Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Am Parlament vorbei

Bundesregierung nutzt Libyen-Krise, um Öffentlichkeit an bewaffnete Einsätze ohne Zustimmung des Bundestages zu gewöhnen

Von Sevim Dagdelen *

Die schwarz-gelbe Koalition versucht, im Zuge des Libyen-Konflikts einen neuen Typus bewaffneter Einsätze der deutschen Streitkräfte zu etablieren. In der jüngsten Antwort auf die kleine Anfrage, die ich als Abgeordnete im Zusammenhang mit dem deutschen Kommando-Unternehmen auf dem Gelände der deutschen BASF-Tochter Wintershall im libyschen Nafura stellte (BT-Drs. 17/5359) spricht die Bundesregierung von einem »gesicherten Einsatz«, der nicht vom Parlamentsbeteiligungsgesetz (ParlBG) erfaßt sein soll. Damit wird gezielt versucht, das Grundgesetz zu umgehen und sich um eine Zustimmung des Bundestages zu mogeln. Die Bezeichnung »gesicherter Einsatz« bezeichnet eine bewaffnete Unternehmung, die nicht als kriegerisch betrachtet wird, weil die getragenen Waffen nicht zum Einsatz kamen oder angenommen wird, daß diese nicht eingesetzt werden müssen. Mit dieser Wortakrobatik soll eine »konkludente« Zustimmung des in seinen Hoheitsrechten verletzten Staates herbeifabuliert werden.

Obwohl bei dem Streitkräfteeinsatz Waffen getragen wurden und das Hoheitsgebiet Libyens mißachtet wurde, behauptet die Bundesregierung: »Parlamentsbeteiligungsgesetz (ParlBG) findet nur bei einem Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Ausland Anwendung. Ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte ist nicht anzunehmen, wenn eine Einbeziehung deutscher Soldatinnen und Soldaten in eine bewaffnete Unternehmung nach dem jeweiligen Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen nicht zu erwarten ist.« In der Praxis würde das bedeuten, daß jeder gewaltvoll militärisch durchgesetzte Putsch oder Regime-Change in einem anderen Staat solange als friedlich gilt, solange die eingesetzten Soldaten den Finger nur am Abzug halten, jedoch nicht durchdrücken.

Nach Angaben der Bundesregierung war »Grund für die Evakuierung am 26. Februar 2011 eine akute humanitäre Notlage (zur Neige gehende Wasser- und Lebensmittelvorräte, keine Möglichkeit, das Lager auf dem Landweg zu verlassen)«. An dem bewaffneten Einsatz nahmen zwei Flugzeuge der Luftwaffe (C-160 ESS Transall) teil, die insgesamt 262 Personen, davon 125 deutsche Staatsbürger evakuiert haben. Gleichzeitig hatte Deutschland im Mittelmeer verschiedene Militäreinheiten aufgefahren. Insgesamt wurden 650 Soldatinnen und Soldaten eingesetzt, die formal unterschiedlichen Missionen zugeordnet sind. Allerdings stellt sich die Frage, ob unter den gegebenen Umständen ein solch massives Militäraufgebot in der Nähe libyscher Staatsgrenzen nicht zugleich eine Bedrohung des Friedens oder zumindestens eine völkerrechtswidrige Androhung von Gewalt darstellt.

Die Regierung versucht dabei, den Eindruck zu erwecken, daß die seit dem 25. Januar im Zusammenhang mit den Ereignissen in Nordafrika aktiven deutschen Militärverbände zu Lande, zur See und in der Luft juristisch durch routinemäßige und allgemeine politische Ministerialentscheidungen gedeckt sind. Sollte sich diese Rechtsuaffassung durchsetzen, würde Kanonenboot-Diplomatie zum Alltagsgeschäft.

* Die Abgeordnete Sevim Dagdelen ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages und Sprecherin für internationale Beziehungen der Fraktion Die Linke

Aus: junge Welt, 17. Mai 2011



Zurück zur Bundeswehr-Seite

Zur Seite "Militärinterventionen

Zur Libyen-Seite

Zurück zur Homepage