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De Maizieres Verteidigungspolitische Richtlinien – Wendepunkt für die Bundeswehr oder alter Wein in neuen Schläuchen?

Ein Beitrag von Reinhard Mutz in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderator der Sendung):
Die Bundeswehr wird verkleinert, von zurzeit über 200.000 auf künftig rund 175.000 Soldaten. Die Umstrukturierung ist in vollem Gange. Viele Fragen sind aber noch offen, beispielsweise der genaue Umfang der Teilstreitkräfte wie Heer, Marine und Luftwaffe. Aber auch die Frage, welche Standorte geschlossen werden. Grundlage aller Entscheidungen sind aus Sicht von Thomas de Maizière die von ihm erlassenen Verteidigungspolitischen Richtlinien. Doch ist der Inhalt dieses vermeintlichen Schlüsseldokuments wirklich so neu? Reinhard Mutz ist dieser Frage nachgegangen:


Manuskript Dr. Reinhard Mutz

Wäre es nach Karl-Theodor zu Guttenberg gegangen, hätte es mit einem sicherheitspolitischen Grundsatzdokument noch eine Weile gedauert. Dem Übergangsminister lag daran, den Umbau der Bundeswehr an Haupt und Gliedern möglichst zügig zu bewerkstelligen. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien neu zu fassen oder das Sicherheitsweißbuch zu aktualisieren, um die Strukturreform öffentlichkeitswirksam zu begründen, hielt er für nachrangig. War doch ohnehin jedem Beobachter klar, dass nicht die Sicherheitssituation, sondern die Kassenlage der Bundesrepublik den Reformeifer beflügelt.

Anders die Sicht seines Nachfolgers. Nicht nur um sich von Guttenbergs Politikstil abzuheben, sondern auch um die inhaltlichen Akzente zu verdeutlichen, die er anders setzen wollte, legte Thomas de Maizière auf die Einbettung des Reformprojekts in einen weiter gespannten Programmrahmen besonderen Wert. Das Ergebnis sind die Verteidigungspolitischen Richtlinien 2011. Für den gedachten Zweck eignen sie sich aus zwei Gründen. Erstens sollen Verteidigungspolitische Richtlinien Aussagen von längerfristiger Gültigkeit treffen und über das politische Tagesgeschäft hinausweisen. Von den beiden Vorgängerdokumenten blieb das erste mehr als zehn, das zweite acht Jahre lang in Kraft.

Zweitens gelten die Verteidigungspolitischen Richtlinien anders als das Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik nur für den Geschäftsbereich des Verteidigungsministers. Sie bedürfen keiner politischen Abstimmung mit dem Koalitionspartner oder den anderen Ressorts. Dass die jüngsten Richtlinien in großer Eile gefertigt wurden, ist ihnen anzumerken. Zu weiten Teilen bestehen sie aus Textanleihen bei älteren Dokumenten. Immerhin konnten sie zeitgleich mit den Eckpunkten für die Neuausrichtung der Bundeswehr vorgelegt werden. Das hinderte den Minister nicht, noch eine eigene Durchsicht anzuschließen und das redigierte Schriftstück einige Tage später erneut bekanntzugeben.

In der öffentlichen Wahrnehmung am aufmerksamsten registriert worden ist nach dem Amtswechsel im Verteidigungsministerium die Aufgabenzuweisung an die Bundeswehr. „Vom Einsatz her denken“ hatte die Devise zu Guttenbergs gelautet. De Maizière übte daran mehrfach Kritik. Die unter seiner Leitung entstandenen Richtlinien schreiben die Fixierung auf den Einsatzfall nicht fort. Stattdessen rückt wieder die Landesverteidigung an die Spitze des Aufgabenkatalogs. Dort rangierte seit Vorlage des Weißbuchs 2006 die „internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung“. Hinter diesem Begriffscode verbirgt sich der bewaffnete Auslandseinsatz. Er ist nun auf Platz zwei zurückgestuft. Was bedeutet die Umstellung?

Dass ein unmittelbarer Angriff auf deutsches Staatsgebiet, also der klassische Verteidigungsfall, „unverändert unwahrscheinlich“ ist, wissen natürlich auch die Autoren der Verteidigungspolitischen Richtlinien. Schließlich steht die Erkenntnis schwarz auf weiß in ihrer strategischen Lageanalyse. Der Rückbau zu einer reinen Verteidigungsarmee würde die Bundeswehr überflüssig machen. Also muss die Umstrukturierung den Schwerpunkt anders setzen. Dazu heißt es in den Richtlinien:

„Eine Priorisierung innerhalb des Fähigkeitsspektrums ergibt sich aus der Wahrscheinlichkeit, mit der Risiken und Bedrohungen einen militärischen Beitrag erforderlich machen.“

Ob der Leser auf Anhieb versteht, wovon hier die Rede ist? Sicherheitshalber bekommt er es gleich noch einmal erklärt. Zitat:

„Die wahrscheinlicheren Aufgaben der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung bestimmen die Grundzüge der neuen Struktur der Bundeswehr.“

Im Klartext: Für die künftige Verwendung der Streitkräfte und für ihr Fähigkeitsprofil bleibt die Umformulierung der Aufgaben folgenlos. Vom Einsatz her gedacht wird bei der Neuausrichtung der Bundeswehr heute wie gestern. Die Präferenzen des neuen Ministers sind keine anderen als die seines Vorgängers.

Vermutlich beruht die Beliebtheit des Begriffspaars internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung auf seiner Substanzlosigkeit. Es sind Etiketten, die alles und nichts besagen und eine nahezu unbegrenzte Vielfalt an Handlungsmöglichkeiten abdecken. Wird die Funktion von Streitkräften mit so vagen Formeln umschrieben, sollte umso genauer nach den Kriterien gefragt werden, die zur Legitimierung ihres Einsatzes dienen. In dieser Hinsicht stellen die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien alle ihre Vorgänger-Dokumente in den Schatten. Nicht nur zum wichtigsten, sondern zum einzigen Maßstab, der den Einsatz deutscher Soldaten rechtfertigt, sind nunmehr die deutschen Interessen aufgestiegen. Der Kernsatz lautet:

„Militärische Einsätze ziehen weitreichende politische Folgen nach sich. In jedem Einzelfall ist eine klare Antwort auf die Frage notwendig, inwieweit die Interessen Deutschlands den Einsatz erfordern und rechtfertigen.“

Der Satz gehört zu den Passagen der Richtlinien, die der Minister nachträglich abzumildern suchte. Aber seine Textkorrektur macht die Aussage eher noch angreifbarer. Behauptet sie doch, die Vertretung deutscher Interessen mit militärischen Mitteln sei gleichbedeutend mit der Wahrnehmung internationaler Verantwortung.

Um das Gespür zu schärfen für Empfindungen, die sicherheitspolitische Positionsbestimmungen jenseits der eigenen Landesgrenzen auslösen können, empfiehlt sich, die Richtlinie gleichsam unter fremdem Namen zu lesen. Zum Beispiel:

„Russland ist bereit, als Ausdruck nationalen Selbstbehauptungswillens und staatlicher Souveränität zur Wahrung seiner Sicherheit das gesamte Spektrum nationaler Handlungsinstrumente einzusetzen. Dies beinhaltet auch den Einsatz von Streitkräften.“

Mit Deutschlandbezug steht der Satz so in den Verteidigungspolitischen Richtlinien 2011. Ein anderes Beispiel :

„Zu den chinesischen Sicherheitsinteressen gehört, [...] einen freien und ungehinderten Welthandel sowie den freien Zugang zur Hohen See und zu natürlichen Ressourcen zu ermöglichen.“

In der westlichen Welt dürften solche Aussagen kaum auf ungeteilten Beifall hoffen.

Schon die ersten Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 sahen die Bundesrepublik im Wettkampf um Märkte und Rohstoffe in aller Welt. Im vergangenen Jahr kosteten ähnliche Gedankenspiele, in Verbindung gesetzt zu Einsätzen der Bundeswehr, Bundespräsident Köhler das Amt. Jetzt leben sie wieder auf, doch in Berlin nimmt niemand Anstoß. Offenbar wünschen sich auch die einst militärkritischen Parteien Streitkräfte zum Alltagsgebrauch statt eine Armee für den äußersten Notfall - so wie der Verteidigungsminister, der in seiner Regierungserklärung kürzlich festgestellt hatte:

O-Ton De Maizière
„Das Ziel der Neuausrichtung ist es, dass wir über eine leistungsfähige Bundeswehr verfügen, die der Politik ein möglichst breites Spektrum an Handlungsoptionen bietet.“

Die wichtigsten Rechtsquellen deutscher Sicherheitspolitik sind das Grundgesetz, die Charta der Vereinten Nationen und der Nordatlantikvertrag. Zwischen den drei Dokumenten besteht eine Schnittmenge sinngleicher Vorschriften. Die Anwendung militärischer Gewalt gilt als unzulässig, mit zwei Ausnahmen: Gewaltanwendung ist erstens erlaubt bei der Verteidigung, und zweitens zur Wahrung oder Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit gemäß der UN-Charta.

Noch in den frühen neunziger Jahren markierten diese beiden Fälle den Auftrag der Bundeswehr. Warum sollten sie dafür heute nicht mehr taugen? Verteidigung heißt Abwehr eines Angriffs auf ein eigenes Rechtsgut. Intervention bedeutet Angriff und Eingriff in Rechtsgüter anderer. Wenn dazu als Legitimation das Eigeninteresse ausreichen sollte, verschwimmt die Grenze zwischen Recht und Faustrecht.

* Aus: NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien", 16. Juli 2011; www.ndrinfo.de


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