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Die Ära der Postdemokratie

Hintergrund. Die Wirtschafts- und Finanzkrise führt in Europa zu mehr Autoritarismus in der Herrschaftsstabilisierung des Kapitalismus. Die EU ist dabei besonders das Vehikel deutscher Interessen

Von Thomas Eipeldauer *

In diesem Jahrhundert haben Linke auf der ganzen Welt – zum Teil friedlich und Schritt für Schritt, zum Teil aber auch im Angesicht von Gewalt und Repression – dafür gekämpft, den normalen Menschen auf der politischen Bühne Gehör zu verschaffen. Werden diese Stimmen nun wieder aus der öffentlichen Arena verdrängt, da die ökonomischen Eliten ihre Einflußmöglichkeiten weiterhin nutzen, während diejenigen des demos geschwächt werden?« Diese Frage stellte sich der Politikwissenschaftler Colin Crouch [1] schon einige Zeit vor der sogenannten Euro-Krise, und er beantwortete sie, indem er einen Begriff von »Postdemokratie« entwickelt, der besagt, daß wir in Gesellschaften leben, in denen »die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt sind«, während sich »politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtung zurückentwickeln, die typisch war für vordemokratische Zeiten: Der Einfluß privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert.«

Nun ist Crouch kein Revolutionär, sondern ein aufmerksamer, kritischer Gelehrter und hat deshalb eine Reihe sozialdemokratischer, also falscher Vorstellungen darüber, was bürgerliche Demokratie ist. In einem Punkt aber hat ihm die Entwicklung Europas nach 2008 mehr als recht gegeben: Die politische Absicherung ökonomischer Herrschaft funktioniert zunehmend autoritärer. Die Illusion der Massenpartizipation ist der offenen Durchsetzung der Herrschaftsstabilisierung gegen das, was die Mehrheit der Bevölkerung will, gewichen. Diese Veränderungen haben sich zwar in allen entwickelten kapitalistischen Demokratien mal stärker, mal schwächer vollzogen, allerdings in unterschiedlicher Form.

In Europa spielt dabei die Durchsetzung der Interessen der Bourgeoisien der ökonomisch stärkeren Nationen mittels transnationaler Institutionen – Internationalem Währungsfonds (IWF), Europäischer Zentralbank, Euro-Gruppe usw. – die entscheidende Rolle.

Troika diktiert Griechenland

Damit man sich darunter etwas vorstellen kann, zwei Beispiele. Zuerst das geradezu klassische: Griechenland, die »erste Kolonie der Euro-Zone«.[2] Seit spätestens 2009 hat das griechische Parlament ein Budgetrecht höchstens noch in dem Sinne, in dem man während eines Raubüberfalls die Freiheit hat, zwischen Geld und Leben zu wählen. Das Geschäft funktioniert, seit Hellas sich keine Mittel mehr auf den Finanzmärkten besorgen konnte, folgendermaßen: Im Austausch für Kredite der anderen Euro-Länder muß Athen Austeritätsmaßnahmen durchsetzen, die in ihrer zerstörerischen Tragweite nahezu präzedenzlos sind. Die Troika, in Gestalt je eines Vertreters von EZB, EU-Komission und IWF, prüft vor der Auszahlung jeder Tranche der »Hilfsgelder«, ob Griechenland seine Aufgaben erfüllt hat. Ioannis Panagopoulos, der Chef des Gewerkschaftsdachverbands GSEE, nennt das nicht unzutreffend beim Namen: »Offenbar versucht die Troika, die griechische Regierung zu erpressen, statt mit ihr zu verhandeln. Unsere Regierung muß die Forderungen von Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und EU annehmen, um weitere Kredite zu bekommen« (Zeit online vom 8.2.2012).

Vor jeder Wahl wird aus Berlin und Brüssel Druck auf die politische Kaste in Athen und indirekt durch die Konstruktion von Schreckensszenarien im Fall einer nicht EU-konformen Wahl auch auf die Bevölkerung ausgeübt. Parteien müssen sich bereits vor dem Urnengang auf die Fortsetzung des »Sparprogramms« verpflichten. Rechtzeitig vor den Parlamentswahlen in Griechenland meldete sich Bundesbankpräsident Jens Weidmann zu Wort: Egal, wer gewählt werde, selbstverständlich müsse sich jede mögliche Regierung zu den Verpflichtungen gegenüber der EU-Troika bekennen. Am 19. Mai 2012 ließ er die Griechen via Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wissen: »Wenn ein Land Vereinbarungen einseitig aufkündigt, die nach langem Ringen gerade erst getroffen wurden und mit umfangreichen Hilfen verbunden sind, müssen die Konsequenzen klar sein. Eine solche Entscheidung würde sicherlich Griechenland am härtesten treffen.«

Neben den »öffentlich« ausgehandelten Maßnahmen kursieren in internen Papieren noch weitergehende: Am 10. September 2012 berichtete die taz etwa von einem Geheimpapier der Troika, in dem das griechische Finanzministerium aufgefordert wurde, die Sechstagewoche einzuführen und den Kündigungsschutz zu lockern, beides Maßnahmen, die nicht Teil des »offiziellen« Forderungskatalogs waren.

Daß wesentliche Weichenstellungen von dem Urteil europäischer Technokraten abhängen, führt klarerweise zu einer Entwertung bürgerlich demokratischer Entscheidungsprozesse. »Die Wahlen am Sonntag mögen außerordentlich wichtig sein. Aber der entscheidende Tag ist nicht der 17. Juni. Wichtiger wird jener Tag sein, an dem die Troika aus EZB, IWF und EU nach Athen zurückkommt, um die neue Regierung zu treffen – welche es auch immer sein mag«, schrieb Giorgos Malouhos auf Spiegel online kurz vor dem Urnengang in Athen im Juni 2012.

Griechenland ist auch in der Hinsicht exemplarisch für den zunehmenden Autoritarismus der Herrschaftssicherung, weil hier ein großer Teil der Bevölkerung versucht hat und immer noch versucht, sich gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen zu wehren – und dabei mit immer brutalerer Repression konfrontiert wurde.

Zwei weitere Momente machen die Klassizität des Wandels in den Herrschaftsmethoden in Hellas aus: Die Regierung versucht, Angst und Frust der Bevölkerung rassistisch zu kanalisieren, indem sie die »Metanastes«, die »Immigranten«, als Quelle allen Übels präsentiert und dann auch gleich beweisen will, wie konsequent sie das »Problem« angeht: Ein militärisch gesicherter Zaun an der Grenze zur Türkei, Zehntausende rassistische Kontrollen und Festnahmen durch die Polizei und Auffanglager für die gefangenen Flüchtlinge.

Und zweitens: In Griechenland geht diese Postdemokratisierung mit massiven Angriffen auf die erkämpften Rechte der Arbeiterbewegung einher. Das offenkundigste Beispiel ist die sogenannte Epistrateusi, die Zwangsdienstverpflichtung. Dieses Notstandsgesetz besagt: Wenn Arbeiter streiken und besondere »nationale« Interessen dadurch gefährdet sind, kann der Ausstand für illegal erklärt werden. Die Beschäftigten stehen dann vor der Option, aufzugeben oder in den Knast zu gehen. Zweimal hat die Athener Regierung dieses Instrument allein in den ersten Wochen dieses Jahres genutzt, einmal gegen Metro-Arbeiter, dann gegen Seeleute. Hat man einmal mitangesehen, wie Sondereinsatz­einheiten der MAT streikende Seeleute quasi an Bord prügeln, wird einem durchaus plausibel, warum Aktivisten in Griechenland von einem schleichenden Faschisierungsprozeß sprechen.

Zypern: Lösung nur über EU

Eine technokratischere Version des neuen europäischen Autoritarismus zeigte die sogenannte Zypern-Rettung: In den Morgenstunden des 16. März 2013 war der Deal ausgehandelt worden. Die Euro-Gruppe hatte sich auf ein Paket von Leistungen verständigt, die das Land zu erfüllen hat, will es Gelder aus dem Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) zur Sanierung seiner – auch wegen hoher Verluste in Griechenland – maroden Banken bekommen. Eine der Maßnahmen war eine generelle Zwangsabgabe auf Einlagen (später auf Guthaben ab 100000 Euro eingegrenzt). Am folgenden Dienstag abend, dem 19. März, stimmten die Abgeordneten in Nikosia gegen die Maßnahme. Eigentlich ist exakt das »normal«, denn die Zustimmung des Parlaments ist eine Voraussetzung für die Durchsetzung der doch recht weitgehenden Eingriffe in die zypriotische Volkswirtschaft.

Nun wird allerdings genau dieses »normale« Verhalten, ein letztes Aufbäumen nationalstaatlicher repräsentativer Demokratie im Zusammenhang mit der »Euro-Rettung« zum Skandal. Deutsche Zeitungen empörten sich über die unbotmäßigen Zyprioten, die Bundeskanzlerin zeigte sich »verärgert«, der Fraktionschef der CDU, Volker Kauder, drohte: »Zypern spielt mit dem Feuer.«

Im Inselstaat selbst machte man sich auf die Suche nach einem Plan »B«. Nun spielte hier keine Rolle, ob der gut oder schlecht war. Was sich in den folgenden Tagen zeigte, war, daß er ohnehin keine Chance auf Realisierung hatte. Die Europäische Zentralbank erklärte nämlich schon vor der offiziellen Präsentation des Alternativplans: »Das EZB-Direktorium hat beschlossen, die gegenwärtige Notfallunterstützung (Emergency Liquidity Assistance, ELA) bis Montag, dem 25. März 2013, aufrechtzuerhalten. Danach kann über die Notfallunterstützung nur beschieden werden, wenn ein EU/IWF-Programm eingesetzt ist, das die Solvenz der betreffenden Banken garantiert.«

Kurz: Zypern wurde mitten im Prozeß des Überlegens, wie man – ob mit russischen Krediten oder einem staalichen Fonds – eine Alternative zum ursprünglichen Plan der Euro-Gruppe hinbekommt, klipp und klar gesagt: Es reicht nicht, daß ihr irgendwie garantiert, daß die Kohle reinkommt, sondern ihr müßt das mittels eines »EU/IWF-Programms« tun. Wie die »Verhandlungen« zwischen Troika und Zypern ausgesehen haben mögen, dokumentieren die verzweifelten Worte des zypriotischen Präsidenten Nikos Anastasiadis während der Gespräche: »Ich mache euch einen Vorschlag. Den lehnt ihr ab. Ich schicke euch einen anderen: das Gleiche. Was wollt ihr denn? Wollt ihr mich zum Rücktritt zwingen? Wenn es das ist, was ihr wollt, dann sagt es.« Fragt man nun, wie das etwa einige Journalisten in der Bundespressekonferenz getan haben, einen »Experten«, wie es mit den Alternativen aussieht, sagt der – hier in Gestalt von Wolfgang Schäubles Pressesprecher Martin Kotthaus – sinngemäß: Wir können da selbst nichts tun. Die Troika hat diese und jene Zahlen errechnet. Ein russischer Kredit beispielweise würde diese Zahlen verschieben, und das geht nicht.

Es ist die typische Argumentationsweise von Technokraten: Es herrscht ein objektiver Zwang, so zu handeln, denn »die Zahlen« erlauben nichts anderes. Die handfesten ökonomischen wie politischen Interessen, die sich in den Zahlen ausdrücken, werden dabei ausgeblendet. Denn das Problem an den Alternativvorschlägen Zyperns war: Es darf keine geben, sonst könnten womöglich noch andere Regierungen von ihrer servilen Politik der Durchsetzung deutscher Interessen abweichen. In einer grotesken Umkehrung der wirklichen Situation beteuerte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble am 24. März 2013 im Gespräch mit der Welt am Sonntag: »Ich bin aber auch dafür bekannt, daß ich mich nicht erpressen lasse – von niemand und durch nichts.«

Institutionalisierte »Erpressung«

Wenn überhaupt die Rede von »Erpressung« sein soll, dann wird umgekehrt ein Schuh draus: Das Krisenbewältigungssystem der EU trägt Züge einer institutionalisierten Form der »Erpressung«. Die zwei neben der EZB dabei maßgeblichen Institutionen sind der Europäische Stabilisierungsmechanismus (ESM) und seine Vorgängerin, die Ende Juni 2013 auslaufende Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). Diese sollen Notkredite und Bürgschaften für jene Länder bereitstellen, die sich anders nicht mehr oder nur noch sehr schwer Liquidität beschaffen können.

Nehmen Länder diese »Hilfe« in Anspruch, verpflichten sie sich zu »strengen Auflagen«, wie es im Vertrag zur Einrichtung des ESM heißt (dasselbe gilt für die EFSF und für die Anleihenkaufprogramme der EZB). Das Prozedere läuft so: Stellt ein Staat einen Antrag auf Gelder, wird zunächst der Troika aufgetragen, ein »Memorandum of Understanding« (MoU) auszuarbeiten. Das MoU enthält die Auflagen, die der Antragsteller zu erfüllen hat. Wer beim ESM den Ton angibt, läßt sich bereits an den Stimmrechten ablesen. Diese bemessen sich nach der Zahl der Anteile, die das jeweilige Land zeichnet, Deutschland verfügt über nahezu 30 Prozent der Stimmrechte und kann damit bei allen wichtigen Entscheidungen, die entweder einstimmig oder mit Mehrheit von 80 Prozent gefällt werden müssen, Veto einlegen.

Letztlich läßt sich aber auch am Inhalt der Auflagen ablesen, wes Geistes Kind sie sind. Der in Griechenland durchgesetzten Verarmungspolitik mit dem Ziel der Verbilligung der Ware Arbeitskraft sieht man die Handschrift Berlins so offensichtlich an, daß sich außerhalb der Bundesrepublik kaum noch jemand Illusionen darüber macht, wer hier federführend ist. Nimmt man z.B. das Portugal 2011 aufgenötigte MoU, sind darin vorgeschrieben: Einfrieren der Löhne im öffentlichen Sektor, Kürzungen im Gesundheitsbereich, die Reduzierung von Renten über 1500 Euro, die »Beschleunigung« des Privatisierungsprogramms, eine Reihe von »Arbeitsmarktreformen«.

Ist das MoU unterzeichnet, muß die EU-Komission, unterstützt von EZB und IWF, »überwachen«, daß das jeweilige Land die darin vorgesehene Zerstörung seiner Volkswirtschaft in die Tat umsetzt. Gewinnen die Vertreter der Troika den Eindruck, es gehe zu langsam voran, ist die Auszahlung der nächsten Tranche der bewilligten Hilfsgelder in Gefahr. Dieser Mechanismus bewirkt, daß die nationalstaatlichen Parlamente, unabhängig davon, wie die Wahlen ausgehen, von vorneherein im wesentlichen an die bereits beschlossenen Austeritätsmaßnahmen gebunden sind.

… halb sanken sie hin

Das alles klingt nun so, als wäre die politische Elite der Peripherieländer »unschuldig« und bloß durch die Gewalt stärkerer Fraktionen der Bourgeoisie getrieben. Doch das stimmt nicht. Halb zog man sie, halb sanken sie hin. Die herrschende Klasse der Peripherieländer fürchtet sich mehr vor der eigenen Bevölkerung als vor dem partiellen Verlust ihrer Eigenständigkeit. Es sind klassische Kompradoren, die nur noch im Verbund mit eben denen, die auch ihnen ihre Interessen aufzwingen, die Möglichkeit des eigenen Machterhalts sehen.

Als das Verfassungsgericht in Lissabon Anfang April einige der Portugal nach dessen Kreditansuchen 2011 aufgezwungene Maßnahmen für rechtswidrig erklärte, meldete sich sofort, sichtbar verärgert über den Richterspruch, der konservative Regierungschef des Landes, Pedro Passos Coelho, zu Wort und schwor: »Erlauben Sie mir, das ganz klar zu sagen, so daß nicht der geringste Zweifel aufkommen kann: Die Regierung steht hinter allen Zielen des Bailout-Programms und bekräftigt, daß sie allen ihren nationalen wie internationalen Verpflichtungen nachkommen wird.«

Der Furor, den die jeweils regierenden Parteien, bei der Durchsetzung der Maßnahmen an den Tag legen, geht in einigen Fällen soweit, daß sie nicht einmal das eigene Fortbestehen im Blick behalten. Die griechische PASOK etwa hat durch die Umsetzung der Austeritätsdiktate ihre eigene vor allem auf einem Klientelsystem im öffentlichen Dienst basierende Massenbasis so lange dezimiert, bis auch von der Partei kaum noch etwas übrig war. Für die Umsetzung der oktroyierten Maßnahmen stellt das kurzfristig allerdings noch kein Problem dar, schließlich verfügt jedes europäische Parlament über eine Reihe bürgerlicher Parteien. Fällt die eine weg, kann die andere übernehmen.

Dennoch birgt diese »Kooperationsbereitschaft« der traditionellen Großparteien einiges an politischem Sprengstoff. Denn langfristig werden sie den Krieg gegen die eigene Bevölkerung nicht ohne Stimm- und Mitgliedsverluste führen können. Dies eröffnet Möglichkeiten für die Linke, wie etwa der rasante Aufstieg der griechischen Linkspartei SYRIZA zeigt, die im Moment Umfragen zufolge stimmenstärkste Kraft wäre. Gleichzeitig birgt dies auch die Gefahr, daß breitere Schichten sich rechten oder faschistischen Parteien zuwenden könnten, vor allem dort, wo sich diese als Alternative zur EU präsentieren.

Nationalistische Stereotype

Das Euro-Regime der Kernländer wird gegenüber der eigenen Bevölkerung durch das Schüren nationalistischer Ressentiments abgesichert. Springers Hetze gegen »faule« Griechen und »Zypr-Idioten« (Nikolaus Blome in Bild vom 20.3.2013) sowie die »Bestrafungsrhetorik« – wie der ehemalige griechische Außenminister Stavros Lambrinidis es nannte – deutscher Politiker gegenüber den Peripherieländern bleiben in der Bevölkerung nicht ohne Resonanz.

Erschreckend ist beispielsweise eine im März 2013 veröffentlichte Studie einer Arbeitsgruppe um die Psychologen Elmar Brähler und Oliver Decker an der Universität Leipzig. Der Aussage »Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland« stimmten 29,3 Prozent »überwiegend« oder »voll und ganz« zu, zusätzliche 31,7 Prozent gingen teilweise d’accord. Ähnlich viele der Befragten waren der Ansicht, daß »das oberste Ziel der deutschen Politik« sein sollte, »Deutschland die Macht und Geltung zu verschaffen, die ihm zusteht« (insgesamt 57,3 Prozent von teilweiser bis völliger Zustimmung). Diese Werte sind das gewollte Ergebnis des beharrlich unter die Leute gebrachten Mythos, es sei der »deutsche Steuerzahler«, auf dessen Kosten, die Südländer »über ihre Verhältnisse leben«. Nimmt man diese zunehmend hurrapatriotische Stimmung der deutschen Bevölkerung mit der mittlerweile etablierten Vormachtstellung Berlins in Europa zusammen, wird deutlich, in welchem Ausmaß der deutsche Imperialismus seit dem Anschluß der DDR seine Handlungsfähigkeit wiedererlangt hat.

Himmelblaue Phantasien

Die (radikale) Linke wäre gut beraten, den zunehmenden Postdemokratisierungsprozeß ernst zu nehmen und sich von Illusionen in die Reformierbarkeit der Europäischen Union zu verabschieden. In der Krise ist offensichtlich geworden: Die EU funktioniert als Vehikel, das unter Ausnutzung des ungleichen Entwicklungsstandes der innereuropäischen Ökonomien optimale Verwertungsbedingungen für kerneuropäisches Kapital bei gleichzeitiger Unterordnung der Peripheriestaaten schaffen soll und vor allem dem deutschen Kapital als Multiplikator dient, um am Weltmarkt gegen Konkurrenten wie die USA oder die BRICS-Staaten bestehen zu können. Als solches ist ihr die Tendenz zum Autoritarismus wesentlich eingeschrieben, denn klar ist, daß diese Zielsetzung nicht der Mehrheit der Menschen in Europa entsprechen kann, also Mechanismen gefunden werden müssen, daß die Bedürfnisse dieser Mehrheit kein Sand im Getriebe des Projekts sein können.

Linke und Linksliberale, die sich die »Transformation« Europas durch ein Mehr an EU wünschen, gehen einer Illusion auf den Leim, der außer ihnen kaum noch jemand aufsitzt – diejenigen, die Europa derzeit »gestalten«, am wenigsten: »Im Unterschied zu den Europaphantasien einiger prominenter linksliberaler Intellektueller ist die Vertiefung der politischen Union unter der heutigen Dominanz der Kapitalinteressen nicht mit mehr, sondern weniger Demokratie, und nicht mit weniger, sondern mehr Kriegen verbunden«, schreibt der Soziologe und jW-Redakteur Thomas Wagner im aktuellen Hintergrund-Heft.[3]

Was die Linke formulieren muß, will sie auf dem Stand der Zeit sein, sind nicht Traumgebilde einer besseren und »gerechteren« EU, sondern konkrete Ansätze zu einem Internationalismus der Bewegungen, aus dem die Zerschlagung dieser EU erwachsen kann. Und auf dem Weg dahin sollte sie sich auch gleich von der »himmelblauen Phantasie aus dem Wolkenkuckucksheim« (Rosa Luxemburg) verabschieden, daß entscheidende Veränderungen auf parlamentarischem Weg erkämpft werden können.

Anmerkungen
  1. Collin Crouch: Postdemokratie, Frankfurt/Main 2008; das erste Zitat steht auf S. 11, das folgende auf S. 13
  2. Wolfgang Münchau in der Financial Times vom 19.2.2012
  3. Thomas Wagner: Das gute Imperium, in: Hintergrund, Heft 2/2013, S. 75
* Thomas Eipeldauer arbeitet als Redakteur beim Nachrichtenmagazin Hintergrund. (http://www.hintergrund.de/)

Aus: junge Welt, Freitag, 19. April 2013



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