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Die Neuausrichtung der Bundeswehr – Eine Antwort auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit

Rede des Bundesministers der Verteidigung Thomas de Maizière bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. *


Zwei Tage nach der denkwürdigen Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck vor der Führungsakademie der Bundeswehr, referierte der oberste Dienstherr der Bundeswehr, Verteidigungsminister Thomas de Maizière, bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. in Berlin. Wir dokumentieren die Rede im Folgenden in der Version, die auf der Website des Verteidigungsministeriums veröffentlicht wurde, haben zur besseren Lesbakrkeit aber ein paar Zwischenüberschriften eingefügt.

Rede des Bundesministers der Verteidigung Thomas de Maizière

Berlin, 14.06.2012

Sehr geehrte Damen und Herren,

zwei große Debatten begleiten mich seit meinem Amtsantritt: Das ist zum einen die Debatte über unseren Umgang mit den tiefgreifenden Veränderungen der sicherheitspolitischen Herausforderungen. Zum anderen ist es die Debatte über die Neuausrichtung der Bundeswehr. Und erstaunlicherweise werden diese Themen getrennt voneinander diskutiert, so als hätten sie nichts miteinander zu tun.

Das ist aber falsch. Die Verknüpfung dieser beiden Debatten ist überfällig: Neuausrichtung und Veränderungen in unserem sicherheitspolitischen Umfeld sind zwei Seiten einer Medaille. Oder anders formuliert: Die Neuausrichtung ist eine sicherheitspolitisch notwendige Verbindung mit unserer sich verändernden Welt. Diese möchte ich Ihnen heute erläutern.

Risiken und Bedrohungen haben sich in den letzten 100 Jahren erheblich verändert: "Um 1900", so der Militärhistoriker Martin van Creveld, – ich zitiere – "zweifelte niemand daran, dass eine Großmacht ausschließlich von einer anderen Großmacht wirklich in Gefahr gebracht werden konnte." Der Kalte Krieg schien dieses Verständnis von Machtpolitik zu bestätigen.

Nach den Kriegserfahrungen des 20. Jahrhunderts leben wir Deutsche heute zum ersten Mal – ringsum von Partnern umgeben – friedlich in der Mitte Europas. Aus dem potentiellen Frontstaat Deutschland ist ein Mittelstaat geworden.

Verteidigung ist mehr als Verteidigung

"Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf." Das sagt Artikel 87 GG. „Zur Verteidigung“ – was bedeutet das aber heute? Unter Juristen ist nahe zu unstrittig, dass das mehr ist als Landesverteidigung. Auch sicherheitspolitisch ist Landesverteidigung heute faktisch Bündnisverteidigung. Sicherheitspolitik ist heute nicht mehr vorrangig geographisch definierbar. Internationale Krisenprävention und Krisenbeseitigung, das ist heute auch Aufgabe der Bundeswehr und Teil der internationalen Verantwortung Deutschlands.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir erleben heute eine Vielzahl von Risiken und Bedrohungen, die regional und zeitlich in unterschiedlicher Intensität und Kombination auftreten. Neben klassisch symmetrischen Konflikte treten heute vor allem asymmetrische Bedrohungen. Weit entfernt stattfindende Entwicklungen können rasch unmittelbare Auswirkungen auf Europa und Deutschland haben. Sie alle kennen die Beispiele:

Ich muss sie vor diesem Kreis nicht ausführen und nenne stellvertretend nur: den internationale Terrorismus, Afghanistan, Pakistan, das Versagen von Staatlichkeit (Somalia, Entwicklungen im Norden von Mali, Jemen), Iran, Piraterie, Balkan, Kosovo, Sudan, und mögliche Gefährdungen kritischer Infrastrukturen und Informationsnetzwerken.

Jede dieser Entwicklungen kann zu jeder Zeit auch unser sicherheitspolitisches Handeln erfordern. Eins machen diese Beispiele jedoch auch deutlich: Wir müssen uns auf eine große Anzahl von möglichen unter-schiedlichen Einsatzszenarien vorbereiten, und zwar nicht nur geistig, sondern personell, instrumentell, organisatorisch, im Bündnis, in der EU und in den VN.

Eins machen diese Beispiele jedoch auch deutlich: Wir müssen uns auf eine große Anzahl von möglichen unterschiedlichen Einsatzszenarien vorbereiten, und zwar nicht nur geistig, sondern personell, instrumentell, organisatorisch, im Bündnis, in der EU und in den VN.

Bundeswehreinsätze "überall auf der Welt"

Wahrscheinlicher als Landesverteidigung und Bündnisverteidigung sind heute Einsätze der Bundeswehr zur Krisenbewältigung und Konfliktverhütung – über Grenzen von Nationalstaaten hinweg nahezu überall auf der Welt. Und diese potentiellen Einsätze sind es auch, die vorrangig unsere Fähigkeiten, unsere Ausrüstung, unsere Strukturen bestimmen müssen.

Niemand von uns drängt sich nach Einsätzen. Aber wenn sie politisch gewollt und entschieden sind, muss die Bundeswehr einsatzbereit und einsatzfähig sein. Als Mitglied der internationalen Gemeinschaft wird Deutschland künftig eher häufiger gefragt werden, wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen – auch militärisch. Auf diese Anfragen müssen wir angemessene und glaubhafte Antworten geben können, positive und negative, bündnistreu und selbstbewusst.

Unmittelbar damit verbunden ist die Frage, über welche Fähigkeiten die Bundeswehr verfügen soll: Und da ist die Verbindung zur Neuausrichtung der Bundeswehr: Brauchen wir ein eher enges, auf spezifische Fähigkeiten begrenztes Fähigkeitsprofil, oder aber ein breites, umfassendes Profil? Das ist eine strategische Frage, die sich heute wohl jedes Land stellen muss. Die Niederlande verzichten zum Beispiel vollständig auf Kampfpanzer.

Das Ziel ist klar: In einem wenig vorhersagbaren sicherheitspolitischen Umfeld geht es im Kern immer darum, möglichst viele geeignete politische Optionen für das eigene Handeln verfügbar zu haben. Wir müssen uns auf vieles gut vorbereiten, was bedeutet, dass wir nicht auf alles sehr gut vorbereitet sein können – aber eben auch auf nichts ganz unvorbereitet.

Welche Bundeswehr braucht Deutschland heute, um dieses Ziel erreichen zu können?

Die Vielfalt und Bandbreite potenzieller Konflikte und Einsätze fordern von Deutschland einsatzbereite und bündnisfähige Streitkräfte. Und das heißt nichts anderes, als die Fähigkeit zum flexiblen Einsatz im gesamten Aufgabenspektrum.

Bundeswehr benötigt ein "breites Fähigkeitsspektrum" ...

Flexibilität, das bedeutet Breite. Die Bundeswehr benötigt ein breites Fähigkeitsspektrum: von der Hilfeleistung über die Unterstützung beim Katastrophenschutz, die humanitäre Intervention, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, die Evakuierungen deutscher Staatsbürger, für mehrjährige Stabilisierungsoperationen, die Unterstützung von Partnerstreitkräften (siehe Kosovo oder Afghanistan) und natürlich bis hin zur Bündnisverteidigung.

Was heißt das für uns konkret?

Stabilisierungsoperationen sind heute länger und härter geworden. Sie fordern eine neue Gewichtung der Fähigkeiten. Heute stehen häufig nicht mehr die Großverbände im Vordergrund, die die Basis der Kriegsführung im letzten Jahrhundert waren. Eher stehen wir vor asymmetrischen Bedrohungen durch „Teilzeitkrieger“, die nicht ohne weiteres als Kombattanten erkannt werden. Wir erleben versteckte, fern gezündete Sprengladungen, aufgebrachte Menschenmengen, die unsere Soldaten angreifen, Piraten, die in erster Linie die private Handelsschifffahrt und nicht unsere Marine bedrohen.

"... mit leistungsfähigen Waffensystemen"

Vor dem Hintergrund dieser anspruchsvollen, aber sehr unterschiedlichen Herausforderungen würde jeder von uns sicherlich Breite und Tiefe bevorzugen. Dies ist aber nicht nur unbezahlbar. Es geht auch gar nicht. Zwischen Breite und Tiefe gibt es immer ein Spannungsverhältnis, das austariert werden muss.

Es geht bei der Neuausrichtung deshalb darum, die erforderlichen Fähigkeiten effizient mit leistungsfähigen Waffensystemen und moderner Ausrüstung zu hinterlegen, eine entsprechende Organisationsstruktur zu haben und physisch und charakterlich geeignete Menschen als Soldaten auszubilden. Uns muss es gelingen, diese geforderten Fähigkeiten innerhalb des vorgegeben Budget- und Zeitrahmens zu realisieren.

Bereits vor 12 Jahren hieß es im Abschlussbericht der so genannten Weizsäcker-Kommission: „Die Bundeswehr, die sich dort beschränkt, wo das möglich ist, schwächt sich nicht, sondern steigert ihre Leistungsfähigkeit.“ Heute wie damals gilt: „Weniger“ führt nur auf den ersten Blick zu schrumpfenden Handlungsspielräumen. Verzicht muss intelligent geübt werden, damit er auch innovativ sein kann.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Inzwischen waren mehr als zehntausende Bundeswehrangehörige insgesamt mehr als 300.000 Mal im Auslandseinsatz. Sie alle haben einen guten Job gemacht und ihren Beitrag für den Frieden und die Sicherheit Deutschlands und der Welt geleistet und dabei auch zur internationalen Anerkennung Deutschlands beigetragen. Aber wahr ist auch: Trotz aller Anpassungen und Reformen der vergangenen Jahre ist die Bundeswehr auch heute noch nicht hinreichend auf die aktuellen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen ausgerichtet.

Ein Beispiel: Die Bundeswehr gibt derzeit knapp ein Viertel des Verteidigungsetats für Investitionen aus. Das ist nicht schlecht. 95 Prozent davon aber sind durch Aufträge aus weit zurückliegenden Jahren gebunden. Das ist sicherlich nicht sehr innovativ. Wir sind nicht die einzige Nation, die sich darüber Gedanken macht, wie man die eigenen Strukturen an die veränderten sicherheitspolitischen Herausforderungen anpassen kann. Viele unserer NATO-Partner (zum Beispiel Frankreich, Großbritannien, Schweden) arbeiten zur Zeit an Plänen zur Anpassung ihrer militärischen Strukturen.

Klar ist: Die neue Bundeswehr braucht hinreichend verfügbare, hochprofessionelle durchhaltefähige Einheiten, die mit moderner Technologie ausgestattet, mobil und schnell verlegefähig sind. Diese Einheiten müssen modular auf die jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden können – „tailored to the mission“. Sie müssen schnell und flexibel auf veränderte Situationen reagieren können und zu den Streitkräften unserer Verbündeten interoperabel sein. Dies ist auch notwendig, um als Rahmennation in Einsätzen Führungsaufgaben übernehmen zu können. Unsere Partner können dann mit ihren Fähigkeiten modular ergänzen. Oder umgekehrt. So können wir jeweils die entsprechende „Tiefe“ für länger dauernde Operationen erreichen.

Cyberangriffe werden nicht durch Kampfverbände gestoppt und im Gegenangriff einer Division zerschlagen. Hier brauchen wir leistungsstarke Teams aus Computerexperten. Für andere Operationen brauchen wir aber auch weiterhin modernstes Großgerät wie zum Beispiel Panzer, Kampfflugzeuge, Fregatten.

Lehren aus Afghanistan

Hinzu kommen einige Lessons Learned aus Afghanistan: Nahezu jedes Einsatzkontingent wurde aus den Erfahrungen des vorherigen Kontingentes verändert. Frei nach Helmut Graf von Moltke, ich zitiere: "Kein Plan überlebt die erste Feindberührung." Dies stellt die Truppe vor große Herausforderungen. Denn von der Einsatz vorbereitenden Ausbildung bis hin zum Wirken als schlagkräftiges Team zusammen mit den afghanischen Sicherheitskräften ist es ein weiter Weg.

Im Heer wird zukünftig die Brigade die Fähigkeiten zu einem leistungsfähigen Ganzen integrieren. Mit ihrem breiten Spektrum an Kampftruppe und Aufklärungs-, Pionier- und Versorgungskräften stellt die Brigade in sich einen flexiblen und dem bestgeeigneten Verbund dar. Dieser Verbund wird gegebenenfalls unter Verstärkung von Fähigkeiten anderer Organisationsbereiche bedarfsgerecht zusammengestellt und ausgebildet.

In der Marine werden in den Einsatzflotillen maritime Expertise und Waffensysteme so zusammengefasst, dass wir Einsatzmodule aus festen Strukturen beschicken können. Wir werden künftig ein bis drei Besatzungen für ein Schiff haben. Das scheint auf den ersten Blick nicht besonders spektakulär zu sein. Für den einzelnen Kapitän, der früher „sein Schiff“ hatte, bedeutet dies aber eine tiefgreifende Mentalitätsänderung.

Das veränderte sicherheitspolitische Umfeld wirkt sich zum Beispiel auch auf die Infrastruktur und Stationierung der Marine aus: Die heutige Infrastruktur folgt teilweise noch der Logik des Kalten Krieges: Damals gab es eine Zweiteilung. Die Häfen in der Ostsee dienten der Abwehr der Bedrohung aus dem Osten. Die Häfen in der Nordsee dienten der Sicherung der Nachschubwege bis zur NATO-Nordflanke. Heute gibt es diese Bedrohung aus dem Osten nicht mehr. Die Ostsee ist jedoch immer noch wichtig, auch als Übungsgebiet. Das ist der tiefere Grund, warum Wilhelmshaven und nicht Kiel oder Glücksburg der große Marinestandort wird.

Fähigkeitsschwerpunkt der neuen Luftwaffe ist nicht mehr der Kampf gegen gegnerisches Luftkriegspotenzial. Ziel ist heute vielmehr ein ausgewogenen Profil mit Fähigkeiten zu unterstützenden Luftoperationen, Überwachung, Aufklärung und Luftnahunterstützung. Das veränderte sicherheitspolitische Umfeld wirkt sich auch auf die Infrastruktur und Stationierung der Luftwaffe aus. Vor der Wiedervereinigung hatten wir 40 Flughäfen nur für die Bundeswehr. Künftig werden es 16 sein. Der Fluglärm hat erheblich abgenommen.

Orientierung Richtung Norden

Die Bedrohung im Kalten Krieg führte zu Infrastruktur auf der „C-Linie“. Heute gibt es diese klar geographisch definierbare Bedrohungslinie nicht mehr. Nicht mehr Hauptangriffsrichtungen eines realen Gegners bestimmen die Stationierung, sondern funktionale Fragen. So haben zum Beispiel Untersuchung von Eurocontrol ergeben, dass es künftig zu einer hohen Flugbelastung im Süden kommen wird. Mit dem Ziel der Entflechtung des Flugverkehrs haben wir deshalb Stationierung eher im Norden vorgesehen.

Ein weiterer Grund für Orientierung Richtung Norden eher strategische Planung für die Zukunft, noch nicht Realität: Unbemannte Luftfahrzeuge könnten sich künftig im nicht so dicht besiedelten Norden (über Meer) besser in den Luftraum bringen lassen. Auch auf die Logistik hat das veränderte sicherheitspolitische Umfeld massiven Einfluss (im Kalten Krieg: Bevorratungslogistik, heute: Bereitstellungslogistik. Logistische Infrastruktur ist heute nicht mehr an geographischer Bedrohungslinie auszurichten, andere Kriterien stehen heute im Vordergrund: Wirtschaftlichkeit, Rücksichtnahme). Ähnliches gilt für die Artillerie.

In der Streitkräftebasis erbringen Soldatinnen und Soldaten aus allen Teilstreitkräften Leistungen für die gesamten Streitkräfte. Hier haben wir auf nationaler Ebene den „pooling and sharing“ Gedanke bereits konsequent umgesetzt. Die Streitkräftebasis ist international einzigartig. Sie hat jedoch bereits die Aufmerksamkeit unserer Partner gefunden. Mehrere Nationen, wie zum Beispiel Großbritannien, sind dabei, in ihren Strukturen ähnliche Schritte zu gehen.

Neben Strukturen werden wir auch unsere Waffensysteme künftig flexibler auslegen. Die Mehrrollenfähigkeit des Eurofighters ist dafür ein Beispiel. Zukünftig wird es auch noch viel mehr auf die Unterstützung von Sicherheitskräften von Partnern ankommen, damit sie befähigt werden, regional Verantwortung zu übernehmen (Beispiele: unsere Mentoren und Ausbilder in den OMLT in Afghanistan). Entsprechende Kräfte und Personal für multinationale Hauptquartiere werden bereits in der Grundstruktur vorgesehen.

Die künftigen Streitkräfte werden jedoch nicht nur mobil und schnell verlegefähig sein. Sie werden noch stärker eskalationsfähig und skalierbar sein, um in allen Aufgabenbereichen den Bedrohungen und Anforderungen unterschiedlicher Art und Intensität wirkungsvoll begegnen zu können (kurze Reaktionszeiten, Einsatzverlauf schwer vorhersagbar).

Notwendig ist eine "Neuausrichtung der Bundeswehr als Ganzes"

Fasst man diese wenige Beispiele von vielen zusammen, dann wird schnell klar, warum eine rein kontinuierliche Anpassung im Rahmen der Fortführung einer Transformation nicht zum Erfolg führen konnte. Eine Neuausrichtung der Bundeswehr als Ganzes war notwendig.

Zwei Beispiele an dieser Stelle:

die Wehrform: Zu Zeiten des Kalten Krieges ging es um die schnelle Aufwuchsfähigkeit der Streitkräfte, d.h. wir brauchten viele Reservisten. Die geeignete Wehrform dazu war die Wehrpflicht. Heute brauchen wir hoch professionelle, jederzeit einsatzbereite Streitkräfte und einen weniger schnellen Aufwuchs (dafür aber vor allem Spezialisten; nicht Quantität sondern Qualität). Darauf haben wir reagiert. Auch für eine andere Art von Reservisten, die wir weiterhin dringend brauchen, wurde eine neue Konzeption entwickelt.

Die Unterteilung in Kräftekategorien und unterschiedliche Ausstattung. Sie hat sich aus verschiedenen Gründen nicht bewährt: Erstens: Die Bindung von Kräften nur für bestimmte Aufgaben wie Eingreifoperationen oder Stabilisierungseinsätze verengt den militärischen Handlungsspielraum. Um Einsätze über längere Zeit und bei sich änderndem Konfliktverlauf durchhalten zu können, muss man das gesamte Kräfteportfolio nutzen können. Dies ist eine wesentliche Lehre aus Afghanistan.

Zweitens: Einsatzrealität und Fürsorge. Häufig waren es die Stabilisierungskräfte im Einsatz, welche die Ausrüstung benötigten, die ursprünglich für Eingreifkräfte vorgesehen war. Drittens: Eine starre Zuordnung von Kräften zu Aufgaben führt unter Umständen auch zu einer gewissen Trennung. Die einen mit Einsatzerfahrung, die anderen ohne. Das können wir jedoch nicht in einem größeren Ausmaß wollen, als es in einer arbeitsteiligen Bundeswehr unvermeidlich ist. Denn das schadet dem inneren Gefüge und der Kameradschaft.

Sehr geehrte Damen und Herren,

mehr Handlungsspielraum können wir nur durch zwei Dinge gewinnen: durch Effizienzsteigerung und die Kooperation mit Partnern. Zum Thema „Verbesserung der Einsatzfähigkeit“ habe ich Ihnen nun einige Gedanken vorgetragen. Wie sieht es nun aus mit der Kooperation mit Partnern?

Internationale Kooperation

Die Stärkung der internationale Kooperation ist ein wesentliches Gestaltungsprinzip der Neuausrichtung. Wir werden künftig noch viel enger im Bereich der Planung zur gemeinsamen Identifizierung und Schließung von Fähigkeitslücken zusammen arbeiten müssen. Ausgenommen davon werden solche Fähigkeiten sein, die national unverzichtbar sind. Wir stehen nicht am Anfang des Weges. Es gibt schon viel pooling und sharing und smart defence. Aber jetzt zeichnen sich erste gemeinsame neue Projekte ab.

Klar ist aber auch – und ich sage es immer wieder – smart defence spart kein Geld. Es erspart uns nur künftige Aufwendungen. Jeder, der sich in diesem Bereich etwas auskennt, der weiß: Der Weg hin zu mehr internationaler Kooperation ist langwierig und er ist steinig. Nationale Egoismen müssen überwunden und eingetretene Pfade verlassen werden. Das dauert und kostet Kraft.

Aber – und das dürfen wir auch niemals vergessen – die vertiefte Kooperation in militärischen Angelegenheiten ist – historisch gesehen – ein junger Vorgang (Sonderstellung des Militärs als „Garant des nationalen Selbstbehauptungswillens“). Sowohl die Gent-Initiative als auch der NATO-Gipfel in Chicago mit der Verabschiedung des "smart-defence-concept" zeigen jedoch ganz klar den Willen, die Bereitschaft und auch die gestiegene Einsicht der Staaten zur Kooperation.

All diese Initiativen sind nützlich, wenn daraus folgende Kooperationen nicht exklusiv, sondern offen für alle Partner sind. In der internationalen Kooperation müsste hier die Stunde der EU schlagen. Sie hat die Chance, die militärische Kooperation auf eine neue gemeinsame Ebene zu heben. Bereits in der Vergangenheit hat kaum eine europäische Nation ein Großprojekt national gestemmt. Deshalb muss internationale Kooperation auch in der europäischen Rüstungspolitik Normalität werden.

Sicherheitspolitik und Verteidigungsfähigkeit gehen mit einer leistungsfähigen, innovativen, wettbewerbsfähigen und zuverlässigen verteidigungstechnologischen Industriebasis einher. Dies bedingt einen offenen Dialog zwischen den Staaten und der Industrie – und zwar auf nationaler und europäischer Ebene.

Unter Verbündeten darf es keinen schleichenden und unkoordinierten Abbau von Fähigkeiten geben, der jeweils nur nationalen Politikvorgaben folgt. Vielmehr müssen wir die jeweils national verfügbaren Fähigkeiten in einer europäischen Gesamtschau betrachten. Deshalb soll die bestehende NATO-Planung aufgewertet werden.

Bei geplanten Änderungen im nationalen Fähigkeitsspektrum muss stets die Erhaltung der Verteidigungsfähigkeit von EU und NATO als Ganzes im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Verbesserte europäische Fähigkeiten stärken nicht nur die EU. Als europäischer Beitrag stärken sie auch die NATO.

Aus diesen Leitgedanken sind bereits in kurzer Zeit konkrete Projekte entstanden: die Einrichtung eines Pools von Seeraumüberwachungsflugzeugen und eines multinationalen Hauptquartiers in Ulm zur operativen Führung von Einsätzen im Rahmen von NATO und EU. Wichtig ist hier aber natürlich auch die bilaterale Zusammenarbeit. Sie ist der harte Kern der internationalen Zusammenarbeit. Zentrale Kriterien für den Erfolg unserer Zusammenarbeit: Vertrauen, Verlässlichkeit und das Setzen realistischer Ziele.

Bis zu 10.000 Soldaten in zwei Einsatzgebieten

Realistische Ziele, das gilt auch für unsere eigenen Zielvorgaben. Unsere nationale Zielvorgabe der Vergangenheit war, wie wir heute wissen, überambitioniert (bis zu 14.000 Soldaten in bis zu fünf Stabilisierungseinsätzen). Heute sind wir realistischer. Wir werden je nach Anforderungsprofil bis zu 10.000 Soldaten gleichzeitig in bis zu zwei Einsatzgebiete durchhaltefähig entsenden können und wir werden Beiträge zur NATO Response Force (NRF) und zu den EU Battlegroups leisten. Wir brauchen uns damit nicht zu verstecken. Im Gegenteil: Wir bewegen uns damit auf Augenhöhe mit unseren Partnern in Europa, gerade auch mit Großbritannien und Frankreich.

Aus Verantwortung für unsere Soldatinnen und Soldaten wollen wir am Rhythmus von grundsätzlich vier Monaten Einsatz in zwei Jahren festhalten. 20 Monate Zeit zwischen den Einsätzen zur Regeneration, für Ausbildung und der erneuten gezielten Einsatzvorbereitung haben sich bewährt. Durchhaltefähig im Einsatz: Das ist ein wesentlicher Anspruch, den wir an uns selbst stellen.

„Durchhaltefähig“ – das ist übrigens ein interessanter Begriff. Bei uns heißt durchhaltefähig „mehrere Jahre“, bei manchen anderen Nationen heißt durchhaltefähig „ein Jahr.“ Nicht alle Fähigkeiten können und müssen jedoch zukünftig uneingeschränkt durchhaltbar in jedem Einsatzgebiet der Bundeswehr verfügbar sein.

Dazu gehört, dass wir Fähigkeiten mit Multiplikatorenwirkung wie Feldjäger und die Führungsunterstützung, aber auch Infanteriekräfte und den Lufttransport strukturell stärken. Kräfte, die regelmäßig zeitlich begrenzt im hochintensiven Gefecht benötigt werden, können wir auf kürzere Stehzeiten bzw. geringere Einsatzfrequenzen ausrichten.

"Brunnen bohren und Brücken bauen" sollen andere

Zu einer gesunden Aufgabenkritik gehört aus meiner Sicht aber auch, die Grenzen der Aufgaben der Bundeswehr anzusprechen. Es gehört zu den Erfahrungen der Vergangenheit, dass die Bundeswehr tun musste, was eigentlich in den Zuständigkeitsbereich anderer fiel: Brunnen bohren und Brücken bauen gehörten noch nie zu den Kernfunktionen von Streitkräften. Sie können es aber. Wenn diese Aufgaben nicht durch andere Ressorts, NGOs oder andere Organisationen wahrgenommen werden, entsteht jedoch vor Ort ein Vakuum. Und bisher waren es zu oft die Soldaten, die dieses Vakuum gefüllt haben.

Hier zeigt sich, dass der Gedanke der vernetzten Sicherheit national und international noch stärker mit Leben gefüllt werden muss. Vernetzte Sicherheit ist keine Militarisierung von Sicherheit, sondern ihre Erweiterung durch andere Politikfelder. Vernetzte Sicherheit heißt, dass alle Politikfelder ihre eigene sicherheitspolitische Verantwortung kennen und wahrnehmen müssen. Am Beispiel Atalanta könnte ich Ihnen das ausführlich erläutern.

Im Klartext: Wenn Streitkräfte ein hinreichend sicheres und stabiles Umfeld geschaffen haben, sind es andere Akteure der vernetzten Sicherheit, die handeln müssen. Hier gibt es noch viel zu tun. Und: Politik darf nicht aufhören, wenn Soldaten ihren militärischen Auftrag erfüllen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit der Neuausrichtung der Bundeswehr reagieren wir auf die veränderten sicherheitspolitischen Herausforderungen. „"Das Vorhaben verlangt Energie und Ausdauer. Es wird Jahre in Anspruch nehmen. Die Belastungen für die betroffenen Menschen sind vorhersehbar groß. Zum grundlegenden Umbau der Bundeswehr gibt es indessen keine Alternative."“ So hieß es bereits vor 12 Jahren im Abschlussbericht der Weizsäcker-Kommission und das gilt auch heute –nach der Arbeit der Weise-Kommission und unseren Arbeiten zur Neuausrichtung – immer noch.

Wichtig ist für mich, dass unsere Arbeit stets getragen ist von Respekt und öffentlicher Wertschätzung für die Soldatinnen und Soldaten und für unsere zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (die ja schon die ein oder andere Reform mitgemacht haben). „"Ich treffe bei der Bundeswehr auf Menschen mit der Bereitschaft, sich für etwas einzusetzen – gewissermaßen auf „Mut-Bürger in Uniform."“ So hat es unser Bundespräsident am 12. Juni bei seinem Antrittsbesuch bei der Bundeswehr gesagt. Er trifft damit genau den Kern. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – mit und ohne Uniform – sind unser wertvollstes Gut.

Eine echte Veränderung gelingt nur durch einen gemeinsamen Kraftakt. Die Neuausrichtung ist notwendig, damit wir unserem Land in einem wenig vorhersagbaren sicherheitspolitischen Umfeld auch künftig politische Handlungsspielräume sichern können: Sicherheitspolitik und Neuausrichtung sind eben zwei Seiten einer Medaille.

Vielen Dank.

* Quelle: Website des Bundesverteidigungsministeriums; www.bmvg.de


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