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"Niederlage" für Europa? Oder Sieg für die Demokratie?

Frankreich stimmte mit "Non" zur EU-Verfassung - Stellungnahme des Bundeskanzlers und Pressemitteilungen aus der Friedensbewegung

Frankreich hat abgestimmt und mit rund 55 Prozent "Nein" zur EU-Verfassung gesagt. Im Folgenden dokumentieren wir:

  1. eine erste Stellungnahme des deutschen Bundeskanzlers,
  2. eine Pressemitteilung von Pax Christi,
  3. eine Presseerklärung von Attac Deutschland und
  4. eine Presseerklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag.


Pressemitteilung
Veröffentlicht am: 29.05.2005

Referendum in Frankreich

"Ein Rückschlag für den Verfassungsprozess, aber nicht sein Ende."

Erklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Ausgang des französischen Referendums über die Europäische Verfassung am 29. Mai 2005.

Ich bedaure den Ausgang des Referendums in Frankreich sehr. Gleichwohl müssen wir dieses Votum respektieren. Die Gründe, die im einzelnen dazu geführt haben, werden nun genau zu analysieren sein. Ich gehe davon aus, dass sich auch die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf ihrem Treffen am 16./17. Juni hierüber austauschen werden.

Der Ausgang des Referendums ist ein Rückschlag für den Verfassungsprozess, aber nicht sein Ende. Er ist auch nicht das Ende der deutsch-französischen Partnerschaft in und für Europa. Diese Einschätzung teilt auch der französische Staatspräsident Jacques Chirac, mit dem ich bereits telefoniert habe.

Der Ratifikationsprozess in den Mitgliedstaaten muss weitergehen. Bisher haben bereits neun Mitgliedstaaten die Verfassung ratifiziert, darunter auch Deutschland. Bundestag und Bundesrat haben im Mai mit überwältigender Mehrheit für die Verfassung gestimmt. Wir wollen die Verfassung, weil wir ein demokratisches, soziales und starkes Europa wollen. Dafür werden wir uns weiter einsetzen.


Das Verfassungsreferendum in Frankreich

Stellungnahme der Kommission Friedenspolitik von pax christi, deutsche Sektion der internationalen katholischen Friedensbewegung

Die Kommission Friedenspolitik von pax christi beglückwünscht die französischen Wähler zur klaren Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags in seiner vorliegenden Fassung. Sie stoßen damit die Tür wieder weit auf für die Neuverhandlung einer europäischen Verfassung, die die Selbstbestimmung und Solidarität der Menschen in Europa über die bloße Etablierung neoliberaler Wirtschafts- und Machtstrukturen stellt. Vor allem die das neoliberale Modell flankierenden Bestimmungen, mit denen eine neue militärische Handlungsfähigkeit Europas forciert werden soll, werden in einer Verfassung, die diesen Namen verdient, keinen Platz mehr haben.

Die Kommission Friedenspolitik von pax christi ruft die europäischen Bürger auf, sich an der Ausarbeitung dieser Verfassung durch einen neuzubildenden Konvent, der alle maßgeblichen gesellschaftlichen Gruppierungen auch wirklich repräsentiert, aktiv zu beteiligen. Die Neuverhandlung muss dabei den sozialen, zivilgesellschaftlichen und völkerverständigenden Errungenschaften, die aus der langen und oft leidvollen gemeinsamen europäischen Geschichte erwachsen sind, verpflichtet sein. Nur so wird der verantwortungsvolle Blick über die Grenzen Europas hinaus gelingen, der für das gerechte Zusammenleben in der auch unabhängig von der Globalisierung zu einer einzigen zusammenwachsenden Welt so nötig gebraucht wird.

Für die Kommission Friedenspolitik:
Christof Grosse, Sprecher


Attac Deutschland
Pressemitteilung
Frankfurt, 29. Mai 2005


Attac Deutschland begrüßt französisches Nein zur EU-Verfassung / Neuverhandlung gefordert
"Klare Botschaft für ein sozialeres Europa"

Mit großer Freude hat Attac Deutschland den Ausgang des französischen Referendums über die EU-Verfassung aufgenommen. "Das französische Nein ist eine klare Botschaft: Die Menschen wollen ein sozialeres Europa und ein Ende der neoliberalen Politik", sagte Heike Hänsel, Sprecherin der bundesweiten Attac EU-AG. "Wir gratulieren unseren französichen Freunden und dem progressiven NON- Bündnis!" Jetzt müsse es zu einer Neuausrichtung des europäischen Integrationsprozesses unter breiter Bürgerbeteiligung kommen. In der EU sei bereits zu lange über die Köpfe der betroffenen Menschen hinweg entschieden worden. "Jetzt ist es Zeit für mehr Demokratie."

"Wir fordern, soziale Rechte rechtsverbindlich zu verankern, dem Europäischen Parlament ein Initiativrecht einzuräumen und die Militarisierung zu stoppen", sagte Stephan Lindner, EU-Experte im bundesweiten Koordinierungskreis. Bei der Neuverhandlung dürfe es keine Tabus geben. Auch über Alternativen zum Stabilitäts- und Wachstumspakt, eine soziale und ökologische Ausgestaltung des Binnenmarkts und die Aufgaben der Europäischen Zentralbank müsse jetzt neu nachgedacht werden.

Attac bekräftigt die Ablehnung der EU-Verfassung und fordert die Einstellung des Ratifizierungsprozesses. "Sollten die Abstimmungen in den anderen Ländern weitergehen, werden wir auch dort die 'Nein-Kampagnen' unterstützen, die für ein soziales, demokratisches, friedliches und ökologisches Europa eintreten", sagte Gerold Schwarz, Koordinator der Kampagne "Les faces du Non", in deren Rahmen zahlreiche Attac-AktivistInnen aus Deutschland im Nachbarland aktiv wurden.


Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag:

Frankreichs "Non" zu dieser Verfassung - Ein Sieg der Demokratie

Kassel, 30. Mai - Was den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland versagt war, haben die Nachbarn in Frankreich verantwortungsvoll genutzt: In einem Referendum mit einer sehr hohen Beteiligung haben rund 55 Prozent der Wähler/innen "Nein" zum vorliegenden EU-Verfassungsvertrag gesagt.

Die Friedensbewegung in Deutschland beglückwünscht ihre Freundinnen und Freunde in Frankreich zu diesem Ergebnis. Sie waren es, die zusammen mit globalisierungskritischen Kräften, mit Gewerkschaften und linken Parteien für ein "Nein" geworben haben - nicht weil sie den europäischen Einigungsprozess ablehnen, sondern weil sie ein einiges, soziales, friedliches und demokratisches Europa wollen, ein Europa, das sich der Aufrüstung und dem Sozialabbau verweigert.

Aus den gleichen Gründen hat auch die Friedensbewegung hier zu Lande diese Verfassung vehement abgelehnt. Mit der Abstimmung in Frankreich sollte nun der Weg frei sein für ein neuerliches Nachdenken über die Perspektiven, die der Europäischen Union offen stehen: Ist es der Weg in das neoliberale Wirtschaftsbündnis eines ungehemmten Shareholder-Kapitalismus oder der Weg in ein Europa des sozialen Ausgleichs und der Solidarität, in dem nicht der Mammon, sondern der Mensch im Mittelpunkt steht? Ist es der Weg in eine militarisierte und hochgerüstete Weltmacht Europa, vor der die übrige Welt sich nicht mehr sicher fühlen kann, oder der Weg in eine Friedensmacht, die ihre Stärken ausschließlich im Aufbau ihrer zivilen, d.h. ökonomischen, sozialen, technologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Kompetenzen beweisen will?

Wenn in ersten Reaktionen deutsche Politiker darauf hinweisen, dass die Abstimmung in Frankreich vorwiegend innenpolitisch motiviert war, so lügen sie sich in die eigene Tasche: In keinem Land, das bisher die EU-Verfassung ratifiziert hat, gab es eine derart lebendige demokratische Diskussion über den Verfassungsvertrag, in keinem Land gibt es heute so viele Bürgerinnen und Bürger, die die Verfassung gelesen haben und die über den Inhalt der Verfassung gestritten haben. Das Abstimmungsergebnis ist auch keine Bestätigung für die Richtigkeit der politischen Entscheidung in Deutschland, kein Referendum abzuhalten. Die 95-prozentige Zustimmung im Bundestag und die fast komplette Zustimmung des Bundesrats zur EU-Verfassung verzerrt den Willen der Bevölkerung bis zur Unkenntlichkeit. Der EU-Verfassung fehlt in Deutschland die Legitimation. Dies ist eine schwere Hypothek für den weiteren europäischen Integrationsprozess.

Die französische Verteidigungsministerin Michele Alliot-Marie sprach in einer ersten Stellungnahme von einer "Niederlage für Frankreich und einer Niederlage für Europa". Wir setzen dagegen: Es war ein Sieg der Demokratie und er wird sich dann segensreich für die Zukunft Europas auswirken, wenn die politische Klasse nun auch die Zeichen der Zeit versteht.

Im Bundesausschuss Friedensratschlag wurde noch am Sonntagabend eine vorsorglich angeschaffte Flasche Champagner geöffnet. Vielleicht wird am 1. Juni - nach der Abtimmung in den Niederlanden - ein Fässchen Amstel-Bier fällig.

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski (Sprecher)


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