dach und Fach sein. Die Post des Bundespräsidenten nach Rom mit der
Ratifikationsurkunde kann dann abgehen. Ob die Iren das als »positives
Zeichen« für ihr eigenes Abstimmungsverhalten empfinden werden, bleibt
abzuwarten. Sie hatten den Vertrag mit 53,4 Prozent der Teilnehmer an
der Volksabstimmung abgelehnt. Nun wird dem kleinen widerspenstigen
Vier-Millionen-Volk zugemutet, im Oktober über denselben Text ein
zweites Mal abzustimmen. Angefüttert wird es mit ein paar Zusicherungen
des Europäischen Rats, die nichts kosten. Es wird die Hoffnung genährt,
daß ein braves Irland mit Hilfe der EU die gegenwärtige Krise besser
übersteht als ein ungebärdiges. Wenn die Iren »Ja« sagen, werden die
EU-skeptischen Präsidenten Polens und Tschechiens wohl oder übel die
bereits parlamentarisch abgesegneten Ratifikationsurkunden abschicken.
Der Lissabonner Vertrag würde wahrscheinlich mit einjähriger Verspätung
am 1. Januar 2010 in Kraft treten. Dann beginnt ein neuer Abschnitt im
Ringen um Europa.
Das Urteil aus Karlsruhe kann Kritiker des Lissabon-Vertrags nicht davon
überzeugen, daß das Papier nun verfassungskonform ist. Eine
demokratische, soziale, ökologische und friedliche Union braucht eine
andere primärrechtliche Grundlage. Die prinzipielle Kritik am Vertrag
kann nicht davon abhalten, daß sich Linke und alle Fortschrittskräfte
auf Bestimmungen der geänderten EU-Verträge berufen, die für den Kampf
um Frieden, Demokratie und soziale Gerechtigkeit etwas hergeben – falls
der Vertrag in Kraft tritt. Wenn die Iren »Nein« sagen, was durchaus
möglich und wünschenswert ist, wäre das für den Fortgang der
europäischen Integration kein Unglück. Im Gegenteil: Ein neuer Ansatz
für die Erarbeitung, Diskussion und Verabschiedung einer echten
Verfassung der Union durch die Völker wäre gegeben.
* Gregor Schirmer ist Professor für Völkerrecht und Mitglied des
Ältestenrats der Linkspartei. Er war Stellvertreter des Ministers für
Hoch- und Fachschulwesen der DDR und stellvertretender Abteilungsleiter
im ZK der SED
* Aus: junge Welt, 8. Juli 2009
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