"... bleibt mir leider nur die Möglichkeit, meinen weiteren Dienst in der Bundeswehr zu verweigern"
Protest gegen den NATO-Beschluss, den "präventiven" Verteidigungsfall auszurufen
Vom Unterzeichner erhielten wir folgenden Brief, den wir hier gern veröffentlichen:
Sehr geehrter Herr Minister Scharping,
die Deutsche Bundeswehr hat sich - dank der unter den Regierungen Brandt
und Schmidt in Angriff genommenen Reformen und dank des Beibehalten am
Wehrpflichtmodell - von einem Staat im Staate zu einer zivilen
Bürgerarmee entwickelt. Ich konnte die Beginne der inneren Wirkungen der
Reformen miterleben, da ich meinen Wehrdienst während des
Yom-Kippur-Krieges und der inneren Bedrohung durch die sog.
Rote-Armee-Fraktion geleistet habe (ich bin mit dem Dienstgrad des
Obergefreiten der Res. in die Wehrreserve entlassen worden).
Mit dem gestrigen Beschluß des NATO-Rates, in der gegenwärtigen,
schockierenden Situation “präventiv” den Verteidigungsfall auszurufen,
bleibt mir leider nur die Möglichkeit, meinen weiteren Dienst in der
Deutschen Bundeswehr zu verweigern. Für den Eintritt des
NATO-Verteidigungsfalles ist es ausreichend, daß die Taten aus dem
Ausland heraus begangen worden sind und die USA die NATO um Beistand
bitten.Dabei liegt den Vereinigten Staaten weder eine Kriegserklärung
vor noch sind im hoheitlichen Auftrag eines Landes handelnde
Kombattanten im Sinne der Haager Landkriegsordnung identifiziert worden.
Daher ist der NATO-Beschluß völkerrechtlich nicht nachvollziehbar und
unterfütterbar.
Der derzeit wahrscheinliche Spezialfall eines Landes, das mutmaßliche
Verantwortliche der Terrorakte beherbergt, aber eventuell bereit ist,
diese in einem rechtsförmigen Verfahren auszuliefen, wird im Beschluß
der NATO nicht als - hier notwendiger, weil vermutlich vorliegender -
Sonderfall erwähnt. Die vorherige Erklärung des Verteidigungsfalles
bedeutet vielmehr den Eingriff in innere Angelegenheiten eines Landes.
Dabei wird im übrigen auch einer Verfolgung von reinen Gesinnungstätern
- noch dazu durch die Armee - Tor und Tür geöffnet. Tendenziell werden
so also demokratisch-rechtstaatliche Ordnung und strikte Gewaltenteilung
- Lehren aus der NS-Diktatur - aufgegeben.
Die Beteiligung an den sich nun wahrscheinlich ergebenden Einsätzen
bedeutet daher eine große inntere Belastung für die Bürgerarmee
Bundeswehr. Wehrpflichtige müssen nun Soldaten unterstützen, die - ohne
von der UNO legitimiert zu sein - ein Land angreifen, daß keinen Krieg
erklärt hat und vermutlich auch die Terroristen, die in New York und
Washington die furchtbaren und verabscheuungswürdigen Attacken auf die
Vereinigten Staaten verübt haben, nicht beauftragt hat. Grundsätzlich
sollte ein Bürgerheer an solchen Einsätzen nicht beteiligt werden.
Wenn Sie die Amerikaner in ihren Operationen unterstützen wollen, so
stellen Sie diesen für humanitäre Einsätze im Inneren Freiwillige zur
Verfügung. Andernfalls werden Sie auf Dauer das Bürgerheer Bundeswehr
opfern und - ob Sie wollen oder nicht - den Weg zur Berufsarmee fördern.
Die Erfahrungen von Preussen, dem Kaiserreich von 1871 und insbesondere
der Weimarer Republik mit seinen Militärputschen haben gezeigt, das
andernfalls die Armee zum (unkontrollierbaren) Staat im Staate werden
kann.
Herr Minister, bedenken Sie noch einmal Ihr Handeln und retten Sie die
Bundeswehr in der momentanen Form, also als eine tragfähige Institution
einer demokratischen Bundesrepublik Deutschland. Ersparen Sie ihr diesen
Einsatz in einer von der NATO auf fragwürdiger Grundlage selbsternannten
Weltpolizei. Die langfristige Konsequenz aus einem jetzigen Einsatz ist
ein Berufsheer mit der Gefahr einer neuen Einkapselung gegenüber der
demokratischen und offenen Gesellschaft, die es - soweit sind wir uns
einig - vehement zu verteidigen gilt. Verspielen Sie nicht das dazu
notwendige Fauspfand Bürgerarmee, das über mehr als 30 Jahre von Ihren
Vorgängern der verschiedenen Regierungen aufgebaut und ausgebaut worden
ist.
Mit demokratischen Grüssen
Dr. Engelbert Schramm
P.S. Sie werden verstehen, daß ich unter den gegenwärtigen Umständen,
die meinem Eid von 1973 auf die Fahne der Bundesrepublik Deutschland
zuwiderlaufen, nicht mehr der Bundeswehr zur Verfügung stehen kann und
will. Meine Verweigerung habe ich daher als word-Dokument angefügt.
P.P.S. Diesen Brief werde ich als Offenen Brief an ausgewählte
Mitglieder des Deutschen Bundestages und an eine interessierte
Öffentlichkeit - insbesondere das Darmstädter Signal als
Interessensvertretung der Soldaten - weiterleiten.
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