Jeder gegen jeden
Jahresrückblick 2009. Heute: Europäische Union. Lissabon-Vertrag in Kraft getreten. Wachsende soziale Unsicherheit programmiert
Von Andreas Wehr *
In diesem Jahr können die europäischen Eliten mit ihrer EU eigentlich
zufrieden sein. Am 1. Dezember 2009 trat der Lissabonner Vertrag in
Kraft. Damit endete das Ringen um den Umbau der Union. Doch noch nie
hatte eine europäische Vertragsreform so lange gedauert - gut neun
Jahre. Und noch nie gab es dagegen soviel Widerstand. Erst im dritten
Anlauf war man erfolgreich. Im Dezember 2003 scheiterte der Entwurf für
eine Europäische Verfassung an Spanien und Polen. Im Frühsommer 2005
lehnten Franzosen und Niederländer in Volksabstimmungen den
Verfassungsvertrag ab. Und im Juni 2008 waren es dann die Iren, die den
Lissabonner Vertrag zurückwiesen. Doch da in der EU bekanntlich so lange
abgestimmt wird, bis das Ergebnis am Ende paßt, wiederholte man dort das
Referendum. Haltlose Versprechungen und offene Drohungen führten
schließlich zum Erfolg.
Unter starkem Druck
Mit dem Lissabonner Vertrag werden die großen EU-Staaten noch mächtiger.
Allein der deutsche Stimmenanteil im Rat verdoppelt sich. Dies stößt bei
mittleren und kleinen Mitgliedstaaten auf wenig Begeisterung. Der
Vertrag schränkt auch die Zahl der einzelstaatlichen Vetorechte ein.
Deutlich mehr Angelegenheiten werden künftig per Mehrheit entschieden.
Die nationalen Parlamente verlieren an Einfluß. Dies ging selbst dem
deutschen Bundesverfassungsgericht zu weit. In seinem Urteil vom Juni
2009 setzte es bei der weiteren Abtretung von Souveränitätsrechten enge
Grenzen. Im langjährigen Reformprozeß ist die EU bei den europäischen
Völkern nicht beliebter geworden. Die Niederlagen bei den Referenden in
Frankreich, in den Niederlanden und bei der ersten Abstimmung in Irland
zeigen den europäischen Eliten, daß sie Volksabstimmungen kaum mehr
gewinnen können. Es ist für sie schwerer geworden, ihr europäisches
Projekt voranzutreiben.
Im Juni 2009 wurde das Europäische Parlament neu gewählt. Abermals ging
die Wahlbeteiligung zurück. Lag sie 2004 noch bei 45 Prozent, so diesmal
nur noch bei 42,9. Das ist der niedrigste Stand seit 1979, seitdem das
Parlament direkt gewählt wird. Die sozial Benachteiligten und die
Ausgegrenzten blieben den Wahlurnen fern. Der Partei die Linke gelang es
deshalb nicht, ihr Potential auszuschöpfen. Mit knapp zwei Millionen
Stimmen blieb sie im Juni weit hinter ihrem Ergebnis bei den
Bundestagswahlen zurück. Dort bekam sie mehr als 4,7 Millionen Stimmen.
An der Europawahl beteiligten sich hingegen jene, die mit der
europäischen Integration einverstanden sind, denen sie Chancen eröffnet.
So ist die Haltung zu Europa längst zu einer Klassenfrage geworden. Die
unten sind, zeigen an europäischen Angelegenheiten wenig Interesse. Sie
haben erfahren, daß die EU für sie nur weitere Deregulierung, schärfere
Konkurrenz und wachsende soziale Unsicherheit bringt. Die geringe
Beteiligung bei den Europawahlen war allerdings nur kurz Thema in den
Medien. Gewählt ist schließlich gewählt, auch wenn sich nicht einmal die
Hälfte der Bevölkerungen beteiligte. Und da es vor allem auf Kosten der
Linken ging, stört es auch nicht weiter. Doch angesichts der extrem
niedrigen Wahlbeteiligung kann nicht mehr länger behauptet werden, daß
diese europäische Integration die Unterstützung der europäischen Völker hat.
2009 spitzte sich die Finanz- und Wirtschaftskrise weiter zu. Im März
wurde ein europäisches Konjunkturprogramm verabschiedet, das kaum der
Rede wert ist. Vergleicht man es mit dem der USA oder Chinas, kann man
es nur dürftig nennen. Da die EU über nur wenig eigene Mittel verfügt,
verpflichtete man die Europäische Investitionsbank zur Kreditvergabe an
kleine und mittlere Unternehmen. Von eigenem Geld steuerte die
Kommission lediglich bescheidene fünf Milliarden Euro für
Infrastrukturinvestitionen bei. Wirklich ins Gewicht fallende
Ankurbelungsprogramme wurden hingegen von den Mitgliedstaaten aufgelegt,
und hier verfuhr jedes Land so, wie es ihm paßte.
Mit Lettland, Ungarn und Rumänien sind 2009 drei EU-Mitgliedsländer
außerhalb der Eurozone unter starken Druck geraten. Ihre
Zahlungsfähigkeit konnte nur durch Kredite der EU und des
Internationalen Währungsfonds (IWF) gesichert werden. Das der Union
dafür zur Verfügung stehende Budget mußte von zwölf auf 50 Milliarden
Euro aufgestockt werden. Der Preis, den die unterstützten Länder dafür
bezahlen ist allerdings hoch. Überall verlangen »Brüssel« und der IWF
drastische Kürzungen im öffentlichen Sektor, vor allem bei Gesundheit
und Bildung. In Lettland bedeutet dies etwa die Schließung der Hälfte
aller Krankenhäuser.
Die Grenzen der Union
In dieser Krise zeigen sich die Grenzen der europäischen Wirtschafts-
und Währungsunion (WWU). Die Bonitäten der Euroländer Griechenland,
Irland, Spanien, und sogar Österreich wurden von den Ratingagenturen
herabgesetzt. Für ihre Staatsanleihen müssen diese Länder nun deutlich
höhere Zinsen als etwa Deutschland oder Frankreich zahlen. Einen
internen europäischen Solidarausgleich kennt die WWU hingegen nicht. Er
ist vertraglich sogar ausdrücklich ausgeschlossen. Auch einen
Hilfsfonds, wie er für die außerhalb der Eurozone befindlichen Länder
existiert, gibt es nicht. In der Krise zeigt sich der zentrale
Konstruktionsfehler der EU. In ihr gibt es wohl einen Binnenmarkt und
eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Wirtschafts- und
Finanzpolitik. So kann Deutschland mit seiner Exportinitiative wohl
andere Länder gefahrlos niederkonkurrieren, doch die Folgen daraus muß
es nicht mittragen. Eine Haftungs- und Schuldengemeinschaft will das
deutsche Kapital auf keinen Fall. Die Frankfurter Allgemeine warnte am
12.12.2009: »Es geht um das Prinzip, daß ein Land nicht für die Schulden
eines anderen einzustehen hat. Wenn Deutschland heute den Griechen
hilft, muß es morgen für Italien, Spanien und andere zahlen. Bevor das
passiert, sollte Griechenland den Euro-Raum verlassen.«
Ungewiß ist, ob der Stabilitäts- und Wachstumspakt, die eiserne Klammer
der Wirtschafts- und Währungsunion, die Krise überleben kann. Nicht
weniger als 20 der 27 Mitgliedstaaten weisen 2009 ein höheres
öffentliches Haushaltssaldo auf als die nach dem Stabilitäts- und
Wachstumspakt zulässigen drei Prozent. Gegen alle 20 Länder wurden
inzwischen Defizitverfahren eingeleitet. An der Spitze der Verschuldung
stehen Griechenland und Irland mit jeweils mehr als zwölf Prozent Saldo.
Auch Großbritannien, Spanien, Frankreich und Portugal liegen weit
oberhalb der zulässigen Schwelle. Und für 2010 steht bereits fest, daß
die Haushaltssalden weiter wachsen werden. Aber die Europäische
Kommission beharrt darauf, daß bereits ab 2011 mit dem zügigen Abbau der
Defizite begonnen wird. Doch mit Sicherheit wird es bis dahin kein
ausreichendes Wachstum geben, was die Staatskassen füllen kann. So wird
die Rückführung der Defizite nur bei einem rücksichtslosen
sozialpolitischen Kahlschlag möglich sein. Das Jahr 2009 scheint demnach
doch kein gutes europäisches Jahr gewesen zu sein.
* Aus: junge Welt, 23. Dezember 2009
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