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Vor der Strukturreform der Bundeswehr: Sind die Freiwilligen-Streitkräfte der Wehrpflicht-Armee unterlegen? Die Erfahrungen in anderen Staaten

Beiträge von Ulrike Bosse und Dirk Eckert aus der NDR-Reihe "Streitkräfte und Strategien"


Ulrike Bosse (Moderatorin)

Sommerreisen von Politikern sind grundsätzlich keine Urlaubsreisen. Im Allgemeinen dienen sie der Imagepflege und der Begegnung mit dem „Volk“, von dessen Lebenswirklichkeit sie in den Raumschiffen der Politik: dem Ministerium, der Staatskanzlei oder der Parteizentrale nicht viel mitbekommen. Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg hatte sich bei seiner Sommerreise zu mehr als 20 Bundeswehrstandorten in diesem Jahr noch eine weitere Aufgabe vorgenommen: Er wollte werben für die Strukturreform der Bundeswehr:

O-Ton zu Guttenberg
„Die Grunddebatte ist doch die, haben wir eine Bundeswehr, die den sicherheits- und verteidigungspolitischen Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft überhaupt noch gerecht werden kann? Und das kann man leider nur mit einem Nein beantworten.“

Über die endgültige Gestalt und die Folgen der Reform ließ er die Soldaten, mit denen er Labskaus oder Grillfleisch aß, freilich ebenso im Unklaren wie die Kommunalpolitiker, die ihn begrüßten, oder die Journalisten, die ihn befragten. Einige Informationen wurden in Berlin gestreut und verdichteten sich zu einem Bild - der Minister selbst will am 23. August die zuständigen Ausschüsse des Bundestags über seine Vorstellungen informieren. Bei den öffentlichen Auftritten und Presse“begegnungen“ zwischen Garmisch und Wilhelmshaven ebenso wie in den Zeitungs- Hörfunk- und Fernsehinterviews dieses Sommers beschränkte er sich zunächst noch einmal auf die Beschreibung der Misere:

O-Ton zu Guttenberg
„Bundeswehr ist mit veraltetem Material ausgestattet, hat Strukturen die teilweise noch den Geist des Kalten Krieges atmen, ist dramatisch unterfinanziert, über viele viele Jahre hinweg.“

Daher:

O-Ton zu Guttenberg
„Es muss etwas getan werden.“

„Flexibel, hochbeweglich und hochprofessionell“ müsse die Bundeswehr werden, sagt zu Guttenberg – dass sie billiger werden muss, setzt er als bekannt voraus. Die Bundeswehr müsse Deutschland und das Bündnisgebiet schützen und gleichzeitig „sogenannte hochintensive Einsätze und Ausbildungs- und Beobachtermissionen im Ausland“ leisten können, so beschreibt er ihre Aufgaben. Die Bedrohungsszenarien, auf die er verweist, reichen vom Internationalen Terrorismus und scheiternden Staaten über Klimawandel und die Frage von Ressourcensicherheit bis zur Sicherheit der Netze:

O-Ton zu Guttenberg
„Und wir sind als solches im Grunde nicht wettbewerbsfähig und auch nicht schutzfähig für unsere Bevölkerung, wenn man das gesamte Szenario – das, was an Herausforderungen ansteht und gegeben ist - sich betrachtet.“

Daher:

O-Ton zu Guttenberg
„Es muss etwas getan werden.“

Die Reform wird die Bundeswehr verkleinern – von 250.000 Soldaten auf wohl knapp 170.000 Soldaten, wenn es nach den Vorstellungen des Ministers geht. Die Organisation der Bundeswehr wird verändert – voraussichtlich mit einer Aufwertung des Generalinspekteurs und einer Entmachtung der Inspekteure der Teilstreitkräfte; Rüstungsvorhaben werden gestrichen oder gekürzt; Standorte werden geschlossen. Die Wehrpflicht steht zur Disposition. Weil ihre völlige Abschaffung vor allem in der Union, aber auch in der SPD schwer durchsetzbar wäre, soll sie im Grundgesetz erhalten bleiben. Doch eingezogen werden sollen nur mehr die Rekruten, die sich freiwillig melden, für ein Jahr oder länger. „Freiwilligenarmee“ statt „Berufsarmee“ – das ist die Brücke, über die zögernde Abgeordnete zur Zustimmung geführt werden sollen. Die Flexibilität, Beweglichkeit und Professionalität, die zu Guttenberg von der Bundeswehr der Zukunft verlangt, ist nicht zu erreichen mit einer Wehrpflichtarmee mit Soldaten, die in einem sechsmonatigen Schnupperkurs lernen, im Gleichschritt zu marschieren und ihre Hemden ordentlich zu falten. Die Bundeswehr könne ihre Aufgaben kaum erfüllen als „ein Unternehmen, das zur Hälfte aus Praktikanten“ bestehe – es sind viele Zeit- und Berufssoldaten, die die Sache mittlerweile nüchtern so sehen – der Minister formulierte es bisher vorsichtiger und offener:

O-Ton zu Guttenberg
„Wenn man eine viertel Million Soldaten als Gesamtrahmen nimmt, den wir derzeit haben, und nur 7 bis 8.000 davon in den Einsatz schicken können, dann zeigt das eigentlich in welcher Situation wir uns befinden. Es muss etwas getan werden.“

Deutschland würde mit der faktischen Aufhebung der Wehrpflicht dem Beispiel der meisten seiner Bündnispartner folgen. Viele Länder haben die Wehrpflicht im letzten Jahrzehnt abgeschafft – welche Erfahrungen sie damit gemacht haben, berichtet Dirk Eckert:

Manuskript Dirk Eckert

Zwanzig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges geben immer mehr Staaten in Europa die Wehrpflicht auf. 2001 zog Frankreich seine letzten Wehrpflichtigen ein; seitdem verging kaum ein Jahr, in dem nicht irgendwo die Wehrpflicht abgeschafft oder, wie in Italien 2005, ausgesetzt wurde. Spanien, Slowenien, Tschechien, Portugal führten die Freiwilligenarmee ein, zuletzt hat Schweden 2010 die Wehrpflicht abgeschafft. Und sogar in der Türkei gibt es entsprechende Überlegungen, weil immer wieder Wehrpflichtige im Kampf gegen die kurdischen PKK-Rebellen getötet werden.

Vorbei ist die Zeit der Massenheere. Gefragt sind kleine, professionelle Truppen, wie sie für Interventionen am Hindukusch oder in Afrika gebraucht werden. Der Militärsoziologe Paul Klein:

O-Ton Klein
„Der Vorteil ist eindeutig der, dass man also wesentlich mehr Zeit hat, die Soldaten auszubilden, und die Soldaten dann nachher, wenn sie mit ihrer Ausbildung fertig sind, dann in aller Regel keinerlei Beschränkung hinsichtlich Auslandseinsätzen und so weiter unterliegen.“

Für die Militärs bringt die Umstellung auch Probleme mit sich. Sie klagen vor allem über fehlenden Nachwuchs. Denn die Wehrpflicht hatte jede Generation junger Männer in die Kasernen gezwungen. Einige blieben danach freiwillig als Berufssoldaten. Ohne Wehrpflicht muss das Militär für sich werben.

Im Multimedia-Zeitalter setzen Armeen dabei auf Fernseh- und Kinospots genauso wie auf Internet- und Werbeauftritte. In Deutschland zum Beispiel drängt die Bundeswehr schon heute verstärkt in Arbeitsämter und auch Schulen. Denn die Militärplaner fürchten, dass die Zahl der Rekruten wegen geburtenschwacher Jahrgänge zurückgehen wird. Der „Wettbewerb um die besser gebildeten, motivierten und leistungsbereiten Jugendlichen“ werde sich dramatisch verschärfen, warnte das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr in seiner Jugendstudie 2007. Die Anwerbeversuche an Schulen und Arbeitsämtern sind freilich nicht unumstritten. Kritiker werfen der Bundeswehr vor, den Soldatenberuf dabei geschönt darzustellen und gezielt die Notlage von Arbeitslosen auszunutzen.

Ein besseres Image allein reicht freilich nicht, um Freiwillige für den Dienst an der Waffe zu begeistern. Wer die Laufbahn eines Berufssoldaten einschlägt oder sich als Zeitsoldat verpflichtet, will auch etwas geboten bekommen. Länder ohne Wehpflicht bieten ihren Soldaten zum Beispiel gute Bezahlung, Zusatzleistungen, Ausbildungsmöglichkeiten, eventuell ein kostenloses Studium oder sogar Aufenthaltsgenehmigungen für Immigranten. Großbritannien, schon seit rund 50 Jahren ohne Wehrpflicht, hat ein Rekrutierungssystem aufgebaut und bietet seinen Soldaten neben der militärischen Ausbildung auch eine Berufsausbildung.

Es gibt aber Fälle, in denen die Umstellung auf eine Freiwilligenarmee auch mit besserer Werbung nicht gelungen ist. In Spanien war der Dienst an der Waffe nie sonderlich beliebt, und das hat sich auch nach der Abschaffung der Wehrpflicht nicht geändert. Deshalb dienen inzwischen Soldaten in der spanischen Armee, die aus Lateinamerika angeworben wurden. Außerdem wurde die Altersgrenze heraufgesetzt und der nötige Intelligenzquotient von 90 auf 70 gesenkt.

Auch die zahlreichen Kriegseinsätze von Afghanistan bis Irak machen eine Karriere beim Militär nicht attraktiver. Das zeigt das Beispiel von Großbritannien, wo die Zahl der Auslandseinsätze der Armee zu schaffen macht. Ein Bericht des Unterhauses offenbarte, dass immer mehr Soldaten über hohe Arbeitsbelastung durch Auslandseinsätze klagen.

Manchmal lösen sich Rekrutierungsprobleme aber auch auf andere Weise: Das Militär profitiert direkt von Wirtschaftskrisen. In den Vereinigten Staaten etwa wurde es nach dem Golfkrieg 2003 zunehmend schwieriger, neue Soldaten zu rekrutieren. Insbesondere die US Army fand weniger Nachwuchs, was zu einem Problem wurde, als die Army nach dem Krieg gegen Saddam Hussein viele Besatzungssoldaten im Irak brauchte.

Doch mit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise meldeten sich wieder mehr Amerikaner freiwillig zum Dienst an der Waffe. Bill Carr, der im Pentagon für das Personal zuständig ist, gab im Oktober 2009 bekannt, dass alle Teilstreitkräfte ihre Rekrutierungsziele erreicht haben – erstmals seit Abschaffung der Wehrpflicht 1973. Offenbar zwingt die Wirtschaftskrise immer mehr Amerikaner zur Armee zu gehen, ungeachtet aller Gefahren, die im Irak oder in Afghanistan drohen.

Denn das Militär kann ihnen Beschäftigung, Ausbildungsmöglichkeiten und auch Bonuszahlungen bieten. Bill Carr machte jedenfalls keinen Hehl daraus, dass das Militär direkt von der Wirtschaftskrise profitiert:

O-Ton Carr (overvoice)
„Wenn die Arbeitslosigkeit um einen Prozentpunkt wächst, dann wächst die Zahl der Rekruten um ungefähr einen halben Prozentpunkt.“

Der verstärkte Andrang ermöglichte es dem US-Militär nach eigenen Angaben, wieder mehr auf die Qualifikation der Bewerber zu achten: 95 Prozent der Bewerber hatten wieder einen Highschool-Abschluss. In den Jahren davor waren auch schon mal Bewerber mit Vorstrafen genommen worden.

Auch in Deutschland profitiert die Bundeswehr von Arbeitslosigkeit: Zur Bundeswehr melden sich überdurchschnittlich viele Soldaten aus Ostdeutschland, wo die wirtschaftliche Lage schwieriger ist als im Westen. In den USA war es der demokratische Senator John Kerry, der offen aussprach, dass es vor allem die ärmeren Teile der Bevölkerung sind, die ihr Leben fürs Vaterland aufs Spiel setzen müssen. Vor Schülern witzelte er im Präsidentschaftswahlkampf 2004:

O-Ton Kerry (overvoice)
„Wisst ihr, Bildung – wenn ihr das Beste daraus macht, hart studiert, eure Hausaufgaben macht und euch anstrengt schlau zu sein – dann kann es gut für euch laufen. Tut ihr das nicht, sitzt ihr irgendwann im Irak fest.“

Befürworter der Wehrpflicht warnen immer wieder davor, dass es eher die gering Qualifizierten sind, die sich freiwillig zum Dienst an der Waffe melden, weil sie auf dem Arbeitsmarkt die schlechtesten Chancen haben. Doch das zeige nur, dass die Armee eben die richtigen Leute ansprechen müsse, argumentiert der Militärsoziologe Paul Klein:

O-Ton Paul Klein
„Man kann also, wenn man die Sache attraktiv gestaltet – siehe Italien – durchaus auch Leute begeistern, einige Jahre in der Armee Dienst zu tun, die eine relativ hohe Qualifikation haben. Italien hat zum Beispiel den Zugang zum uniformierten öffentlichen Dienst einfach daran gebunden, dass man vorher eine bestimmte Zeit freiwillig in der Armee gedient hat. Und das klappt also bei den Italienern wunderbar.“

Mit dem Ende der Wehrpflicht als einer Art Zwangspraktikum müssen die Militärs also lernen, aktiv um Nachwuchs zu werben. Dabei stehen sie in Konkurrenz zu anderen Arbeitgebern am Arbeitsmarkt. Und dort müssen sie den Interessenten etwas bieten, zum Beispiel gute Bezahlung, Zusatzleistungen und Urlaub. Für manche Militärs, die früher über jeden Jahrgang junger Männer frei verfügen konnten, dürfte das ungewohnt sein.

* Aus: NDR-Sendereihe Streitkräfte und Strategien, 14. August 2010; www.ndrinfo.de


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