"Die Kritik bleibt im vollen Umfang erhalten"
Gregor Gysi zur Position der Linken zum EU-Vertrag von Lissabon / "Das Positive daran nutzen"
"Die Kritik bleibt im vollen Umfang erhalten"
Gregor Gysi zur Position der Linken zum EU-Vertrag von Lissabon / "Das Positive daran nutzen"
Sie haben gegenüber der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« betont, Sie wollten ein
integriertes Europa. Das klingt so, als gäbe es noch andere Positionen in der LINKEN.
Das haben Sie falsch verstanden. Das war eine Auseinandersetzung damit, dass uns in den Medien
und von anderen Parteien immer Europafeindlichkeit unterstellt wird. Deshalb lege ich Wert darauf
festzustellen, dass die ganze Partei, selbstverständlich auch ich, ein integriertes Europa will. Denn
nur ein integriertes Europa kann Krieg zwischen den EU-Staaten ausschließen. Und zweitens sind
wir nur als integriertes Europa ökonomisch in der Lage, den aktuellen Herausforderungen zu
begegnen.
Eine feste Position der LINKEN war bisher die strikte Ablehnung des Lissabon-Vertrags. Jetzt wollen
Sie ihn akzeptieren. Ist das die Macht des Faktischen oder eine politische Wende?
Nein, es gibt keine politische Wende. Unsere Kritik am Lissabonner Vertrag bleibt im vollen Umfang
erhalten. Allerdings haben wir daran mitgewirkt, dass es eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zur neuen Interpretation des Vertrages gibt. In sechs Punkten wurden
im Begleitgesetz Änderungen beschlossen; in vielen Fragen wurde im Urteil eine andere
Interpretation des Textes des Vertrages vorgenommen als sie bisher galt. Damit hat sich der
Lissabon-Vertrag für Deutschland verändert. Zudem: Ich habe nur gesagt, wenn denn der Vertrag
ratifiziert ist und gilt, werden wir selbstverständlich Völkerrecht respektieren und versuchen, das
Positive daran zu nutzen. Wir werden aber darauf bestehen, dass der Vertrag so interpretiert wird,
wie es das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an
ein historisches Beispiel, den Einigungsvertrag, den meine Fraktion in der Volkskammer abgelehnt
hat. Ich habe das damals begründet und in der Sitzung gesagt, wenn das Abkommen mehrheitlich
beschlossen wird und in Kraft tritt, werden wir wahrscheinlich am häufigsten an seine Erfüllung
erinnern. Genauso ist es gekommen. Der Einigungsvertrag wird im Bundestag überhaupt nur noch
von uns erwähnt, von den anderen nicht mehr.
Das Verfassungsgericht hat die Interpretation für Deutschland vorgenommen. Sollten sich andere
Staaten nach deutscher Rechtsprechung richten?
Müssen sie nicht, aber Deutschland muss sich danach richten. Die Regierung, der Bundestag und
der Bundesrat sind daran gebunden. Wir hätten uns auch gefreut, wenn es eine entsprechende
Vorbehaltserklärung der Bundesregierung zum Vertrag gegeben hätte. Die hätte man vor der
Ratifizierung an andere Staaten übersenden und damit klarmachen können, wie unser Gericht das
Ganze interpretiert. Dann hätten ein Jahr lang die anderen Länder einen Widerspruch anmelden
können. Wenn sie keinen angemeldet hätten, wäre das verbindlich gewesen auch für die anderen,
zumindest was die deutsche Sicht anbelangt. Das wollte die Mehrheit des Bundestages nicht.
Trotzdem ist es so, dass die Bundesregierung, der Bundestag und der Bundesrat an das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts gebunden bleiben.
Welche konkreten Konsequenzen hat das?
Ein Beispiel: In dem Vertrag steht, dass die EU Truppen einsetzen kann. Wir haben gesagt, dass
dies unsere diesbezügliche Gesetzgebung umgeht, dass der Bundestag immer über einen solchen
Einsatz zu entscheiden hätte. So könnte die Regierung einem solchen Vorhaben einfach zustimmen.
Das Bundesverfassungsgericht hat nun deutlich gemacht, dass eine Zustimmung der
Bundesregierung nur gegeben werden darf, wenn eine Zustimmung des Bundestags vorliegt. Das
kann in anderen Staaten durchaus anders verstanden und gehandhabt werden. Aber gerade durch
unsere Organklage hat das Bundesverfassungsgericht für Deutschland seine verbindliche
Festlegung getroffen.
Die Linksfraktion im Europäischen Parlament ist nicht an die deutsche Rechtsprechung gebunden.
Könnte sie den Lissabon-Vertrag anders auslegen?
Die Europafraktion teilt unsere Kritik am Vertrag von Lissabon, zumindest unsere deutsche Gruppe.
Und was die linke Fraktion als Ganzes betrifft, da gibt es zum Teil noch schärfere Kritik, zum Teil
auch weniger scharfe. Wir haben gesagt, der Vertrag ist falsch, man muss ihn anders schließen, wir
wollen kein Europa der Eliten, sondern ein Europa der Bevölkerungen. Das
Bundesverfassungsgericht hat genau das akzeptiert. Im Übrigen wird es so sein, dass dann, wenn
der Vertrag in Kraft getreten ist, um die Rechte, die beispielsweise das Parlament bekommt,
gestritten und gekämpft wird.
Die Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments ist ein von der Linken anerkannter
positiver Aspekt des Vertrages. Gibt es weitere?
Es gibt schon ein paar Festlegungen hinsichtlich politischer Freiheiten, die wichtig sind. Ein bisschen
kümmerlich sind die sozialen Rechte. Zwar ist vom Sozialen die Rede, aber es ist nicht ausgeprägt.
Das ist ja auch eine Schwäche des Grundgesetzes, in dem die politischen Freiheiten
festgeschrieben sind, aber soziale Grundrechte musste das Bundesverfassungsgericht über die
Sozialstaatsklausel erarbeiten. Es gibt positive Bezüge, das werden wir aber noch einmal im Detail
durchgehen. Das Hauptproblem ist jedoch, macht man »Europa« mit oder ohne Bevölkerungen.
Wenn ein Verfassungsentwurf vorgelegt wird und drei Völker dazu Nein sagen, nämlich das
französische, das niederländische und das irische, dann muss man sich überlegen, wie man den
Entwurf so ändert, dass alle Bevölkerungen Ja sagen. Und nicht, wie es gemacht wurde, einen
kleinen Teil weglassen, das Papier nicht mehr Verfassung nennen und die Bevölkerungen nicht
mehr fragen.
Hätte die Linke nicht zum Beispiel die im Lissabon-Vertrag vorgesehene Bürgerinitiative, die
zumindest partiell Mitsprache in europäischen Fragen ermöglichen kann, als Projekt herausgreifen
und forcieren können?
Die Bürgerinitiativen werden wir natürlich auch nutzen. Aber eines können wir nicht machen: Nein
zum Vertrag sagen, aber ihn schon umsetzen.
Lothar Bisky, Fraktionschef der Linken im EU-Parlament, will auf europäischer Ebene gegen die
negativen Auswirkungen des Lissabonner Vertrages kämpfen. Ist es nicht illusorisch, dass die Linke
gegen den Willen der EU-Regierungen etwas blockieren oder verhindern kann?
Das kann sie nicht. Aber sie kann Öffentlichkeit herstellen. Und Öffentlichkeit kann immer etwas
bewirken, unterschätzen Sie nicht die Bedeutung des Zeitgeistes. Ich habe den neoliberalen
Zeitgeist erlebt, als man mit Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit wirkte, als sei man aus dem
19. Jahrhundert übrig geblieben. Und ich habe jetzt den Zeitgeist in den letzten Jahren erlebt, als die
soziale Frage wieder in den Mittelpunkt rückte, so dass selbst Union und FDP immer so tun, als ob
sie sozial dächten. Also: Linke Politik in Europa hat schon Folgen, aber man kann sie natürlich nicht
ausschließlich auf dem Beschlussweg durchsetzen.
* Aus: Neues Deutschland, 23. Oktober 2009
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