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EU-Gipfel verabschiedet Europäische Sicherheitsstrategie: EIN SICHERES EUROPA IN EINER BESSEREN WELT / A SECURE EUROPE IN A BETTER WORLD

Im Wortlaut die deutsche und die englische Fassung der EUROPEAN SECURITY STRATEGY

Zum Auftakt des EU-Gipfels verabschiedete der Europäische Rat am 12. Dezember 2003 eine Europäische Sicherheitsstrategie. Das Dokument ist fast identisch mit der ursprünglichen Vorlage, die Javier Solana im Juni dem EU-Gipfel in Thessaloniki verogelegt hatte (siehe die deutsche Übersetzung des sog. Solana-Papiers: EIN SICHERES EUROPA IN EINER BESSEREN WELT).

Englische Fassung:
Die neue Europäische Sicherheitsstrategie (englische Fassung) gibt es als pdf-Datei:

A SECURE EUROPE IN A BETTER WORLD
EUROPEAN SECURITY STRATEGY, 12 December 2003

Nun folgt die deutsche Übersetzung der neuen Sicherheitsstrategie im Wortlaut:


EIN SICHERES EUROPA IN EINER BESSEREN WELT
EUROPÄISCHE SICHERHEITSSTRATEGIE

Brüssel, den 12. Dezember 2003

Einleitung

Nie zuvor ist Europa so wohlhabend, so sicher und so frei gewesen. Die Gewalt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist einer in der europäischen Geschichte beispiellosen Periode des Friedens und der Stabilität gewichen.

Die Schaffung der Europäischen Union steht im Mittelpunkt dieser Entwicklung. Sie hat die Beziehungen zwischen unseren Ländern und das Leben unserer Bürger verändert. Die europäischen Staaten haben sich verpflichtet, Streitigkeiten auf friedlichem Wege beizulegen und in gemeinsamen Institutionen zusammenzuarbeiten. Im Laufe der Zeit haben sich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie mehr und mehr durchgesetzt und aus autoritären Regimen wurden sichere, gefestigte und dynamische Demokratien. Die aufeinander folgenden Erweiterungen lassen die Vision eines geeinten und friedlichen Kontinents Realität werden.

Die Vereinigten Staaten haben – insbesondere im Rahmen der NATO – einen entscheidenden Beitrag zum europäischen Einigungsprozess und zur Sicherheit Europas geleistet. Seit dem Ende des Kalten Krieges sind die Vereinigten Staaten der dominierende militärische Akteur. Gleichwohl ist kein Land in der Lage, die komplexen Probleme der heutigen Zeit im Alleingang zu lösen.

Was die Sicherheit Europas anbelangt, so gibt es nach wie vor Bedrohungen und Herausforderungen. Der Ausbruch des Konflikts auf dem Balkan hat uns wieder vor Augen geführt, dass der Krieg nicht von unserem Kontinent verschwunden ist. Im letzten Jahrzehnt ist keine Region der Welt von bewaffneten Konflikten verschont geblieben. In den meisten Fällen waren diese Konflikte eher innerstaatlicher als zwischenstaatlicher Natur, und die meisten Opfer waren Zivilisten.

Als Zusammenschluss von 25 Staaten mit über 450 Millionen Einwohnern, die ein Viertel des Bruttosozialprodukts (BSP) weltweit erwirtschaften, ist die Europäische Union, der zudem ein umfangreiches Instrumentarium zur Verfügung steht, zwangsläufig ein globaler Akteur. Im vergangenen Jahrzehnt sind europäische Streitkräfte in so entfernten Ländern wie Afghanistan, Osttimor und der DRK eingesetzt worden. Die zunehmende Konvergenz europäischer Interessen und die Stärkung der gegenseitigen Solidarität haben die EU zu einem glaubwürdigeren und handlungsstarken Akteur werden lassen. Europa muss daher bereit sein, Verantwortung für die globale Sicherheit und für eine bessere Welt mit zu tragen.

I. DAS SICHERHEITSUMFELD: GLOBALE HERAUSFORDERUNGEN UND HAUPTBEDROHUNGEN

Globale Herausforderungen

Durch die zunehmende Öffnung der Grenzen seit dem Ende des Kalten Krieges ist ein Umfeld entstanden, in dem interne und externe Sicherheitsaspekte nicht mehr voneinander zu trennen sind. Die Handels- und Investitionsströme, die technologische Entwicklung und die Verbreitung der Demokratie haben vielen Menschen Freiheit und Wohlstand gebracht. Aus der Sicht anderer jedoch steht die Globalisierung für Frustration und Ungerechtigkeit. Diese Entwicklungen haben auch für nichtstaatliche Gruppen mehr Spielraum für eine Mitwirkung am internationalen Geschehen entstehen lassen. Und sie haben die Abhängigkeit Europas – und somit auch seine Anfälligkeit – von vernetzten Infrastrukturen unter anderem in den Bereichen Verkehr, Energie und Information erhöht. Seit 1990 sind fast vier Millionen Menschen – zu 90 % Zivilisten – in Kriegen ums Leben gekommen. Weltweit haben über 18 Millionen Menschen wegen eines Konflikts ihr Heim verlassen.

In weiten Teilen der dritten Welt rufen Armut und Krankheiten unsägliches Leid wie auch dringende Sicherheitsprobleme hervor. Fast drei Milliarden Menschen und damit die Hälfte der Weltbevölkerung müssen mit weniger als zwei Euro pro Tag auskommen. Jedes Jahr sterben 45 Millionen Menschen an Hunger und Unterernährung. Aids hat sich zur verheerendsten Epidemie der Menschheitsgeschichte entwickelt und ist Ursache für den Zusammenbruch ganzer Gesellschaften. Neue Krankheiten können sich rasch ausbreiten und zu einer globalen Bedrohung werden. Die Armut im südlich der Sahara gelegenen Teil Afrikas ist heute größer als vor zehn Jahren. In vielen Fällen ist wirtschaftliches Versagen mit politischen Problemen und Gewaltkonflikten verknüpft.

Sicherheit ist eine Vorbedingung für Entwicklung. Konflikte zerstören nicht nur Infrastrukturen (einschließlich der sozialen), sondern fördern auch Kriminalität, schrecken Investoren ab und verhindern ein normales Wirtschaftsleben. Eine Reihe von Ländern und Regionen bewegen sich in einem Teufelskreis von Konflikten, Unsicherheit und Armut.

Der Wettstreit um Naturressourcen - insbesondere um Wasser -, der sich durch die globale Erwärmung in den nächsten Jahrzehnten noch steigern wird, dürfte in verschiedenen Regionen der Welt für weitere Turbulenzen und Migrationsbewegungen sorgen.

Die Energieabhängigkeit gibt Europa in besonderem Maße Anlass zur Besorgnis. Europa ist der größte Erdöl- und Erdgasimporteur der Welt. Unser derzeitiger Energieverbrauch wird zu 50 % durch Einfuhren gedeckt. Im Jahr 2030 wird dieser Anteil 70 % erreicht haben. Die Energieeinfuhren stammen zum größten Teil aus der Golfregion, aus Russland und aus Nordafrika.

Hauptbedrohungen

Größere Angriffe gegen Mitgliedstaaten sind nunmehr unwahrscheinlich geworden. Dafür ist Europa mit neuen Bedrohungen konfrontiert, die verschiedenartiger, weniger sichtbar und weniger vorhersehbar sind.

Terrorismus: Terrorismus gefährdet Menschenleben, verursacht hohe Kosten, sucht die Offenheit und Toleranz unserer Gesellschaften zu untergraben und stellt eine zunehmende strategische Bedrohung für Gesamteuropa dar. Terroristische Bewegungen sind in wachsendem Maße gut ausgestattet, elektronisch vernetzt und gewillt, unbegrenzt Gewalt anzuwenden, um in großem Maßstab Menschen zu töten.

Die jüngste Terrorismuswelle ist globalen Ausmaßes und mit gewalttätigem religiösem Extremismus verbunden. Die Ursachen für diese Entwicklung sind komplex. Dazu gehören der Modernisierungsdruck, kulturelle, soziale und politische Krisen sowie die Entfremdung der in fremden Gesellschaften lebenden jungen Menschen. Dieses Phänomen tritt auch in unserer eigenen Gesellschaft zutage.

Europa ist sowohl Ziel als auch Stützpunkt dieses Terrorismus: Europäische Länder waren und sind Anschlagziele. Logistische Stützpunkte von Al Qaida-Zellen wurden im Vereinigten Königreich sowie in Italien, Deutschland, Spanien und Belgien entdeckt. An einer konzertierten Aktion Europas führt kein Weg vorbei.

Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen (MVW) stellt die potenziell größte Bedrohung für unsere Sicherheit dar. Die internationalen Verträge und Ausfuhrkontrollregelungen haben die Verbreitung von MVW und ihrer Trägersysteme verlangsamt. Nun jedoch stehen wir am Anfang eines neuen und gefährlichen Zeitabschnitts, in dem es möglicherweise - insbesondere im Nahen Osten - zu einem MVW-Wettrüsten kommt. Fortschritte im Bereich der biologischen Wissenschaften können die Wirkung von biologischen Waffen in den kommenden Jahren verstärken; auch Anschläge mit chemischen Stoffen und radiologischem Material sind eine ernst zu nehmende Gefahr. Die Verbreitung von Raketentechnologie sorgt für zusätzliche Instabilität und könnte Europa zunehmender Gefahr aussetzen.

Am erschreckendsten ist der Gedanke, dass terroristische Gruppierungen in den Besitz von Massenvernichtungswaffen gelangen. Sollte dies eintreten, wäre eine kleine Gruppe in der Lage, einen Schaden anzurichten, der eine Größenordnung erreicht, die bislang nur für Staaten und Armeen vorstellbar war.

Regionale Konflikte: Probleme, wie sie sich in Kaschmir, in der Region der Großen Seen und auf der koreanischen Halbinsel stellen, haben ebenso direkte und indirekte Auswirkungen auf europäische Interessen wie näher gelegene Konfliktherde, vor allem im Nahen Osten. Gewaltsame oder festgefahrene Konflikte, wie sie auch an unseren Grenzen andauern, stellen eine Bedrohung für die regionale Stabilität dar. Sie zerstören Menschenleben wie auch soziale und physische Infrastrukturen, bedrohen Minderheiten und untergraben die Grundfreiheiten und Menschenrechte. Diese Konflikte können Extremismus, Terrorismus und den Zusammenbruch von Staaten hervorrufen und leisten der organisierten Kriminalität Vorschub. Regionale Unsicherheit kann die Nachfrage nach Massenvernichtungswaffen schüren. Um den häufig schwer zu definierenden neuen Bedrohungen zu begegnen, ist es bisweilen das nahe Liegendste, den länger zurückliegenden regionalen Konflikten auf den Grund zu gehen.

Scheitern von Staaten: Schlechte Staatsführung, d.h. Korruption, Machtmissbrauch, schwache Institutionen und mangelnde Rechenschaftspflicht sowie zivile Konflikte zersetzen Staaten von innen heraus. In einigen Fällen hat dies zu einem Zusammenbruch der staatlichen Institutionen geführt. Somalia, Liberia und Afghanistan unter den Taliban sind die bekanntesten Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit. Das Scheitern eines Staates kann auf offensichtliche Bedrohungen, wie organisierte Kriminalität oder Terrorismus, zurückzuführen sein und ist ein alarmierendes Phänomen, das die globale Politikgestaltung untergräbt und die regionale Instabilität vergrößert.

Organisierte Kriminalität: Europa ist ein primäres Ziel für organisierte Kriminalität. Diese interne Bedrohung für unsere Sicherheit hat auch eine wichtige externe Dimension: Der grenzüberschreitende Handel mit Drogen, Frauen, illegalen Einwanderern und Waffen machen einen wichtigen Teil der Machenschaften krimineller Banden aus, und bisweilen bestehen Verbindungen zu terroristischen Bewegungen.

Diese Formen der Kriminalität hängen oft mit der Schwäche oder dem Versagen des Staates zusammen. In einigen drogenproduzierenden Ländern hat sich die Schwächung der staatlichen Strukturen unter dem Einfluss der Drogengelder beschleunigt. Einkünfte aus dem Handel mit Edelsteinen, Holz und Kleinwaffen schüren Konflikte in anderen Teilen der Welt. All diese Tätigkeiten untergraben sowohl die Rechtsstaatlichkeit als auch die soziale Ordnung als solche. In Extremfällen kann das organisierte Verbrechen einen Staat beherrschen. 90 % des Heroins in Europa stammt von Mohn aus Afghanistan, wo vom Drogenhandel Privatarmeen unterhalten werden. Der Drogenvertrieb findet überwiegend über kriminelle Netze auf dem Balkan statt, auf deren Konto auch 200.000 der weltweit 700.000 Fälle von Frauenhandel gehen. Eine neue Dimension der organisierten Kriminalität, der in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zu schenken sein wird, ist die um sich greifende Seeräuberei.

Bei einer Summierung dieser verschiedenen Elemente – extrem gewaltbereite Terroristen, Verfügbarkeit von Massenvernichtungswaffen, organisierte Kriminalität, Schwächung staatlicher Systeme und Privatisierung der Gewalt – ist es durchaus vorstellbar, dass Europa einer sehr ernsten Bedrohung ausgesetzt sein könnte.

II. STRATEGISCHE ZIELE

Wir leben in einer Welt, die bessere Zukunftschancen bietet, uns gleichzeitig aber auch größeren Bedrohungen aussetzt als dies in der Vergangenheit der Fall war. Die Zukunft hängt zum Teil auch von unserem Handeln ab. Wir müssen zugleich global denken und lokal handeln. Um ihre Sicherheit zu verteidigen und ihre Werte zur Geltung zu bringen, verfolgt die EU drei strategische Ziele:

Abwehr von Bedrohungen

Die Europäische Union ist bereits aktiv gegen die wichtigsten Bedrohungen vorgegangen.
  • Die EU hat auf die Anschläge vom 11. September 2001 mit einem Maßnahmenpaket reagiert, das die Einführung eines Europäischen Haftbefehls, Maßnahmen zur Bekämpfung der Finanzierung von terroristischen Gruppierungen und ein Rechtshilfeabkommen mit den Vereinigten Staaten umfasst. Sie ist weiterhin um eine stärkere Zusammenarbeit in diesem Bereich und verbesserten Schutz bemüht.
  • Die EU verfolgt schon seit vielen Jahren eine Nichtverbreitungspolitik. Sie hat unlängst ein weiteres Aktionsprogramm verabschiedet, das Maßnahmen zur Stärkung der Internationalen Atomenergie-Organisation, zur Verschärfung der Ausfuhrkontrollen und zur Bekämpfung illegaler Lieferungen und der illegalen Beschaffung vorsieht. Die EU tritt für die weltweite Befolgung der multilateralen Vertragsregelungen sowie für eine Verschärfung der Verträge und ihrer Kontrollbestimmungen ein.
  • Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten haben Unterstützung zur Beilegung von regionalen Konflikten geleistet und zusammengebrochenen Staaten wieder auf die Beine geholfen, unter anderem auf dem Balkan, in Afghanistan und in der DRK. Indem die EU auf dem Balkan auf die Wiederherstellung der verantwortungsvollen Staatsführung und die Förderung der Demokratie hinwirkt und die dortigen Behörden in die Lage versetzt, gegen die organisierte Kriminalität vorzugehen, wird in wirksamster Weise zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität in der EU selbst beigetragen.
Im Zeitalter der Globalisierung können ferne Bedrohungen ebenso ein Grund zur Besorgnis sein wie näher gelegene. Nukleare Tätigkeiten in Nordkorea, nukleare Risiken in Südasien und Proliferation im Nahen Osten sind allesamt ein Grund zur Besorgnis für Europa.

Terroristen und Kriminelle sind nunmehr in der Lage, weltweit zu operieren: Ihre Aktivitäten in Mittel- oder Südostasien können eine Bedrohung für die europäischen Länder oder ihre Bürger darstellen. Zugleich hat die globale Kommunikation regionale Konflikte und humanitäre Tragödien - wo auch immer sie sich ereignen - stärker in das Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit gerückt.

Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art. Die Proliferationsrisiken nehmen immer mehr zu; ohne Gegenmaßnahmen werden terroristische Netze immer gefährlicher. Staatlicher Zusammenbruch und organisierte Kriminalität breiten sich aus, wenn ihnen nicht entgegengewirkt wird - wie in Westafrika zu sehen war. Daher müssen wir bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden.

Im Gegensatz zu der massiv erkennbaren Bedrohung zur Zeit des Kalten Krieges ist keine der neuen Bedrohungen rein militärischer Natur und kann auch nicht mit rein militärischen Mitteln bewältigt werden. Jede dieser Bedrohungen erfordert eine Kombination von Instrumenten. Die Proliferation kann durch Ausfuhrkontrollen eingedämmt und mit politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Druckmitteln bekämpft werden, während gleichzeitig auch die tieferen politischen Ursachen angegangen werden. Zur Bekämpfung des Terrorismus kann eine Kombination aus Aufklärungsarbeit sowie polizeilichen, justiziellen, militärischen und sonstigen Mitteln erforderlich sein. In gescheiterten Staaten können militärische Mittel zur Wiederherstellung der Ordnung und humanitäre Mittel zur Bewältigung der Notsituation erforderlich sein. Regionale Konflikte bedürfen politischer Lösungen, in der Zeit nach Beilegung des Konflikts können aber auch militärische Mittel und eine wirksame Polizeiarbeit vonnöten sein. Wirtschaftliche Instrumente dienen dem Wiederaufbau, und ziviles Krisenmanagement trägt zum Wiederaufbau einer zivilen Regierung bei. Die Europäische Union ist besonders gut gerüstet, um auf solche komplexen Situationen zu reagieren.

Stärkung der Sicherheit in unserer Nachbarschaft

Selbst im Zeitalter der Globalisierung spielen die geografischen Aspekte noch immer eine wichtige Rolle. Es liegt im Interesse Europas, dass die angrenzenden Länder verantwortungsvoll regiert werden. Nachbarländer, die in gewaltsame Konflikte verstrickt sind, schwache Staaten, in denen organisierte Kriminalität gedeiht, zerrüttete Gesellschaften oder explosionsartig wachsende Bevölkerungen in Grenzregionen sind für Europa allemal Probleme.

Die Integration der beitretenden Staaten erhöht zwar unsere Sicherheit, bringt die EU aber auch in größere Nähe zu Krisengebieten. Wir müssen darauf hinarbeiten, dass östlich der Europäischen Union und an den Mittelmeergrenzen ein Ring verantwortungsvoll regierter Staaten entsteht, mit denen wir enge, auf Zusammenarbeit gegründete Beziehungen pflegen können.

Wie wichtig dies ist, lässt sich am Besten anhand des Balkans verdeutlichen. Dank der gemeinsamen Anstrengungen der EU, der Vereinigten Staaten, Russlands, der NATO und anderer internationaler Partner ist die Stabilität der Region nun nicht mehr durch den Ausbruch eines größeren Konflikts bedroht. Die Glaubwürdigkeit unserer Außenpolitik hängt von der Konsolidierung der in dieser Region erzielten Erfolge ab. Die europäische Perspektive ist ein strategisches Ziel und zugleich ein Anreiz für Reformen.

Es liegt nicht in unserem Interesse, dass durch die Erweiterung neue Trennungslinien in Europa entstehen. Wir müssen die Vorteile wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit auf unsere östlichen Nachbarn ausweiten und uns zugleich mit den politischen Problemen dieser Länder befassen. Wir müssen nun ein stärkeres und aktiveres Interesse für die Probleme im Südkaukasus aufbringen, der einmal ebenfalls eine Nachbarregion sein wird.

Die Lösung des israelisch-arabischen Konflikts ist für Europa eine strategische Priorität. Andernfalls bestehen geringe Aussichten, die anderen Probleme im Nahen Osten anzugehen. Die Europäische Union muss ihr Engagement aufrechterhalten und weiterhin bereit sein, bis zur Lösung des Problems Kräfte und Mittel zu investieren. Die Zweistaatenlösung, für die Europa seit langem eintritt, findet inzwischen breite Zustimmung. Die Durchsetzung dieser Lösung wird geeinte und kooperative Anstrengungen seitens der Europäischen Union, der Vereinigten Staaten, der Vereinten Nationen, Russlands und der Länder der Region, allen voran jedoch seitens der Israelis und der Palästinenser selbst erfordern.

Der Mittelmeerraum ist generell weiterhin mit ernsthaften Problemen wirtschaftlicher Stagnation, sozialer Unruhen und ungelöster Konflikte konfrontiert. Es liegt im Interesse der Europäischen Union, den Mittelmeerpartnern durch effizientere Gestaltung der wirtschafts-, sicherheits- und kulturpolitischen Zusammenarbeit im Rahmen des Barcelona-Prozesses weiter beizustehen. Ferner muss eine stärkeres Engagement gegenüber der arabischen Welt ins Auge gefasst werden.

Eine Weltordnung auf der Grundlage eines wirksamen Multilateralismus

In einer Welt globaler Bedrohungen, globaler Märkte und globaler Medien hängen unsere Sicherheit und unser Wohlstand immer mehr von einem wirksamen multilateralen System ab. Daher ist es unser Ziel, eine stärkere Weltgemeinschaft, gut funktionierende internationale Institutionen und eine geregelte Weltordnung zu schaffen.

Wir sind der Wahrung und Weiterentwicklung des Völkerrechts verpflichtet. Die Charta der Vereinten Nationen bildet den grundlegenden Rahmen für die internationalen Beziehungen. Dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen obliegt die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Die Stärkung der Vereinten Nationen und ihre Ausstattung mit den zur Erfüllung ihrer Aufgaben und für ein effizientes Handeln erforderlichen Mitteln ist für Europa ein vorrangiges Ziel.

Wir wollen, dass die internationalen Organisationen, Regelungen und Verträge Gefahren für den Frieden und die Sicherheit in der Welt wirksam abwenden, und müssen daher bereit sein, bei Verstößen gegen ihre Regeln zu handeln.

Schlüsselinstitutionen des internationalen Systems, wie beispielsweise die Welthandelsorganisation (WTO) und die internationalen Finanzinstitutionen, haben mehr Mitglieder aufgenommen. China ist der WTO beigetreten, und über den Beitritt Russlands wird verhandelt. Wir müssen uns darum bemühen, die Mitgliedschaft solcher Einrichtungen unter Aufrechterhaltung ihrer hohen Standards auszuweiten.

Die transatlantischen Beziehungen zählen zu den tragenden Elementen des internationalen Systems. Dies ist nicht nur im beiderseitigen Interesse, sondern stärkt auch die internationale Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit. Die NATO ist ein besonderer Ausdruck dieser Beziehungen.

Regionale Organisationen stärken ebenfalls die verantwortungsvolle Staatsführung weltweit. Für die Europäische Union sind Stärke und Wirkungskraft der OSZE und des Europarates von besonderer Bedeutung. Andere regionale Organisationen wie ASEAN, MERCOSUR und die Afrikanische Union leisten einen wichtigen Beitrag zu einer besseren Weltordnung.

Es ist eine Bedingung für eine geregelte Weltordnung, dass das Recht mit Entwicklungen wie Proliferation, Terrorismus und globaler Erwärmung Schritt hält. Wir haben ein Interesse daran, bestehende Institutionen wie die Welthandelsorganisation weiter auszubauen und neue Einrichtungen wie den Internationalen Strafgerichtshof zu unterstützen. Unsere eigene Erfahrung in Europa hat gezeigt, dass Sicherheit durch Vertrauensbildung und Rüstungskontrollregelungen gesteigert werden kann. Diese Instrumente können auch einen wichtigen Beitrag zu Sicherheit und Stabilität in unserer Nachbarschaft und darüber hinaus leisten.

Die Qualität der Staatengemeinschaft hängt von der Qualität der sie tragenden Regierungen ab. Der beste Schutz für unsere Sicherheit ist eine Welt verantwortungsvoll geführter demokratischer Staaten. Die geeignetsten Mittel zur Stärkung der Weltordnung sind die Verbreitung einer verantwortungsvollen Staatsführung, die Unterstützung von sozialen und politischen Reformen, die Bekämpfung von Korruption und Machtmissbrauch, die Einführung von Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenrechte.

Handelspolitik und Entwicklungspolitik können wirkungsvolle Instrumente zur Förderung von Reformen sein. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten sind als weltweit größter öffentlicher Hilfegeber und größte Handelsmacht bestens in der Lage, diese Ziele zu verfolgen.

Die Förderung einer besseren Staatsführung durch Hilfsprogramme, Konditionalität und gezielte handelspolitische Maßnahmen bleibt eine wichtige Komponente unserer Politik, die wir noch weiter verstärken müssen. Eine Welt, die als ein Ort der Gerechtigkeit und der Chancen für alle wahrgenommen wird, ist sicherer für die Europäische Union und ihre Bürger.

Eine Reihe von Staaten hat sich von der internationalen Staatengemeinschaft abgekehrt. Einige haben sich isoliert, andere verstoßen beharrlich gegen die internationalen Normen. Es ist zu wünschen, dass diese Staaten zur internationalen Gemeinschaft zurückfinden, und die EU sollte bereit sein, sie dabei zu unterstützen. Denen, die zu dieser Umkehr nicht bereit sind, sollte klar sein, dass sie dafür einen Preis bezahlen müssen, auch was ihre Beziehungen zur Europäischen Union anbelangt.

III. AUSWIRKUNGEN AUF DIE EUROPÄISCHE POLITIK

Die Europäische Union hat Fortschritte auf dem Weg zu einer kohärenten Außenpolitik und einer wirksamen Krisenbewältigung erzielt. Wir verfügen inzwischen über Instrumente, die wirksam eingesetzt werden können, wie wir in der Balkanregion und anderswo bewiesen haben. Wenn wir aber einen unserem Potenzial entsprechenden Beitrag leisten wollen, dann müssen wir noch aktiver, kohärenter und handlungsfähiger sein. Und wir müssen mit anderen zusammenarbeiten.

Aktiver bei der Verfolgung unserer strategischen Ziele. Dies gilt für die gesamte Palette der uns zur Verfügung stehenden Instrumente der Krisenbewältigung und Konfliktverhütung, einschließlich unserer Maßnahmen im politischen, diplomatischen, militärischen und zivilen, handels- und entwicklungspolitischen Bereich. Es bedarf einer aktiveren Politik, um den neuen, ständig wechselnden Bedrohungen entgegenzuwirken. Wir müssen eine Strategie-Kultur entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert.

Als eine Union mit 25 Mitgliedstaaten, die mehr als 160 Mrd. Euro für Verteidigung aufwenden, sollten wir mehrere Operationen gleichzeitig durchführen können. Die Union könnte einen besonderen Mehrwert erzielen, indem sie Operationen durchführt, bei denen sowohl militärische als auch zivile Fähigkeiten zum Einsatz gelangen.

Die EU muss die Vereinten Nationen in ihrem Kampf gegen Bedrohungen des Friedens und der Sicherheit in der Welt unterstützen. Die EU fühlt sich verpflichtet zu einer intensiveren Zusammenarbeit mit den VN bei der Hilfe für Länder, die Konflikte hinter sich haben, und zu verstärkter Unterstützung der VN bei kurzfristigen Krisenbewältigungseinsätzen.

Wir müssen fähig sein zu handeln, bevor sich die Lage in Nachbarländern verschlechtert, wenn es Anzeichen für Proliferation gibt und bevor es zu humanitären Krisen kommt. Durch präventives Engagement können schwierigere Probleme in der Zukunft vermieden werden. Eine Europäische Union, die größere Verantwortung übernimmt und sich aktiver einbringt, wird größeres politisches Gewicht besitzen.

Mehr Handlungsfähigkeit. Ein handlungsfähigeres Europa liegt in greifbarer Nähe, obwohl es Zeit brauchen wird, um unser gesamtes Potenzial zu entfalten. Die laufenden Maßnahmen - vor allem die Einrichtung einer Rüstungsagentur - führen uns in die richtige Richtung.

Damit wir unsere Streitkräfte zu flexibleren, mobilen Einsatzkräften umgestalten und sie in die Lage versetzen können, sich den neuen Bedrohungen zu stellen, müssen die Mittel für die Verteidigung aufgestockt und effektiver genutzt werden.

Durch einen systematischen Rückgriff auf zusammengelegte und gemeinsam genutzte Mittel könnten Duplizierungen verringert, die Gemeinkosten gesenkt und mittelfristig die Fähigkeiten ausgebaut werden.

Bei nahezu allen größeren Einsätzen ist auf militärische Effizienz ziviles Chaos gefolgt. Wir brauchen eine verstärkte Fähigkeit, damit alle notwendigen zivilen Mittel in und nach Krisen zum Tragen kommen.

Verstärkte diplomatische Fähigkeiten: Wir brauchen ein System, das die Ressourcen der Mitgliedstaaten mit denen der EU-Organe verbindet. Der Umgang mit Problemen, die weiter entfernt und uns fremder sind, erfordert besseres Verständnis und bessere Kommunikation.

Gemeinsame Bedrohungsanalysen sind die beste Grundlage für gemeinsame Maßnahmen. Dies erfordert einen besseren Austausch von Erkenntnissen zwischen den Mitgliedstaaten und mit den Partnerländern.

Mit dem Ausbau der Fähigkeiten in den verschiedenen Bereichen sollten wir an ein breiteres Spektrum von Missionen denken. Hierzu könnten gemeinsame Operationen zur Entwaffnung von Konfliktparteien, die Unterstützung von Drittländern bei der Terrorismusbekämpfung und eine Reform des Sicherheitsbereichs zählen. Der letztgenannte Punkt wäre Teil eines umfassenderen Aufbaus von staatlichen Institutionen.

Die Dauervereinbarungen zwischen der EU und der NATO, insbesondere die Berlin-Plus-Vereinbarung, verbessern die Einsatzfähigkeit der EU und bilden den Rahmen für die strategische Partnerschaft zwischen beiden Organisationen bei der Krisenbewältigung. Dies spiegelt unsere gemeinsame Entschlossenheit wieder, die Herausforderungen des neuen Jahrhunderts anzugehen.

Mehr Kohärenz. Entscheidend bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist, dass wir stärker sind, wenn wir gemeinsam handeln. Über die letzten Jahre hinweg haben wir eine Reihe verschiedener Instrumente mit jeweils eigener Struktur und Logik geschaffen.

Die Herausforderung besteht nun darin, die verschiedenen Instrumente und Fähigkeiten, darunter die europäischen Hilfsprogramme und den Europäischen Entwicklungsfonds, die militärischen und zivilen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten und andere Instrumente zu bündeln. All diese Instrumente und Fähigkeiten können von Wirkungen für unsere Sicherheit und die Sicherheit von Drittländern sein. Sicherheit ist die wichtigste Voraussetzung für Entwicklung.

Die diplomatischen Bemühungen sowie die Entwicklungs-, die Handels- und die Umweltpolitik müssen derselben Agenda folgen. In einer Krise ist eine einheitliche Führung durch nichts zu ersetzen.

Eine bessere Abstimmung zwischen dem außenpolitischen Handeln und der Justiz- und Innenpolitik ist von entscheidender Bedeutung bei der Bekämpfung des Terrorismus und der organisierten Kriminalität.

Einer stärkeren Kohärenz bedarf es nicht nur zwischen den EU-Instrumenten, sondern auch in Bezug auf das außenpolitische Handeln der einzelnen Mitgliedstaaten.

Eine kohärente Politik ist auch auf regionaler Ebene gefragt, besonders im Umgang mit Konflikten. Probleme lassen sich selten für ein Land allein und ohne regionale Unterstützung lösen, wie die Erfahrung sowohl auf dem Balkan als auch in Westafrika lehrt.

Zusammenarbeit mit den Partnern. Es gibt wohl kaum ein Problem, das wir allein bewältigen können. Bei den oben beschriebenen Bedrohungen handelt es sich um gemeinsame Bedrohungen, die auch alle unsere engsten Partner betreffen. Internationale Zusammenarbeit ist eine Notwendigkeit. Wir müssen unsere Ziele sowohl im Rahmen der multilateralen Zusammenarbeit in den internationalen Organisationen als auch durch Partnerschaften mit wichtigen Akteuren verfolgen.

Die transatlantischen Beziehungen sind unersetzlich. In gemeinsamem Handeln können die Europäische Union und die Vereinigten Staaten eine mächtige Kraft zum Wohl der Welt sein. Unser Ziel sollte eine wirkungsvolle, ausgewogene Partnerschaft mit den USA sein. Dies ist ein weiterer Grund, warum die EU ihre Fähigkeiten weiter ausbauen und ihre Kohärenz verstärken muss.

Wir müssen uns weiter um engere Beziehungen zu Russland bemühen, das einen wichtigen Faktor für unsere Sicherheit und unseren Wohlstand bildet. Die Verfolgung gemeinsamer Werte wird die Fortschritte auf dem Weg zu einer strategischen Partnerschaft bestärken.

Wir haben historische, geografische und kulturelle Bande mit jedem Teil dieser Welt, mit unseren Nachbarn im Nahen Osten, unseren Partnern in Afrika, in Lateinamerika und in Asien. Diese Beziehungen sind ein wichtiges Fundament. Insbesondere müssen wir danach streben, strategische Partnerschaften mit Japan, China, Kanada und Indien sowie mit all jenen zu entwickeln, die unsere Ziele und Werte teilen und bereit sind, sich dafür einzusetzen.

Fazit

Wir leben in einer Welt mit neuen Gefahren, aber auch mit neuen Chancen. Die Europäische Union besitzt das Potenzial, einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Bedrohungen wie auch zur Nutzung der Chancen zu leisten. Eine aktive und handlungsfähige Europäische Union könnte Einfluss im Weltmaßstab ausüben. Damit würde sie zu einem wirksamen multilateralen System beitragen, das zu einer Welt führt, die gerechter, sicherer und stärker geeint ist.



Eine kritische Stellungnahme aus der Friedensbewegung zur "Sicherheitsstrategie" können Sie hier lesen:
"Die Europäische Union wird nicht wiederzuerkennen sein".


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