Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Scharmützel in der großen Koalition: SPD gegen Jung

Verteidigungsminister will Grundgesetz ändern und den Verteidigungsbegriff "neu definieren" - SPD sieht keinen Bedarf: Alles schon "geregelt"

Am 2. Mai veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ein Interview mit Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung. Darin sprach sich dieser für eine Grundgesetzänderung aus, um eine eindeutige Legitimierung für Bundeswehreinsätze im Ausland sowie - gegen terroristische Gefahren - auch im Inland zu haben. Gleichzeitig kündigte Jung die Vorlage eines "Weißbuches" an (das letzte Weißbuch stammt aus dem Jahr 1994).
Die SPD reagierte auf das Interview prompt mit einer für einen Koalitionspartner ungewöhnlich geharnischten Presseerklärung, die wir weiter unten dokumentieren (im Kasten).
Zuvor aber ein zusammenfassender Bericht über Jungs Absichten, den wir der Internetzeitung ngo-online entnommen haben.



Änderung des Grundgesetzes*

Verteidigungsminister Jung spricht über interessengeleitete Sicherheitspolitik

02. Mai 2006


Nach Darstellung der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) strebt Verteidigungsminister Jung (CDU) eine weitgehende Änderung des Grundgesetzes mit einer Neudefinition des Verteidigungsbegriffs an. Die Änderungen sollten über die in der Koalition bislang angestrebten Konsequenzen aus dem Karlsruher Luftsicherheits-Urteil hinausgehen. Jung wolle in den Verteidigungsbegriff die Auslandseinsätze im Rahmen völkerrechtlicher Verpflichtungen ebenso einbeziehen wie terroristische Bedrohungen größeren Ausmaßes im Inland. Jung sprach sich für eine nicht nur werte-, sondern auch von wirtschaftlichen interessen geleitete Sicherheitspolitik aus.

"Unsere derzeitige Hauptaufgabe der Krisen- und Konfliktbewältigung oder der Bekämpfung des internationalen Terrorismus sind im Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnt. Da müssen wir über eine Verfassungsänderung sprechen", sagte Jung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Demnächst werde die Bundeswehr der geplante Auslandseinsatz in der Demokratischen Republik Kongo beschäftigen.

Die Debatte darüber soll nach seinen Vorstellungen im Zusammenhang mit der Erstellung eines "Weißbuchs" der Bundesregierung zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik geführt werden. Der Entwurf des Weißbuchs solle in den nächsten Tagen den mit der Thematik betroffenen Ressorts zur Abstimmung zugehen. Jung äußerte die Hoffnung, daß die Regierung es noch vor der parlamentarischen Sommerpause verabschiedet.

Jung sprach sich gegenüber der Frankfurter Allgemeinen für eine nicht nur werte-, sondern auch interessengeleitete Sicherheitspolitik aus. Dazu gehörten auch wirtschaftliche Interessen wie Ressourcensicherung oder die Sicherung von Energielieferungen. "Wir müssen uns auf solche Fragestellungen vorbereiten. Wir diskutieren auch in der Nato: Müssen gegebenenfalls Seewege vor Terrorismus gesichert werden?" Jung verwies darauf, daß 80 Prozent des Welthandels über den Seeweg abgewickelt würden. Dabei gab er zu erkennen, dass er auch mit scharfen Gegenreaktionen rechnet: "Ich weiß, dass da Kontroversen auf uns zukommen."

Zur ausdrücklichen Aufnahme der Aufgabe "Auslandseinsätze" in das Grundgesetz sagte Jung, wenn die Bundeswehr in europäischen Einsätzen in Bosnien-Herzegowina sei oder vielleicht bald im Kongo, könne man dazu "verfassungskonform den Begriff der Verteidigung auslegen und weiter definieren". Er neige aber dazu, auch eine Grundgesetzänderung anzustreben.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hatte bereits am 5. Februar 2006 auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor den versammelten Militärs und Politikern unter anderem über die "Energie-Außenpolitik" der deutschen Bundesregierung gesprochen. "Die Endlichkeit fossiler Energieressourcen lässt befürchten, dass Probleme im Zugang zu erschwinglicher Energie immer häufiger auch Quelle von Auseinandersetzungen werden", so Steinmeier. "Für mich ist deshalb klar: Globale Sicherheit im 21. Jahrhundert wird untrennbar auch mit Energiesicherheit verbunden sein", so der Außenminister. "Und die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, das verstehen Sie, muss sich dieser strategischen Herausforderung stellen. Wir sind ein rohstoffarmes Land."

Auch Bundespräsident Horst Köhler sprach unlängst davon, dass auch wir "mit vitaler Aufmerksamkeit unsere Energie- und Rohstoffversorgung sichern" müssten. Bundeswehr-Soldaten sind derzeit vor allem in solchen Ländern im Einsatz, in denen Erdöl, Erdgas und andere Rohstoffe gefördert werden.

Die aktuellen Äußerungen knüpfen an die am 26. November 1992 erlassenen "Verteidigungspolitischen Richtlinien" für die Bundeswehr von Bundesverteidigungsminister Volker Rühe an. Diese - später modifizierten - Richtlinien stellten für die Bundeswehr eine offizielle Wende dar von einer reinen Verteidigungsarmee hin zu Kriegseinsätzen im Ausland mit sogenannten "Krisenreaktionskräften". Einer der Ausgangspunkte dieser Richtlinien war die Wahrung und Durchsetzung der "legitimen nationalen Interessen" Deutschlands. Hierzu zählte zum Beispiel die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt". Und: "Einflußnahme auf die internationalen Institutionen und Prozesse im Sinne unserer Interessen und gegründet auf unsere Wirtschaftskraft". An anderer Stelle hieß es: "Deutschland ist aufgrund seiner internationalen Verflechtungen und globalen Interessen vom gesamten Risikospektrum betroffen. Wir müssen daher in der Lage sein, auf entstehende Krisen im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme einwirken zu können".

Auch unter der rot-grünen Bundesregierung wurde die Rohstoffsicherung offen thematisiert. In einem Vortrag vor der Heidelberger Universität definierte der damalige Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping am 27. November 2001 sieben sicherheitspolitische Ziele Deutschlands. Scharping sprach offen über die Möglichkeit von Rohstoffkriegen im Kaspischen Raum: "Ein Beispiel hierfür wäre der Kaspische Raum – das Dreieck zwischen Zentralasien, dem Kaukasus und dem Mittleren Osten – der als Folge eine Reihe destabilisierender Faktoren wie religiöser Fundamentalismus, Terrorismus, Drogen oder die strittige Nutzung und Verteilung der strategischen Ressourcen Öl und Gas leicht zur Krisenregion der nächsten Jahrzehnte werden kann."

* Quelle: Internetzeitung ngo-online, 2. Mai 2006; www.ngo-online.de


Verteidigung muss nicht neu definiert, sondern in der Regierung abgestimmt werden

02. Mai 2006

Stellvertretender Fraktionsvorsitzender

Zu den juengsten Aeusserungen des Verteidigungsministers Dr. Jung zum neuen Weissbuch erklaert der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Walter Kolbow:

Das von Verteidigungsminister Jung in einem Interview angesprochene Weissbuch der Bundesregierung ist bisher noch nicht den betroffenen Ministerien zur Abstimmung uebersandt worden. Oeffentliche Stellungnahmen zu einem noch nicht abgestimmten Regierungsdokument sind ungewoehnlich und entsprechen nicht dem guten Umgangston in der Koalition.

Deutschland braucht keine verfassungsrechtliche Neudefinition von Verteidigung, sondern eine breite gesellschaftliche und politische Diskussion ueber die zukuenftige deutsche Sicherheitspolitik. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen fuer den Einsatz der Bundeswehr im Ausland sind bereits heute gegeben und in Zweifelsfragen durch die verschiedenen Urteile des Bundesverfassungsgericht klar bestimmt worden. Einzelheiten wurden vom Bundestag im Parlamentsbeteiligungsgesetz geregelt.

Die Bekaempfung des internationalen Terrorismus ist eine sicherheitspolitische Gesamtaufgabe, die weit ueber den Geschaeftsbereich des Verteidigungsministers hinausgeht. Sie nur als verteidigungspolitische Aufgabe in der Verfassung definieren zu wollen, wie dies Minister Dr. Jung in einem Zeitungsinterview fordert, ist nicht konsensfaehig.

Die Koalition hat beschlossen, die rechtlichen Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgericht zum Luftsicherheitsgesetz intensiv zu pruefen und nach Abschluss der Pruefungen gesetzgeberisch aktiv zu werden. Dieser Prozess hat auf der Arbeitsebene der betroffenen Ministerien gerade erst begonnen. Ein Ergebnis ist zur Zeit noch nicht absehbar.

Die SPD vertritt eine klare Auffassung zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Die SPD wendet sich gegen eine Aufgabenerweiterung fuer Einsaetze der Bundeswehr im Inneren - die Bundeswehr ist keine Hilfspolizei der Bundeslaender. Wir sind jedoch vor dem Hintergrund des Verfassungsgerichtsurteils zum Luftsicherheitsgesetz zu einer verfassungsrechtlichen Klarstellung bereit und zwar dort, wo die Polizei ueber keine entsprechenden Mittel zur Gefahrenabwehr verfuegt. Hierueber wird in den zustaendigen Regierungsgremien zur Zeit beraten.




Zurück zum Dossier "Weißbuch der Bundesregierung"

Zurück zur Bundeswehr-Seite

Zur Seite "Deutsche Außenpolitik"

Zurück zur Homepage