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Schlachtfeld der Seele

Bundeswehrsoldaten bringen ihre Erlebnisse aus Afghanistan und Kosovo auf die Bühne des Leipziger Gewandhauses

Von Julia Schäfer *

Leipzig ist ein wichtiger Militärstandort – auch wenn man davon im Alltag nicht viel mitbekommt. Die General-Olbricht-Kaserne liegt im Nordwesten der Stadt, abgeschirmt von der Außenwelt durch Zäune, Gemäuer und Erdwälle. Von außen sind nur die rot- und ockerfarbenen Backsteingebäude zu erkennen. Sächsische Armee, Reichswehr, kasernierte Volkspolizei und NVA waren schon beheimatet, wo heute ist die 13. Panzergrenadierdivision der Bundeswehr stationiert ist. Von Leipzig aus wird die 12 500 Mann starke, über ganz Ostdeutschland verteilte Division geführt. Nächstes Jahr übernimmt sie, wie schon 2009/10, die Leitung der Einsatzkontingente des Heeres. Dann fliegen wieder hunderte Soldaten von Ostdeutschland aus auf den Balkan oder nach Afghanistan.

Einer von ihnen ist Stabsfeldwebel Michael Schott*. »Du musst als Soldat damit rechnen, dass das Testament, das du im Vorfeld geschrieben hast, gebraucht wird«, stellt er nüchtern fest. Der 43-Jährige wohnt mit seiner Lebensgefährtin und ihrem Sohn in Großzschocher, in einem Einfamilienhaus mit Garten. Die Gegend ist ruhig, die Nachbarschaft gutbürgerlich. »Hier weiß jeder, dass ich Soldat bin«, sagt Schott. Zu Hause versucht er, »ein ganz normaler Mensch zu sein und dieses Soldatenleben für eine Zeit wegzulegen«. Aber das gelingt nicht immer. Manchmal kommt der Befehlston durch. Dann stupst ihn seine Freundin Evelin Arnold* an: »Werd' doch einfach mal ein bisschen locker! Nicht so ernst, als ob eine Truppe vor dir steht!«

Als Schott sich bei der Bundeswehr bewarb, waren Kriegs- und Kriseneinsätze noch nicht an der Tagesordnung. Mittlerweile war er in seinen 26 Dienstjahren sechs Mal im Ausland: 1999 und 2001 jeweils ein halbes Jahr in Kosovo; in den Jahren darauf jeweils viereinhalb Monate in den afghanischen Lagern Kunduz und Mazar-e Sharif. Seine Aufgabe dort: »elektronische Kampfführung mit dem Schwerpunkt Nachrichtengewinnung und Aufklärung«.

Für Menschen, die nichts mit dem Militär zu tun haben, und damit meint Schott auch seine Lebensgefährtin, seien das leere Worthülsen. Er behält deswegen viele Erfahrungen für sich, seine Freundin würde ihn ja doch nicht verstehen. Und die Bevölkerung im Allgemeinen sei noch nicht genügend sensibilisiert, findet er. Um das zu ändern, meldete sich Schott im Sommer 2010 für »Schlachtfeld der Seele« – ein Projekt im Gewandhaus Leipzig, bei dem Soldaten auf der Bühne über ihre Auslandseinsätze sprechen. Begleitet werden sie vom Gewandhauschor, die Musik wurde für dieses Bühnenstück komponiert.

Die Initialzündung gab Gregor Meyer, der künstlerische Leiter des Chores. Gemeinsam mit dem Dramaturgen Matthias Schluttig entschied er sich dafür, ein soziokulturelles Projekt mit Soldaten zu entwickeln, »denn was ein Soldat während seiner Auslandseinsätze erlebt, dringt kaum ins Bewusstsein der Öffentlichkeit«, sagt der 31-jährige Schluttig. Ein heikles Thema und ein kühnes Projekt – für alle Beteiligten. Für den Chorleiter, der darauf zu achten hat, dass das Gewandhaus mit seinem internationalen Renommee nicht zur politischen Bühne wird. Für den Dramaturgen, der sich den Soldaten unvoreingenommen nähern muss, um aus ihren teils traumatischen Erlebnissen authentische Texte zu formen. Für die Soldaten, die in einer Hierarchie mit Befehl und Gehorsam funktionieren, aber normalerweise nicht über Gefühle philosophieren – und sich ihre Teilnahme von der Pressestelle der Bundeswehr absegnen lassen mussten. Und dann sind da noch Komponisten und Sänger, die ihre eigenen Ansprüche haben – mit militärischer Disziplin hat das wenig zu tun.

Die Unsicherheit auf beiden Seiten ist entsprechend groß, bei Chorleiter Meyer genauso wie bei den vier Soldaten, die zunächst nur zögerlich einwilligten, am Projekt teilzunehmen. Es sind zwei Offiziere, ein Haupt- und ein Stabsfeldwebel aus der Leipziger Division. Tagsüber leisten sie Dienst in Kaserne. Abends, einmal pro Woche, lassen sie im Gewandhaus ihren Gedanken freien Lauf. Sie wollen oder dürfen aber nicht über alles Details ihres Berufs sprechen, denn sie sind ihrem Dienstherrn verpflichtet. Bei dem Projekt bewegen sich die Soldaten in einer ungewohnten Situation, deren Ausgang sie nicht abschätzen können. Sie sitzen fremden Menschen gegenüber, die mit zotteligen Haaren, Wollpulli und Schlaghose freundlich daherkommen, deren wahres Ansinnen sie aber nicht durchschauen können.

»Der Chorabend soll weder eine Werbeveranstaltung für die Bundeswehr noch für den Pazifismus werden«, stellte Schluttig von Anfang an klar. Der zweifache Familienvater macht keinen Hehl daraus, dass ihm Kasernenleben, Kriegseinsätze und der Umgang mit Waffen völlig fremd sind.

Genauso geht es den Soldaten mit Chormusik oder kreativen Schreibübungen. »Ich hab das doch noch nie gemacht«, sagt Michael Schott, während er den Stift zwischen seinen Fingern wippen lässt. Er und seine Kameraden brauchen klare Anweisungen und Zeitvorgaben. Dann landet etwas auf dem Papier, zum Beispiel zu der Frage, die ihnen ohnehin häufig gestellt wird: Warum bist du eigentlich Soldat geworden?

»Urgroßvater – Unteroffizier – MG TrpFhr (Frankreich) im 1. Weltkrieg; Großvater – Offizier – Oberleutnant – Artillerie (Norwegen) im 2. Weltkrieg; Vater – Stabsoffizier – Oberstleutnant – Pionier«, schreibt Thomas Radke* auf. Auch er wird mit auf der Bühne stehen. »Die Männer in meiner Familie waren seit mehreren Generationen Soldaten«, sagt der gebürtige Ostberliner. Seine Assoziationen zum Thema: »Für mich war Armee: Waffen – Panzer – Uniformen/ Befehle – Gehorsam – Idealismus/ Mut – Treue – Ehrlichkeit. Normalität«, notiert er knapp auf seinem Stichpunktzettel .

Wenn der 37-jährige Radke, der immer in Schwarz gekleidet ist und gern mal zum Wave-Gotik-Treffen geht, aber erst einmal ins Erzählen kommt, ist er schwer zu bremsen. Den Beruf des Soldaten habe er nicht mit Politik verbunden, deshalb sei es für ihn kein Problem gewesen, nach der Wende nicht mehr in der NVA, sondern in der Bundeswehr zu dienen, erzählt der gelernte Energieelektroniker und heutige Hauptfeldwebel.

Dramaturg Schluttig tastet sich in mehr als 20 Treffen langsam an die Biografien, Einstellungen und Erlebnisse der Soldaten heran. Stück für Stück kann er ihr Vertrauen gewinnen, während sie es schätzen, Zuhörer ihrer Geschichten außerhalb der Bundeswehrhierarchien zu finden. Zweifellos, die Meinungen der Künstler und der Soldaten gehen in vielen Fragen auseinander: über die Wehrpflicht oder den Sinn des Afghanistan-Einsatzes.

Gerade diese Reibungspunkte machen den Reiz des Projekts aus. Denn sie spiegeln das kritische Verhältnis wider, das die Gesellschaft zur Armee hat. Als »freundliches Desinteresse« charakterisierte es der einstige Bundespräsident Horst Köhler einmal. Während uniformierte Katastrophenhelfer in Zeiten von Flut und Überschwemmung gern gesehen sind, beurteilt die Gesellschaft die Rolle der Armee im Einsatz eher skeptisch. Politiker forderten immer wieder Solidarität der Bevölkerung mit der Bundeswehr. Aber was heißt das eigentlich? Muss eine Gesellschaft wirklich solidarisch mit ihren Soldaten sein?

Skepsis und Ablehnung: Beides kennen die Soldaten Schott und Radke aus eigener Erfahrung und gehen deswegen nur selten in Uniform vors Haus. Während Radkes achtjährige Tochter stolz darauf ist, wenn ihr Vater sie im Tarnanzug vom Sport abholt, erntet Radke von Passanten starre Blicke.

Uniformen und Militärfahrzeuge sind eine Seltenheit im Stadtbild, obwohl mehr als 1300 Bundeswehrangehörige in Leipzig beschäftigt sind. Die Industrie- und Handelskammer kooperiert mit der Bundeswehr, um Berufsausbildung und Waffendienst miteinander zu verbinden oder um Soldaten nach dem Dienst die Jobsuche zu erleichtern. Leipzig profitiert von der Bundeswehr, ist die Leipziger CDU-Bundestagsabgeordnete Bettina Kudla überzeugt: »Es kommen junge Leute, denen es hier gefällt und die dann bleiben. Dadurch kommt Kaufkraft in die Stadt.«

In strukturarmen Regionen ist die Bundeswehr für den Nachwuchs attraktiv: Überproportional viele Bundeswehrangehörige kommen aus Ostdeutschland. Kritiker dieser Tatsache sprechen von der Verostung der Bundeswehr, von einer Unterschichtenarmee. Angesichts von ausgesetzter Wehrpflicht und lebensgefährlichen Auslandseinsätzen laufen die Debatten über die Zukunft der Bundeswehr auf Hochtouren.

Unterdessen schickt die Armee Jugendoffiziere in den Politikunterricht an sächsischen Schulen. »Um Nachwuchs zu rekrutieren«, sagen die Kritiker, die eine mentale Aufrüstung der Gesellschaft konstatieren und sich für eine Trennung zwischen Zivilem und Militärischem einsetzen. Einer von ihnen ist der LINKE-Landtagsabgeordnete Volker Külow. Seit Jahren nimmt er den Flughafen Leipzig/Halle ins Visier, unterstützt von Bürgerinitiativen wie »Flughafen natofrei« und »Nein zum Militärflughafen«. Hunderte Millionen Euro wurden in den Ausbau des Flughafens zur Drehscheibe für den zivilen Flugverkehr gesteckt, doch längst ist er ein wichtiger Knotenpunkt für die Kriege der Gegenwart geworden. Seit 2006 nutzt das Pentagon den Leipziger Flughafen für Zwischenstopps seiner Truppen. In den Statistiken der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsflughäfen verstecken sich die US-Soldaten hinter der Bezeichnung »Transitpassagiere«; sie sind auf der Durchreise in Krisen- und Kriegsgebiete. Zuletzt gab es mehr als 30 000 Transitpassagiere pro Monat. Ein Großteil von ihnen sind Soldaten.

Auch Bundeswehrsoldaten verabschieden sich hier von ihren Angehörigen in den Einsatz. »Die Situation dort unten wird immer schwieriger und meine Angst immer größer«, sagt Michael Schotts Lebensgefährtin, die schon während dreier Afghanistan-Einsätze auf seine Rückkehr gewartet hat. Der Stabsfeldwebel ist froh, dass er das Feldlager nicht mehr als sogenanntes Kampfschwein verlassen muss, »das machen die Jüngeren«. Aber selbst im Innendienst ist es nicht mehr sicher. Das musste Michael Schott 2004 in Kunduz hautnah erleben, als im Nachbarraum eine Rakete einschlug.

»Ist mein Freund unter den Toten oder Verletzten?« Diese Frage hat Hauptfeldwebel Ronny Schmidt schon hundertfach gehört. Er sitzt am Telefon, wenn die Angehörigen von Soldaten beim Familienbetreuungszentrum in der General-Olbricht-Kaserne anrufen. Für seinen Job braucht er »eine gewisse Lebens- und Einsatzerfahrung«. Zurzeit betreuen Schmidt und seine Kollegen rund 600 Angehörige von 400 Soldaten aus der Region Leipzig/Halle, aber auch aus Dessau, Wittenberg oder Gera. »Wir hatten leider Gottes schon drei getötete Soldaten«, sagt Schmidt. »Selbst jetzt betreuen wir noch die Familie eines getöteten Soldaten aus dem Jahr 2009.«

Bei den Treffen im Gewandhaus erinnern sich die Soldaten an Alltägliches, aber auch an das, was sie verdrängt haben: die Trennung von der Freundin, das schreiende afghanische Kind, den Raketenbeschuss.

»Mit dem Rücken zu Wand. Hält sie stand? Sie muss! Raketenbeschuss!

Kalt läuft der Angstschweiß den Rücken hinunter. Ich wisch ihn nicht fort. Die Weste bleibt dort. Sie muss mich beschützen.

Mit dem Rücken zur Wand, bis tief in die Nacht, während sie Kameraden zusammenflicken.«

Das ist einer der Liedtexte, die Michael Schott mit Hilfe des Dramaturgen für den Chorabend verfasst hat. Mancher der Soldaten redet im Gewandhaus zum ersten Mal über seine Gedanken und Gefühle im Auslandseinsatz; selbst die Angehörigen kennen keine Details. »Sie würden es ja doch nicht verstehen«, meint Michael Schott. Auf den ersten Blick wirkt er wie ein »typischer Soldat« – rational und unnahbar. Doch bei den Treffen im Gewandhaus lässt er immer mehr Gefühle zu. Sie werden durch die Lieder des Bühnenprojekts »Schlachtfeld der Seele« hörbar gemacht. Es geht um Zwischentöne, um Einblicke in die Soldatenseele.

Das Schlüsselerlebnis für Schott und seine Kollegen: als sie das erste Mal den Gewandhauschor ihre Texte singen hörten. Nach der Probe verließ Schott den Raum aufgekratzt und mit Gänsehaut. Auch die übrigen Soldaten waren sichtlich bewegt, konnten kaum Worte für das emotionale Erlebnis finden. Für den Chorabend setzt Dramaturg Schluttig darauf, »dass Bundeswehr fühlbar, spürbar wird« – eventuell auch für ein kritisches Leipziger Publikum, das in der Regel nichts mit dem Militär zu tun hat, geschweige denn sich mit den Erlebnissen von Soldaten auseinandersetzt.

Schott ist enttäuscht darüber, dass das Projekt innerhalb der Bundeswehr kaum wahrgenommen wird. Vor allem aber sind sie gespannt, wie Texte und Musik beim Publikum ankommen. Für einen Abend werden sie im Rampenlicht stehen. Ihr Soldatsein haben sie nicht in Frage gestellt. 2012 wartet der nächste Auslandseinsatz.

** Name von der Redaktion geändert

Das Chorkonzert »Schlachtfeld der Seele« findet am 7. Mai um 20 Uhr, im Gewandhaus Leipzig statt.

www.dramavision.de

* Aus: Neues Deutschland, 6. Mai 2011


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