"Wachstum ist wichtig, aber nicht alles"
Vereinte Nationen legen 20. Bericht über die menschliche Entwicklung vor
Von Martin Ling *
In Genf, in New York und in Berlin wurde gestern (4. Nov.) der
»Bericht über die menschliche Entwicklung« 2010 präsentiert. Seine zentrale These: Entwicklung ist auch bei geringem Wachstum möglich.
»Wirtschaftswachstum ist wichtig, aber nicht alles.« Auf diese Formel
brachte Flavia Pansieri vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen
(UNDP) gestern die Grundbotschaft des 20. »Berichtes über die
menschliche Entwicklung«, der von ihrer Organisation erstellt wird.
Pansieri zeigte sich in Berlin erfreut darüber, dass das 1990 erstmals
im damaligen Bericht angewandte »revolutionäre Konzept, Entwicklung
nicht nur über Wirtschaftswachstum, sondern als Erweiterung der
Möglichkeiten für die Menschen« zu fassen, inzwischen allgemein
anerkannt sei. In diesem Zusammenhang würdigte Pansieri den verstorbenen
pakistanischen Ökonom Mahbub ul Haq, der gemeinsam mit dem indischen
Nobelpreisträger Amartya Sen an der Entwicklung des Indexes für
menschliche Entwicklung (HDI) für den ersten Bericht über die
menschliche Entwicklung 1990 mitgewirkt hatte.
Was die menschliche Entwicklung angeht, zog Pansieri ein überwiegend
positives Fazit: Seit 1970 habe es bei den drei zentralen Indikatoren
Bildung, Gesundheit und Einkommen fast ausnahmslos Fortschritte gegeben,
Nur in Sambia, der Demokratischen Republik Kongo und Simbabwe sei die
Situation 2010 schlechter als 1970 – in Sambia vor allem wegen der
Aids-Pandemie, in der DR Kongo vor allem wegen des Bürgerkrieges und
über die Ursachen in Simbabwe könne man lange reden und streiten.
Generell gelte: »Gesundheit, Bildung, demokratische Teilhabe und
gerechte Verteilung sind auch bei geringem Wirtschaftswachstum möglich –
und die Länder mit den größten Fortschritten bei der menschlichen
Entwicklung sind oft diejenigen ohne rasantes Wirtschaftswachstum, aber
mit gutem öffentlichen Gesundheits-, Sozial- und Bildungssystem.« Als
Beispiele dafür werden im Bericht Äthiopien, Kambodscha und Benin
aufgeführt, die trotz geringer Wirtschaftskraft große Erfolge bei der
Bildung und im Gesundheitswesen erzielt hätten.
Die UN-Forscher haben nach eigenen Angaben die Entwicklung der letzten
40 Jahre in 130 der 192 UN-Länder und damit die Lebensumstände von 92
Prozent der Menschheit untersucht. Während in einigen Regionen der
Wohlstand wächst, verharren andere in tiefer Armut. Die Lebenserwartung
ist in den vier Jahrzehnten weltweit um elf Jahre gestiegen – in einigen
Ländern gleich um 18, in anderen wie etwa Russland gar nicht.
Das UNDP misst den HDI auf den drei Gebieten Gesundheit, Bildung und
Lebensstandard. Für die Gesundheit ist laut UNDP die Lebenserwartung zum
Zeitpunkt der Geburt ausschlaggebend. Das Bildungsniveau wird an der
heutigen durchschnittlichen Dauer des Schulbesuchs und an den in Zukunft
zu erwartenden Schuljahren gemessen. Maßstab für den Lebensstandard ist
das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner eines Landes.
Weltweit leben die Menschen nach wie vor in Norwegen am besten. Das
ölreiche Land mit seinem ausgebauten Wohlfahrtssystem belegt in dem
Index seit fünf Jahren Platz eins. Zwischen dem Spitzenreiter aus
Skandinavien und dem zehntplatzierten Deutschland positionieren sich
Australien, Neuseeland, die USA, Irland, Liechtenstein, die Niederlande,
Kanada und Schweden. Auf dem 14. Rang findet sich Frankreich, den 23.
Rang belegt Italien. Großbritannien muss sich mit Platz 26 begnügen. Die
Schlusslichter der 169 Länder umfassenden Liste sind laut UNDP
afrikanische Staaten: Mosambik, Burundi, die Demokratische Republik
Kongo und Niger.
In den nächsten Jahren sollen globale Probleme wie der Klimawandel in
den HDI einbezogen werden. Für die Berücksichtigung des Klimawandels
müsse aber eine sorgfältige Auswahl der neuen Elemente getroffen werden,
um den Indikator nicht zu überladen, meinte Sen in New York.
Entwicklungsbericht im Internet: www.dgvn.de
* Aus: Neues Deutschland, 5. November 2010
Mangelnde Entwicklung
Von Martin Ling **
Entwicklung ist mehrdimensional. Dass diese Auffassung inzwischen
allgemein anerkannt ist, ist ein Verdienst des seit 1990 erscheinenden
»Berichtes über die menschliche Entwicklung«. Denn bis dato wurde
Entwicklung in den herrschenden Kreisen – ob Politik oder Wissenschaft –
ausschließlich auf Wirtschaftswachstum reduziert. Heutzutage berufen
sich selbst FDP-Entwicklungspolitiker auf das durch den indischen
Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen geprägte Verständnis von
Entwicklung als Erweiterung der Freiheiten der Menschen. Dieser Ansatz
liegt dem »Index der menschlichen Entwicklung« zugrunde, anhand dessen
der Entwicklungsstand gemessen wird.
Was der Entwicklungsindikator nicht vermittelt, ist eine Einsicht in die
Struktur, die global den Rahmen setzt: die Weltwirtschaftsordnung. Nach
wie vor entgehen dem Süden bis zu zwei Milliarden US-Dollar täglich,
weil er im Norden vor verschlossenen Marktzugängen steht. Oder mit den
Worten von Senegals Bauernpräsident Samba Gueye: »Wir haben Erdnüsse
exportiert, das wurde uns kaputtgemacht. Wir exportierten Fisch, der
wurde uns weggefangen. Nun exportieren wir eben Menschen.« Zwischen
Wirtschaftswachstum und menschlicher Entwicklung gibt es keinen
zwingenden Zusammenhang, zwischen fairen Bedingungen und menschlicher
Entwicklung dagegen schon. Diese Einsicht kommt zu kurz.
* Aus: Neues Deutschland, 5. November 2010
Bericht über die menschliche Entwicklung 2010
Jubiläumsausgabe zum 20. Erscheinen
Der wahre Wohlstand der Nationen: Wege zur menschlichen Entwicklung
Der erste Bericht über die menschliche Entwicklung von 1990 begann mit einer einfach formulierten Annahme, die zum Leitmotiv aller folgenden Berichte wurde: „Die Menschen sind der wahre Wohlstand einer Nation“. Diese Aussage wurde untermauert durch eine Fülle empirischer Daten und einen neuen Denkansatz auf dem Gebiet der Entwicklung und ihrer Messung. Damit hatte der Bericht über die menschliche Entwicklung weltweit einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklungspolitik.
Diese Jubiläumsausgabe zum 20. Erscheinen wird eingeleitet durch einen Text von Nobelpreisträger Amartya Sen, der zusammen mit Mahbub ul Haq, dem Begründer dieser Reihe, den ersten Bericht über die menschliche Entwicklung konzipierte und für viele der folgenden Berichte Beiträge und Anregungen beisteuerte.
Der Bericht 2010 setzt die Tradition fort, herkömmliche Denkmuster über Entwicklung zu hinterfragen. Zum ersten Mal seit 1990 blickt der Bericht systematisch auf die vergangenen Jahrzehnte zurück. Dabei zeigt er oft überraschende Trends und Muster auf, aus denen sich wichtige Erkenntnisse für die Zukunft ableiten lassen. Die höchst unterschiedlichen Pfade der menschlichen Entwicklung zeigen, dass es keine allgemeingültige Formel für nachhaltigen Fortschritt gibt – und dass auch ohne stetiges Wirtschaftswachstum beeindruckende Verbesserungen über einen längeren Zeitraum möglich sind.
Der Index für menschliche Entwicklung (Human Development Index – HDI) ist seit jeher das Markenzeichen des Berichts. Dem innovativen Geist seiner Begründer folgend, führt er in diesem Jahr eine aktualisierte Version des HDI ein und präsentiert bahnbrechende neue Indizes:
-
den Ungleichheit einbeziehenden HDI, der die nationalen HDI-Werte verringert entsprechend dem Grad der Ungleichheit bei Gesundheits- und Bildungsstandards und bei der Einkommensverteilung;
- den Index für geschlechtsspezifische Ungleichheit, der die Teilhabe von Frauen am politischen Leben und an der Arbeitswelt sowie ihren Gesundheits- und Bildungsstand berücksichtigt, um die Unterschiede zwischen Männern und Frauen innerhalb von Ländern und zwischen ihnen deutlich zu machen;
- den Index für mehrdimensionale Armut, der Mangelerscheinungen in mehreren sich überschneidenden Bereichen – z.B. bei Gesundheit, Bildung und Lebensqualität – erfasst und zu dem Ergebnis kommt, dass ein Drittel der Menschen in den 104 untersuchten Ländern in extremer mehrdimensionaler Armut lebt.
Der Bericht blickt jedoch auch über 2010 hinaus. Er beleuchtet kritische Aspekte der menschlichen Entwicklung, die in diesen Indizes nicht erfasst sind, von politischen Freiheiten und Teilhabe am politischen Leben bis zu Nachhaltigkeit und menschlicher Sicherheit. Zur Bewältigung dieser Herausforderungen entwirft er eine breit angelegte Forschungs- und Politikagenda.
Amartya Sen schreibt: „Zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Berichts über die menschliche Entwicklung gibt es mit Blick auf das Erreichte viel zu feiern. Aber wir müssen auch wachsam bleiben und nach Wegen suchen, um seit langem bestehende Widrigkeiten besser einzuschätzen und neue Gefahren, die das Wohlergehen und die Freiheit der Menschen bedrohen, zu erkennen und auf sie zu reagieren.“
Die Jubiläumsausgabe zum 20. Erscheinen des Berichts über die menschliche Entwicklung ist eine Antwort auf diese Forderung.
Quelle: Website von UNDP; http://hdr.undp.org
Eine deutsche Kurzfassung des Berichts ist hier erhältlich:
Kurzfassung
Den ganzen Bericht (deutsch) erhalten Sie hier: Bericht über die menschliche Entwicklung 2010
[Externer Link].
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