"Die Europäische Union wird nicht wiederzuerkennen sein"
Stellungnahme aus der Friedensbewegung zum EU-Gipfel und der "Europäischen Sicherheitsstrategie"
Im Folgenden dokumentieren wir eine Presseerklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag zur Verabschiedung der neuen Europäischen Sicherheitsstrategie beim EU-Gipfel 12.-14. Dezember 2003 in Brüssel. Die endgültige Doktrin war am 9. Dezember von den Außenministern der EU verabschiedet worden; sie wurde aber nirgendwo veröffentlicht. Zuverlässigen Quellen zufolge ist die Doktrin fast identisch mit dem sog. Solana-Papier vom Juni 2003.
Pressemitteilung des Bundesausschuss Friedensratschlag-
Fundamentale Wende in der Geschichte der EU
- Präventivkriegskonzeption ŕ la Bush-Doktrin
- EU wird Interventionsmacht - Bundesregierung an vorderster Front
- Friedensbewegung: Ja zu Europa - Nein zur Militärverfassung
Anlässlich des EU-Gipfels in Brüssel erklären die Sprecher des
Bundesausschusses Friedensratschlag, Lühr Henken (Hamburg) und Dr. Peter
Strutynski (Kassel):
Heute beginnt in Brüssel der EU-Gipfel, der die letzten Hürden vor der
Verabschiedung der EU-Verfassung aus dem Weg räumen soll. Förmlich
verabschiedet werden soll auch die neue Europäische Sicherheitsstrategie
(ESS), die vor drei Tagen von den EU-Außenministern abgesegnet wurde.
Auch wenn kaum jemand darüber spricht: Damit verändert die Europäische
Union ihren Charakter grundlegend.
Mit der Annahme der vom Außenbeauftragten der EU, Javier Solana,
ausgearbeiteten ESS durch die Staats- und Regierungschefs der EU begeben
sich die EU-Staaten auf die Linie der Nationalen Sicherheitsstrategie
des US-Präsidenten vom September 2002 ("Bush-Doktrin"). Das Novum einer
Militärdoktrin markiert eine fundamentale historische Wende in der
Geschichte der Europäischen Union von einer "Zivilmacht" zur globalen
Interventionsmacht. Die EU wird nicht wiederzuerkennen sein.
Ausgehend von einer Bedrohungsanalyse, der zufolge Gefahren vor allem
vom internationalen Terrorismus, von der Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen und dem Scheitern von Staaten (failed states)
ausgehen, wird der zivilen Prävention zwar der Vorrang eingeräumt,
jedoch die "robuste Intervention" militärischer Art nicht
ausgeschlossen. Frühzeitiges und schnelles Eingreifen wird
hervorgehoben, wobei "die erste Linie der Verteidigung oft auswärts
liegen wird". Damit wird die im Aufbau befindliche Schnelle
Eingreiftruppe der EU auf eine Präventivkriegsstrategie ausgerichtet,
wie sie sich auch in der "Bush-Doktrin" findet.
Analog zum Entwurf einer "Verfassung für Europa", der in Art. 40 Ziff. 3
eine Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zur schrittweisen Erhöhung ihrer
militärischen Fähigkeiten festschreibt, verlangt die Militärdoktrin
"mehr Mittel für die Verteidigung", um den Aufbau flexibler mobiler
Truppen zu finanzieren.
Auch wenn die volle Einsatzfähigkeit der Schnellen EU-Eingreiftruppe von
80.000 Soldaten aller Teilstreitkräfte bis Ende dieses Jahres - wie es
ursprünglich geplant war - nicht erreicht wird, (allenfalls reicht es
derzeit für den Einsatz weniger Brigaden), so sollen Militärdoktrin und
EU-Verfassung die EU-Staaten auf eine ambitionierte Militarisierung der
EU festlegen.
Die deutsche Regierung hat bisher maßgeblich zur Prägung dieser Politik
beigetragen. Sie will mit 18.000 Soldaten das größte nationale
Kontingent der 80.000 Soldaten stellen, verfügt über drei von sieben
Hauptquartieren der EU-Staaten zur Führung von EU-Truppen, schafft sich
bis 2007 ein universelles hochauflösendes globales
Aufklärungssatellitensystem in nationaler Regie, ist federführend beim
auch militärisch nutzbaren globalen europäischen
Navigationssatellitensystem Galileo und betreibt mit Marschflugkörpern,
Korvetten, Laser- und Streubomben und anderen Offensivwaffen eine
aggressive Aufrüstungspolitik. Die Bundeswehr soll in die Lage versetzt
werden, an vorderster Front in den Kriegseinsatz ziehen zu können.
Diese Politik stellt eine Bedrohung für die Welt dar!
Erfahrungsgemäß lassen sich Selbstmordterroristen weder durch noch so
viele Waffen von ihren Untaten abschrecken noch mit Krieg bekämpfen. Im
Gegenteil: Krieg fördert den Terror noch! Die Bekämpfung der Verbreitung
von Massenvernichtungswaffen dient erfahrungsgemäß als Vorwand für
Krieg, die Drohung mit Krieg provoziert jedoch in gefährlicher Weise den
Aufbau von Massenvernichtungspotenzialen in den bedrohten Staaten, weil
ihnen eine effektive Verteidigung mit konventionellen Mitteln gegen die
vernichtende Überlegenheit der Angreifer, zu denen künftig auch die EU
zählen könnte, unmöglich erscheint.
Diese EU-Politik verstärkt die Unsicherheit auf der Erde! Sie ist in
hohem Maße kontraproduktiv und teuer. Nicht Aufrüstung ist das Gebot der
Stunde, sondern Abrüstung!
Der Bundesausschuss Friedensratschlag lehnt aus all diesen Gründen die
Europäische Sicherheitsstrategie und den Verfassungsentwurf ab. Wir
sagen Ja zu Europa, aber Nein zur Militärverfassung. Die
Friedensbewegung wird diese Position in den nächsten Wochen und Monaten
im europäischen Rahmen zusammen mit anderen sozialen Bewegungen
(Europäisches Sozialforum, Attac) in der Öffentlichkeit propagieren. Wir
treten für ein Europa ein, das sich dem Krieg verweigert.
Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Lühr Henken (Hamburg), Peter Strutynski (Kassel)
Kassel/Hamburg, 12. Dezember 2003
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