Abrupter Ausstieg oder schleichender Niedergang? Die möglichen Auswirkungen der Bundestagswahl auf die Wehrpflicht
Ein Beitrag von Andreas Dawidzinski aus der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *
Andreas Flocken (Moderator):
In diesem Monat wird ein neuer Bundestag gewählt. Im Mittelpunkt des
Wahlkampfes stehen vor allem wirtschaftliche Themen. Der Ausgang der
Wahl kann aber auch über die Zukunft der Wehrpflicht entscheiden. Hören
Sie Andreas Dawidzinski:
Manuskript Andreas Dawidzinski
Offiziell ist die Bundeswehr eine Wehrpflichtarmee. Und geht es nach dem
Willen der Bundeskanzlerin, wird sich daran auch nichts ändern. Angela
Merkel bei dem feierlichen Gelöbnis von Rekruten vor dem Berliner
Reichstagsgebäude am 20. Juli:
O-Ton Merkel
"Ich bekenne mich zur Wehrpflicht...Die Wehrpflichtigen haben unserem Land
gut getan...Die Wehrpflicht ist zum Markenzeichen unserer Streitkräfte
geworden, um das wir auch international beneidet werden."
Diese Aussage ist stark übertrieben. Denn international ist die
Wehrpflicht ein Auslaufmodell. Fast alle 28 NATO-Staaten haben sich von
dieser Wehrform mittlerweile verabschiedet und auf
Freiwilligen-Streitkräfte umgestellt. Neben Deutschland halten lediglich
vier weitere Allianzmitglieder an der Wehrpflicht fest: Estland,
Norwegen sowie Griechenland und die Türkei.
Streng genommen ist aber auch die rund 250.000-Soldaten starke
Bundeswehr schon lange keine Wehrpflicht-Armee mehr. Sie besteht vor
allem aus Berufs- und Zeitsoldaten - knapp 200.000 Männer und Frauen.
Für die Wehrpflichtigen, die neun Monate ihren Grundwehrdienst leisten,
sind gerade mal 30.000 Dienstposten vorgesehen.
Mit dem Fall der Mauer und dem Umbau der Bundeswehr zu einer Einsatz-
oder Interventionsarmee ist die Wehrpflicht auch in Deutschland immer
stärker unter Druck geraten. Denn für die Auslandseinsätze werden Profis
und längerdienende Soldaten benötigt.
Von den Bundestagsparteien stehen lediglich CDU und CSU noch hinter der
Wehrpflicht. Die SPD plädiert seit einiger Zeit für einen "Freiwilligen
Wehrdienst", das heißt, es sollen nur noch die jungen Männer einberufen
werden, die sich zuvor damit einverstanden erklärt haben. Angesichts von
jährlich rund 400.000 wehrpflichtigen jungen Männern und dem geringen
Bedarf der Streitkräfte werde die gegenwärtige Einberufungspraxis als
staatliche Willkür empfunden, so die Begründung. Der
verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Arnold:
O-Ton Arnold
"Wenn wir nichts ändern, höhlen wir die Wehrpflicht von innen heraus
aus. Weil die junge Generation glaubt, der Staat geht nicht mehr korrekt
mit ihnen um. Und damit wird die Akzeptanz, in unserer Gemeinschaft auch
was zu leisten, im Endeffekt selbst kaputt gemacht. Und deshalb glaube
ich, brauchen wir intelligentere Lösungen als einfach weiter so."
Die FDP ist für eine Aussetzung der Wehrpflicht. Merkels
Wunsch-Koalitionspartner hält die Wehrpflicht für ungerecht und nicht
mehr zeitgemäß. Birgit Homburger, die Verteidigungsexpertin der Liberalen:
O-Ton Homburger
"Ich glaube, dass wir insgesamt die Bundeswehr auch umstrukturieren und
zukunftsfähig machen müssen und dass die Aufgaben und Herausforderungen,
die die Bundeswehr jetzt schon wahrnimmt und in der Zukunft wahrnehmen
wird, sowieso nicht von Wehrpflichtigen gemacht werden können."
Auch die Grünen halten die Wehrpflicht für überholt. Der
verteidigungspolitische Sprecher Winfried Nachtwei plädiert stattdessen
für einen freiwilligen und flexiblen Kurzdienst:
O-Ton Nachtwei
"In der Länge 12-24 Monate, offen für Frauen und Männer. Beide Seiten
können sich da abtesten, dann ist das glaube ich ein vernünftiger Weg
anstelle der Wehrpflicht, die immer noch, das darf man nicht vergessen,
ein Eingriff in die Grundrechte junger Männer ist. Und wenn es überhaupt
gerechtfertigt sein soll, dann muss es sicherheitspolitisch
unverzichtbar sein."
Doch seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation ist die
sicherheitspolitische Begründung der Wehrpflicht nicht mehr
aufrechtzuerhalten. Nicht zuletzt deswegen kämpft auch DIE LINKE gegen
die Wehrpflicht. Doch es gibt weitere Gründe. Der Sicherheitsexperte
Paul Schäfer:
O-Ton Schäfer
"Jugendliche sind auch dafür, dass es gerecht zu geht in dieser
Gesellschaft. Es geht aber was die Wehrpflicht anbetrifft überhaupt
nicht mehr gerecht zu. Die Minderheit geht dort hin, die Mehrheit eben
nicht. Und das soll geändert werden. Also Wehrpflicht aufheben, abschaffen."
Von den Bundestagsparteien verteidigt inzwischen allein die Union die
Wehrpflicht. Trotzdem versuchen die Anhänger der Wehrpflicht, manchmal
einen anderen Eindruck zu vermitteln. So sind für Verteidigungsminister
Jung öffentliche Gelöbnisse ein Bekenntnis zur Allgemeinen Wehrpflicht.
Abgeordnete aus den anderen Parteien, die ebenfalls an diesen
Veranstaltungen teilnehmen und die gegen diese Wehrform sind, werden
diese Interpretation des CDU-Politikers zweifellos nicht ohne weiteres
teilen.
Franz Josef Jung weiß, dass die Wehrpflicht-Anhänger nicht nur
international sondern auch in Deutschland in der Defensive sind.
Hauptvorwurf der Kritiker ist, dass von den rund 400.000 Wehrpflichtigen
eines Jahrgangs für die Bundeswehr jedes Jahr nur rund 60.000 gebraucht
werden. Peter Tobiassen, von der Zentralstelle für Recht und Schutz der
Kriegsdienstverweigerer:
O-Ton Tobiassen
"Die Politik verlangt im Augenblick von der Verwaltung die Quadratur des
Kreises, denn so etwas lässt sich einfach nicht gerecht organisieren. ...
Ein Mittel dazu ist, dass im Rahmen der Musterungen 46 Prozent der
deutschen Männer nicht mehr in der Lage sein soll, ... dass sie zur
Landesverteidigung beitragen [können]. Das kann nie und nimmer gerecht
sein. Der Großteil der Fußballspieler in der Bundesliga ist nicht
tauglich. Dass kann man niemandem erklären, dass diese
Hochleistungssportler nicht in der Lage sein sollen, zur
Landesverteidigung beizutragen. Das ist etwas, wo wir sagen, es herrscht
eine gesetzlich normierte Wehrungerechtigkeit die mit Artikel 3
Grundgesetz (Gleichbehandlung) aller nicht vereinbar ist."
Der Vorwurf, es gebe eine Wehrungerechtigkeit, weil nur ein kleiner Teil
der Wehrpflichtigen zur Bundeswehr einberufen wird, lässt den
Verteidigungsminister nicht kalt. Franz Josef Jung macht eine ganz
andere Rechnung auf:
O-Ton Jung
"Wenn Sie rund 400.000 Jugendliche haben, dann waren bei den
einberufenen Jahrgängen rund 20 Prozent untauglich. Also dann sind Sie
schon einmal bei 320.000. Dann waren in etwa die Hälfte [von] dieser
Zahl Zivildienstleistende, also Wehrdienstverweigerer. Dann sind Sie bei
rund 170.000. Dann hatten [wir] eine Zahl von 20.000, 25.000, die jetzt
erstens beim THW die Zeit machen, oder bei der Feuerwehr oder dritte
Söhne sind oder verheiratet sind - die berufen wir auch nicht ein. Dann
waren Sie noch bei 150.000. Und davon haben wir 125.000 - ich sage jetzt
nur die Rund-Zahl - einberufen, das heißt also rund 80 Prozent. Das ist
im Grunde genommen die Aufgliederung. Und wenn immer wieder steht, von
400.000 werden nur 60.000 einberufen, dann ist das einfach falsch."
Mit diesem für Kritiker etwas eigenwilligen Verständnis von
Wehrgerechtigkeit ist der Verteidigungsminister im Juli beim
Bundesverfassungsgericht durchgekommen. Die Karlsruher Richter wiesen
nämlich erneut eine Vorlage des Verwaltungsgerichts Köln zurück, in der
die gegenwärtige Einberufungspraxis als verfassungswidrig beurteilt
wurde. Die Verwaltungsrichter hätten ihre Ansicht zu pauschal und nur
unzureichend begründet, monierte Karlsruhe. U.a. wurde eine konkrete
Auseinandersetzung mit der Frage vermisst, wie sich die vor einigen
Jahren vom Verteidigungsministerium verordnete Streichung des
Tauglichkeitsgrades T3 ausgewirkt habe. Durch diese Maßnahme sind
schlagartig Tausende junger Männer für den Wehrdienst nicht mehr in
Frage gekommen.
Kein Wunder, dass Verteidigungsminister Jung den Beschluss der
Verfassungsrichter begrüßte. Trotzdem bleibt die Wehrpflicht unter
Druck. Begründet wird sie u.a. als ein Beitrag zur Sicherheitsvorsorge.
Ein nicht überzeugendes Argument, findet nicht nur der
Wehrpflichtkritiker Tobiassen:
O-Ton Tobiassen
"Von den 114.000 Männern des Geburtsjahrgangs 1981, das sind die, die
jetzt 28 sind, haben 1021 Wehrübungen geleistet. Das sind 0,9 Prozent.
Andersherum heißt es, 99 Prozent derjenigen, die Grundwehrdienst
geleistet haben, haben danach nie mehr eine Wehrübung gemacht. Und die
Bundeswehr sagt, wer drei Jahre lang nicht in der Truppe war, der fängt
eigentlich bei Null wieder an. Das heißt, die Situation, dass die
Wehrpflicht Sicherheitsvorsorge sein soll, ist überhaupt nicht mehr
gegeben. Nur dann, wenn man die Leute tatsächlich in Übung hält, würden
sie im Verteidigungsfall auch zur Verfügung stehen."
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wird in der Union über ein
Heimatschutzkonzept nachgedacht - quasi als Weiterentwicklung der
Wehrpflicht. Reservisten und ehemalige Wehrpflichtige könnten dann auch
eine größere Rolle spielen - so die Vorstellung. Möglicherweise nicht
nur beim Katastrophenschutz sondern auch bei der Terrorabwehr. Die
Diskussion über einen Einsatz der Bundeswehr im Innern ist auch vor
diesem Hintergrund zu sehen.
Einer der wesentlichen Gründe für die Wehrpflicht ist inzwischen, dass
sich auf diese Weise vergleichsweise einfach die Rekrutierungsprobleme
der Bundeswehr entschärfen lassen. Denn die Wehrpflichtigen von heute
sind die Zeit- und Berufssoldaten von morgen. So sieht es der
Verteidigungsminister:
O-Ton Jung
"40 Prozent unserer Zeit- und Berufssoldaten waren Wehrpflichtige."
Für den Bundesverteidigungsminister und seinen Generalinspekteur ist die
Wehrpflicht nicht nur die intelligentere Wehrform. Nach Ansicht von
General Wolfgang Schneiderhan schafft die Wehrpflicht auch die
Voraussetzungen, dass Deutschland die Auslandseinsätze durchhalten kann:
O-Ton Schneiderhan
"Die Bundeswehr hat noch nie sagen müssen: Wir können nicht mehr. Wir
fliegen seit Januar 2002 jeden göttlichen Tag mit Hubschraubern und
Transall in Afghanistan. Uns ist die Luft nie ausgegangen. Wir mussten
nicht abziehen und die Solidarität im Kosovo verlassen oder sonst wo.
Wir halten das, was wir zugesagt haben, konsequent ein, über viele,
viele Jahre...Ich würde sagen, das gehört auch zur Wahrheit, dass wir
das ohne Wehrpflicht vermutlich so nicht leisten könnten. "
Die Bundeswehr, aufgrund der Wehrpflicht also ein Vorbild für die
NATO-Bündnispartner? Obwohl Grundwehrdienstleistende nicht für
Auslandsmissionen eingesetzt werden? - Wohl kaum. Denn von der
250.000-Soldaten starken Bundeswehr befinden sich gerade etwas mehr als
7.000 im Auslandseinsatz - weniger als 5 Prozent. Vielmehr geht zurzeit
auch nicht. Großbritannien ist dagegen allein in Afghanistan mit mehr
als 9.000 Soldaten präsent - und das, obwohl die britischen
Freiwilligen-Streitkräfte kleiner sind als die Bundeswehr. Außerdem gibt
es bei dem deutschen Kontingent am Hindukusch einen chronischen Mangel
an Helikoptern - man verfügt über lediglich acht Transporthubschrauber -
viel zu wenig, wie immer wieder in der Truppe geklagt wird. Zur
Selbstzufriedenheit besteht daher kein Anlass. Mit der Wehrpflicht
lassen sich diese Probleme jedenfalls nicht lösen. Dass diese Wehrform
ein Zukunftsmodell ist, darf bezweifelt werden. Wie auch immer die
Bundestagswahl in diesem Monat ausgehen wird: Die Unionsparteien werden
es nicht leicht haben, die Wehrpflicht gegenüber einem Koalitionspartner
durchzusetzen. Gute Argumente haben sie jedenfalls nicht.
* Aus: NDR-Sendereihe Streitkräfte und Strategien, 5. September
2009; www.ndrinfo.de
Zum selben Thema erschien zuletzt auf unseren Seiten:
Streitfrage: Ist die Wehrpflicht noch zeitgemäß?
Es debattieren: Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler, und Jürgen Rose, Oberstleutnant der Bundeswehr
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