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Gezielte Tötungen in Afghanistan – die Rolle der Bundeswehr

Ein Beitrag von Franz Feyder aus der NDR-Reihe "Streitkräfte und Strategien"

Andreas Flocken (Moderation):
Der Krieg am Hindukusch geht inzwischen in das zehnte Jahr. Immer mehr Skepsis macht sich breit. Doch ISAF-Befehlshaber Petraeus gibt sich zuversichtlich. Der US-General verweist dabei auf die Operationen von Spezialkräften, die erheblich zugenommen haben. Nach Angaben des ISAF-Hauptquartiers sind in den vergangenen drei Monaten 365 Führer der Aufständischen und über 2.300 Kämpfer gefangengenommen oder getötet worden. Damit habe man der Moral der Aufständischen einen erheblichen Schlag versetzt, heißt es. Zu hören ist, jede Nacht gebe es rund 30 Kommando-Einsätze. Für die NATO und die USA sind Spezialoperationen immer wichtiger. Auch wenn bei den meisten dieser Aktionen kein Schuss fällt: Es kommt dennoch immer wieder zur gezielten Tötung von Führern der Aufständischen. Hierüber ist in Deutschland eine Diskussion entbrannt. Was darf die Bundeswehr? - Was darf sie nicht? Franz Feyder ist diesen Fragen nachgegangen:

Manuskript Franz Feyder

Sie kommen nachts. Dann, wenn der Mond höchstens noch als schmale Sichel am Himmel steht. Schatten huschen durch die Dunkelheit. Sie treten Türen ein. Die roten Strahlen der Laservisiere durchzucken Schlafräume. Der grelle Lichtpegel einer Taschenlampe erfasst das Gesicht eines mutmaßlichen Taliban-Kommandeurs. Wenig später ist der gefesselt. Seine Augen sind verbunden. Soldaten führen den Aufständischen ab. Kein Schuss fällt. Niemand wird verletzt.

Geht es nach der Vorstellung der Bundesregierung, wird so die Führungsstruktur der Taliban zerschlagen - wenn alles idealtypisch läuft, was in den vergangenen zehn Jahren am Hindukusch eher die Ausnahme war. Deshalb hat die NATO eine neue Strategie ersonnen: Die heißt – etwas nebulös - „kinetic targeting“. Gemeint ist nichts anderes, als gezielt einen Menschen zu töten, wenn er nicht festgenommen werden kann. In Deutschland ist ein solches Vorgehen umstritten. Schließlich ist die Würde des Menschen verfassungsrechtlich besonders geschützt und die Todesstrafe ist abgeschafft.

Für den früheren Kommandeur des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr, Hans-Heinrich Dieter, ist die Sache klar - auch bei der Wortwahl. Da ist ihm der Begriff

O-Ton Dieter
„gezielte Tötung lieber als der NATO-Begriff ‚kinetic targeting‘, weil er einfach ehrlicher ist. Nach meiner Überzeugung ist eine ergänzende Gesetzgebung nicht erforderlich, um zum Beispiel in Afghanistan auch deutsche Spezialkräfte auf der Grundlage des UN-Mandates im vollen Spektrum der NATO-Planungen einsetzen zu können.“

Das KSK soll also auch das tun dürfen, worüber Franzosen, Niederländer oder Amerikaner erst gar nicht diskutieren: Wer am Hindukusch gegen die afghanische Regierung oder die Internationale Schutztruppe ISAF kämpft, wer Bomben legt, wer Hinterhalte plant, der muss damit rechnen, getötet zu werden. Auch dann, wenn er seine Kalaschnikow zur Seite gelegt hat, um seine Felder zu bestellen. Auf speziellen Listen sind die Namen von mehreren hundert Aufständischen in Afghanistan und Pakistan festgehalten, die es zu fangen gilt oder zu töten – capture or kill. Für die Bundeswehr gilt bislang der Grundsatz: Festnehmen ja, gezielt töten nein.

Ginge es nach Außenminister Guido Westerwelle, bräuchte es diese Unterscheidung nicht mehr zu geben:

O-Ton Westerwelle
„Ich glaube, ich habe auf die Rechtslage hingewiesen und die Rechtslage ist eindeutig diesbezüglich: Da geht es nicht um Legitimität, es geht um Legalität.“

Auf einer Pressekonferenz im vergangenen Monat stellte der Liberale außerdem fest:

O-Ton Westerwelle
„Wir müssen wissen, dass gegnerische Kämpfer in einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt in dem vom humanitären Völkerrecht gesteckten Rahmen gezielt bekämpft werden können und auch dürfen.“

Die völkerrechtliche Vorlage für die Argumentation Westerwelles lieferte 2008 ausgerechnet ein Rechtsberater des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Nils Melzer hat sich in einem Positionspapier der Rotkreuzler mit dem Thema beschäftigt. Der Kernsatz lautet - Zitat - :

Zitat Melzer
„Proaktive Operationen, die von den Streitkräften auf Grundlage solider Erkenntnisse der Geheimdienste über die Funktion einer Person innerhalb einer organisierten, bewaffneten Gruppe durchgeführt werden, können auch dann ausgeführt werden, wenn die Zielperson sich nicht direkt an Feindseligkeiten beteiligt.“

Zugleich erlaubt das UN-Mandat der Afghanistanschutztruppe ISAF die Anwendung jeder Art von Gewalt, die notwendig ist, um das Land zu befrieden. Für den inzwischen pensionierten Generalleutnant und ehemaligen KSK-Kommandeur Dieter ist damit klar:

O-Ton Dieter
„Auf der Grundlage dieses Mandates sind an sich auch offensive Operationen nach allen Regeln militärischer Kunst gegen Aufständische möglich und legitim. Und das schließt aus meiner festen Überzeugung gezielte Tötungen ein.“

Von denen verspricht sich vor allem der neue ISAF-Befehlshaber David Petraeus eine nachhaltige Schwächung der Aufständischen in Afghanistan und Pakistan. So soll die gerade in den vergangenen Monaten stark gestiegene Anzahl von Anschlägen und Selbstmordattentaten spürbar verringert werden. Auch im Norden des Landes, wo sich die Bundeswehr inzwischen fast täglich blutige Gefechte vor allem mit Kämpfern der Taliban und der Hizbe-i-Islami des Terroristenführers Gulbuddin Hekmatyar liefert. Geht die Rechnung der NATO auf, werden die Aufständischen mit jedem getöteten Kommandeur kopfloser – und damit schwächer. Der frühere KSK-Kommandeur Dieter glaubt:

O-Ton Dieter
„Gezielte Tötungen können taktisch sehr klug sein – und effizient sind sie allemal. Die Israelis zum Beispiel haben bei ihrem Kampf gegen die Hamas damit sehr gute Erfolge erzielt. Damit ‚kinetic targeting‘ auch sicherheitspolitisch vorteilhaft ist, muss natürlich bei solchen Operationen genau beobachtet und beurteilt werden, ob gezielte Tötungen von Taliban zur Eskalation der jeweiligen Lage beitragen können.“

Dem Verteidigungsminister gehen solche Überlegungen unterdessen viel zu weit. Und während für seinen Kabinettskollegen Guido Westerwelle die völkerrechtlichen Aspekte des „gezielten Tötens“ geklärt sind, stellen sich Karl-Theodor zu Guttenberg noch grundsätzliche Fragen zum tödlichen Einsatz des Kommandos Spezialkräfte:

O-Ton zu Guttenberg:
„Ich glaube, dass Spezialkräfte ja nicht alleine dafür da sind, dass gezielte Tötungen vorgenommen werden... Aber dafür braucht man saubere Rechtsgrundlagen. Die haben wir derzeit international abgestimmt zu meiner Zufriedenheit noch nicht. Das ist auch der Grund, weshalb wir uns als Deutsche an solchen Dingen nur beschränkt und bedingt beteiligen können.“

Das heißt: Deutsche Kommandos beteiligen sich derzeit nicht an Operationen, bei denen die Elitekämpfer ausrücken, um Anführer der Aufständischen gezielt zu töten. Und: Wenn die Bundeswehr in einem komplizierten Prozess zwischen Truppe, Befehlszentralen in Deutschland und den Ministerien mutmaßliche Taliban auf die Zielliste der NATO setzen lässt, versieht sie diese Vermerke mit einem „C“. Das steht für „capture“ und soll die Alliierten dazu anhalten, diese Zielpersonen lediglich gefangen zu nehmen. Eine absurde, nicht zu realisierende Praxis, wie vor allem amerikanische Elitekämpfer am Hindukusch hinter vorgehaltener Hand versichern.

Vor allem in der Diskussion über den ungeliebten Afghanistankrieg mit der heimischen Öffentlichkeit soll mit dem „Wir-lassen-nur-gefangen-nehmen“-Ruf gepunktet werden. Verlogen sei die Debatte, findet Ex-General Dieter:

O-Ton Dieter
„Unser konkretes deutsches Problem ist nach meiner festen Überzeugung in diesem Zusammenhang nicht eine unzureichende Gesetzgebung, sondern eine halbherzige, manchmal etwas unaufrichtige und innenpolitisch orientierte Außen- und Sicherheitspolitik. Das führt regelmäßig zu selbstgemachten, einschränkenden, deutschen Auflagen, die bewirken, dass die deutschen Einsatzkräfte nur reagieren und sich nahezu ausschließlich defensiv verhalten müssen.“

Darauf haben die Amerikaner reagiert: Sie haben einer schlagkräftigen Truppe von Spezialkräften den Marschbefehl in den Norden Afghanistans gegeben. Nahezu täglich rücken die US-Kommandos aus, um Luftangriffe auf Werkstätten von Bombenbauern zu lenken, Taliban-Kommandeure festzusetzen oder zu töten. Operationen, über die die Deutschen meistens nicht einmal unterrichtet werden.

Im kommenden Jahr wollen die USA mit dem Abzug ihrer Truppen beginnen. Andere NATO-Staaten werden folgen. Dann sollen so genannte Nachsorgeoperationen die derzeit heillos überforderten afghanischen Sicherheitskräfte unterstützen – auch durch Missionen der Spezialkräfte. Absehbar ist, dass hierbei „targeted killings“ – also gezielte Tötungen - wohl zum Alltag gehören werden. Das ist offenbar auch Außenminister Westerwelle klar – und nicht nur ihm. Vor seiner Regierungserklärung zum Afghanistan-Einsatz im Februar hatte er vorab einige Abgeordnete auch über den Aspekt des gezielten Tötens informiert. Der FDP-Politiker:

O-Ton Westerwelle
„Sie haben genau gewusst, was in dieser juristischen Qualifizierung steckt. Und ich war ein wenig damals überrascht, dass das nur ganz am Rande eine Beachtung gefunden hat.“

* Aus: NDR-Sendereihe Streitkräfte und Strategien, 11. September 2010; www.ndrinfo.de


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