Wehrpflicht ist nicht grundgesetzwidrig sondern unterliegt dem politischen Gestaltungswillen des Gesetzgebers
Aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Februar 2002
In dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung,
ob die allgemeine Wehrpflicht (§§ 1 Abs. 1, 3 Abs. 1
WPflG) und darauf basierend
die Strafbarkeit der Dienstflucht (§ 53 ZDG) mit dem
Grundgesetz vereinbar sind
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Landgerichts
Potsdam vom 19. März
1999 - 23 (H) Ns 72/98 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der
Richterinnen und Richter Präsidentin Limbach, Sommer, Jentsch, Hassemer, Broß, Osterloh, Di Fabio, Mellinghoff
am 20. Februar 2002 einstimmig beschlossen:
Die Vorlage ist unzulässig.
Gründe:
A.
Die Vorlage betrifft die Verfassungsmäßigkeit der
allgemeinen Wehrpflicht (§ 1
Abs. 1, § 3 Abs. 1 Satz 1 WPflG) und der Strafbarkeit
der Dienstflucht (§ 53 Abs. 1
ZDG).
I.
§ 1 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 Satz 1 des
Wehrpflichtgesetzes in der Fassung der
Bekanntmachung vom 15. Dezember 1995 (BGBl I S. 1756)
lauten:
§ 1 Allgemeine Wehrpflicht
(1) Wehrpflichtig sind alle Männer vom vollendeten
achtzehnten Lebensjahr an, die
Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind und
1. ihren ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik
Deutschland haben oder
2. ihren ständigen Aufenthalt außerhalb der
Bundesrepublik Deutschland haben
und entweder
a) ihren früheren ständigen Aufenthalt in der
Bundesrepublik Deutschland hatten
oder
b) einen Pass oder eine Staatsangehörigkeitsurkunde
der Bundesrepublik
Deutschland besitzen oder sich auf andere Weise ihrem
Schutz unterstellt haben.
§ 3 Inhalt und Dauer der Wehrpflicht
(1) Die Wehrpflicht wird durch den Wehrdienst oder im
Falle des § 1 des
Kriegsdienstverweigerungsgesetzes vom 28. Februar
1983 (BGBl I S. 203) durch
den Zivildienst erfüllt. ...
§ 53 Abs. 1 des Zivildienstgesetzes in der Fassung
der Bekanntmachung vom 28.
September 1994 (BGBl I S. 2811) hat folgenden
Wortlaut:
§ 53 Dienstflucht
(1) Wer eigenmächtig den Zivildienst verlässt oder
ihm fernbleibt, um sich der
Verpflichtung zum Zivildienst dauernd oder für den
Verteidigungsfall zu entziehen
oder die Beendigung des Zivildienstverhältnisses zu
erreichen, wird mit
Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.
II.
1. Der Angeklagte im Ausgangsverfahren wurde im Jahre
1969 in der DDR geboren
und noch von der Nationalen Volksarmee als tauglich
gemustert. Im September
1989 erklärte er schriftlich gegenüber dem
Wehrkreiskommando Potsdam, er lehne
die Anwendung von Waffen und militärischer Gewalt aus
Glaubens- und
Gewissensgründen ab und wolle seinen Wehrdienst in
den "Baueinheiten"
ableisten. Aufgrund dieser Erklärung galt er nach der
Wiedervereinigung gemäß
einer Verfügung des Bundesministers für Frauen und
Jugend vom 26. Juni 1991 als
anerkannter Kriegsdienstverweigerer.
Nach Ankündigung seiner Heranziehung zum Zivildienst
erklärte der Angeklagte
dem Bundesamt für den Zivildienst mit Schreiben vom
22. Januar 1992, er sei ein
"erklärter, ungesetzlicher Totalverweigerer". Das
Bundesamt wertete dieses
Schreiben als "Antrag auf Nichtheranziehung zum
Zivildienst", den es durch
Bescheid vom 26. Februar 1993 ablehnte. Durch
Bescheid vom 26. März 1993
wurde der Angeklagte zur Ableistung des Zivildienstes
ab 1. September 1993
(Dienstende: 30. November 1994) einberufen. Beide
Bescheide wurden
unanfechtbar. Seinen Dienst trat der Angeklagte nicht
an.
Das Amtsgericht Potsdam verurteilte ihn am 29. Mai
1998 wegen Dienstflucht nach
§ 53 ZDG zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen ŕ
30,- DM. Gegen das Urteil
legte er Berufung ein.
2. Das Landgericht Potsdam hat die Aussetzung des
Verfahrens und die Vorlage
an das Bundesverfassungsgericht zur Prüfung der Frage
beschlossen, ob § 1 Abs.
1, § 3 Abs. 1 WPflG und § 53 ZDG mit dem Grundgesetz
vereinbar sind. Die
Kammer sei davon überzeugt, dass die allgemeine
Wehrpflicht und die zu ihrer
zwangsweisen Durchsetzung geschaffenen Strafnormen
jedenfalls unter den
veränderten politischen Bedingungen nicht mehr mit
dem Grundgesetz vereinbar
seien.
a) Die Tatsache, dass sich das
Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach mit der
Frage der Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen
Wehrpflicht befasst habe, stehe
einer erneuten Vorlage nicht entgegen. Es sei
anerkannt, dass bei einem
grundlegenden Wandel der Lebensverhältnisse, beim
Vorliegen neuer Tatsachen
oder neuer rechtlicher Gesichtspunkte die
Gesetzeskraft älterer Entscheidungen
des Bundesverfassungsgerichts einer erneuten Vorlage
nicht im Wege stehe. Das
Bundesverfassungsgericht habe über die
Rechtmäßigkeit, insbesondere die
Verhältnismäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht seit
dem Ende der
Blockkonfrontation und des so genannten Kalten
Krieges noch nicht entschieden.
Die grundlegende Veränderung der
verteidigungspolitischen Situation und der
Sicherheitslage der Bundesrepublik Deutschland lasse
eine erneute Vorlage zu.
b) Die vorgelegten gesetzlichen Vorschriften seien
entscheidungserheblich. Ein
Freispruch komme nach Überzeugung der Kammer bei
Gültigkeit der vorgelegten
Vorschriften nicht in Betracht. Bei Ungültigkeit der
Vorschriften müsse der
Angeklagte hingegen freigesprochen werden.
c) Die allgemeine Wehrpflicht greife in die
Grundrechte der Wehrpflichtigen ein. Sie
sei zur Landesverteidigung nicht mehr erforderlich.
Damit sei der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit verletzt.
Art. 12 a Abs. 1 GG eröffne zwar dem Gesetzgeber die
Möglichkeit, Männer vom
vollendeten 18. Lebensjahr an zum Dienst in den
Streitkräften, im
Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband zu
verpflichten. Die
Wehrpflicht werde dadurch aber nicht zu einer
"Grundpflicht". Die Wehrpflicht sei
entgegen der bisherigen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts auch
keine eigenständige verfassungsrechtliche Pflicht.
Art. 12 a Abs. 1 GG sei nur eine
Ermächtigungsnorm, die durch § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1
WPflG begründete
Wehrpflicht eine einfachgesetzliche Pflicht.
Der Gesetzgeber könne sein Ermessen nur im Rahmen des
Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit ausüben. Zwar habe das
Bundesverfassungsgericht in einer
sehr frühen Entscheidung (BVerfGE 12, 45 , ebenso
BVerfGE 48, 127 <160 f.>) die
Auffassung vertreten, das Prinzip der
Verhältnismäßigkeit sei für die Beurteilung
der Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht kein
adäquater Maßstab. Dies
überzeuge jedoch nicht, weil die Grundsätze der
Verhältnismäßigkeit und des
Übermaßverbotes Leitregeln allen staatlichen Handelns
seien und Verfassungsrang
besäßen. Gesetze müssten daher geeignet und
erforderlich sein, um den
erstrebten Zweck zu erzielen.
Bei der Bestimmung des gesetzgeberischen Ziels der
Wehrpflicht sei vom
Friedensziel des Art. 26 Abs. 1 GG und vom
Verteidigungsauftrag des Art. 87 a
Abs. 1 Satz 1 GG auszugehen. Der sich aus der
Verfassung allein ergebende
Zweck der Einrichtung der Bundeswehr sei die
Landesverteidigung. Es komme
daher nur darauf an, ob die Wehrpflichtigenarmee zur
Verteidigung der
Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig erforderlich
sei. Dafür sei von
entscheidender Bedeutung, ob die Sicherheit der
Bundesrepublik Deutschland
gegenwärtig oder in absehbarer Zeit von äußeren
Feinden bedroht werde. Die
Kammer gehe von dem Grundsatz aus, dass Gerichte
nicht ihre Einschätzung der
sicherheitspolitischen Situation an die Stelle der
Einschätzung der gewählten
hierfür zuständigen staatlichen Organe setzen
dürften. Der politischen Führung
komme hier eine gerichtlich kaum überprüfbare
Einschätzungsprärogative zu.
Alle Vertreter der politischen und militärischen
Führung der Bundesrepublik
Deutschland seien sich aber darin einig, dass im Zuge
der weltpolitischen
Veränderungen seit 1989 eine entscheidende
Entspannung der Sicherheitslage
eingetreten sei. Deutschland sei spätestens mit dem
Abzug der letzten russischen
Truppen im August 1994 keiner existenzgefährdenden
Bedrohung mehr
ausgesetzt. Von keinem politischen oder militärischen
Vertreter der
Bundesrepublik Deutschland oder der NATO werde eine
aktuelle oder absehbare
zukünftige Bedrohung der Sicherheit der
Bundesrepublik Deutschland durch
Angriffe von außen ernsthaft für möglich gehalten.
Auch zahlreiche andere
NATO-Staaten hätten die allgemeine Wehrpflicht
abgeschafft. Eine Berufs- oder
Freiwilligenarmee könne die noch verbliebenen
Verteidigungsaufgaben mindestens
ebenso gut wahrnehmen wie eine Wehrpflichtigenarmee.
Zur Sicherung des in Art.
20 Abs. 1 GG enthaltenen demokratischen
Strukturprinzips sei eine
Freiwilligenarmee ebenso gut geeignet.
III.
Zur Vorlage haben das Bundesverwaltungsgericht, das
Bundesministerium der
Verteidigung und der Strafverteidiger im
Ausgangsverfahren Stellung genommen.
1. Der Vorsitzende des Sechsten Senats des
Bundesverwaltungsgerichts hat
ausgeführt, Bundesverfassungs- und
Bundesverwaltungsgericht gingen in ständiger
Rechtsprechung von der Verfassungsmäßigkeit der
allgemeinen Wehrpflicht aus.
Auf veränderte Sicherheitsbedürfnisse zu reagieren
sei Aufgabe des
parlamentarischen Gesetzgebers.
2. Das Bundesministerium der Verteidigung hält die
Vorlage für unzulässig. Sie
gehe nicht von der bisherigen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts
aus, sondern ziele auf deren Änderung ab.
Die Vorlage könne keinen Erfolg haben. Die
Wehrpflicht sei eine
verfassungsrechtlich abgesicherte Pflicht. Der
Einsatz von Wehrpflichtigen sei auch
außerhalb der engen Grenzen der Landesverteidigung
zulässig. Das Landgericht
Potsdam stelle seine Einschätzung der
sicherheitspolitischen Lage an die Stelle
der des Gesetzgebers, ohne sie ausreichend zu
begründen. Die Einschätzung des
Gerichts sei zudem falsch. Zwar habe sich die
sicherheitspolitische Lage in Europa
im Vergleich zu der Situation während des Kalten
Krieges grundlegend verbessert.
Auf der anderen Seite seien aber neue Risiken für die
Stabilität und den Frieden
sichtbar geworden. Sie zeigten, dass Instabilitäten
in und am Rande Europas nicht
regional begrenzt blieben, sondern auch unmittelbar
Einfluss auf die Stabilität des
ganzen Kontinents hätten. Dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit werde bereits
dadurch Rechnung getragen, dass der Deutsche
Bundestag die Dauer des
Grundwehrdienstes den aktuellen
sicherheitspolitischen Gegebenheiten angepasst
und von 18 Monaten auf 10 Monate verkürzt habe.
3. Der Verteidiger des Angeklagten im
Ausgangsverfahren hat ausgeführt, die
allgemeine Wehrpflicht werde zunehmend selbst
militärpolitisch für fragwürdig
gehalten.
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom
11. Januar 2000 (NJW
2000, S. 497) über den Zugang von Frauen zur
Bundeswehr habe indirekt
Auswirkungen auf die Verfassungsmäßigkeit der
Wehrpflicht. Denn nunmehr
entfalle der tragende Grund der Beschränkung der
allgemeinen Wehrpflicht auf
Männer. Zudem sei die Wehrgerechtigkeit durch die
jetzige Einberufungspraxis
verletzt.
B.
Die Vorlage ist unzulässig. Das Landgericht hat nicht
hinreichend dargelegt, dass
es für die von ihm zu treffende Entscheidung darauf
ankomme, ob die allgemeine
Wehrpflicht (§ 1 Abs. 1 WPflG) in einem nicht näher
bezeichneten Zeitpunkt
verfassungswidrig geworden sei (I.). Die Vorlage
genügt auch nicht den
gesteigerten Anforderungen, die an die Begründung zu
stellen sind, wenn eine
Norm erneut zur Überprüfung vorgelegt wird, deren
Vereinbarkeit mit dem
Grundgesetz das Bundesverfassungsgericht bereits in
einer früheren Entscheidung
bejaht hat (II., III.).
I.
1. Gemäß Art. 100 Abs. 1 GG in Verbindung mit § 80
Abs. 2 Satz 1 BVerfGG
muss das vorlegende Gericht darlegen, inwiefern seine
Entscheidung von der
Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Norm abhängt.
Der Vorlagebeschluss muss
mit hinreichender Deutlichkeit erkennen lassen, dass
das vorlegende Gericht im
Falle der Gültigkeit der in Frage gestellten
Vorschrift zu einem anderen Ergebnis
kommen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit und wie
das Gericht dieses Ergebnis
begründen würde (seit BVerfGE 7, 171 <173 f.> stRspr,
vgl. zuletzt BVerfGE 97,
49 ; 98, 169 ). Das Gericht muss sich dabei eingehend
mit der Rechtslage
auseinandersetzen und die in Literatur und
Rechtsprechung entwickelten
Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die
Auslegung der zur Prüfung
vorgelegten Norm von Bedeutung sind (vgl. BVerfGE 97,
49 ; stRspr).
Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit im
Verfahren der konkreten
Normenkontrolle ist grundsätzlich die
Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts
maßgebend, sofern diese nicht offensichtlich
unhaltbar ist (seit BVerfGE 2, 181
<190 ff.> stRspr). Das setzt jedoch voraus, dass der
Vorlagebeschluss eine solche
Rechtsauffassung mit hinreichender Deutlichkeit
erkennen lässt. Eine im
Vorlagebeschluss lediglich im Ergebnis - jedoch ohne
nähere Darlegung - zugrunde
gelegte Auffassung bindet nicht. In einem solchen
Falle ist es dem
Bundesverfassungsgericht auch verwehrt, die fehlende
Begründung der
Überzeugung des vorlegenden Gerichts von der
Entscheidungserheblichkeit der
Vorlage durch eigene Erwägungen zu ersetzen. Denn
diese müssen Aufgabe des
Fachgerichts bleiben (vgl. BVerfGE 97, 49 ).
2. Gemäß diesem Maßstab kann nicht festgestellt
werden, dass die vom
Landgericht zu treffende Entscheidung von der
Vereinbarkeit der allgemeinen
Wehrpflicht mit dem Grundgesetz abhängt. Das
Landgericht legt zwar dar, dass
der Angeklagte, wenn die allgemeine Wehrpflicht mit
dem Grundgesetz vereinbar
wäre, der Dienstflucht schuldig gesprochen werden
müsste. Dem
Vorlagebeschluss lässt sich jedoch nicht mit der
erforderlichen Gewissheit
entnehmen, dass und aus welchen Gründen der
Angeklagte freigesprochen werden
müsste, wenn die Wehrpflicht in einem nicht genau
bezeichneten Zeitpunkt nach
der Überwindung der Teilung Europas verfassungswidrig
geworden wäre.
a) § 53 Abs. 1 ZDG setzt in objektiver Hinsicht
lediglich ein eigenmächtiges
Fernbleiben vom Zivildienst trotz bestehender
Verpflichtung zum Zivildienst voraus.
Der Vorlage liegt offenbar die Auffassung zugrunde,
dass eine Verpflichtung zum
Zivildienst sich allein aus § 1 Abs. 1 i.V.m. § 3
Abs. 1 WPflG ergeben könne. In
der Literatur wird hingegen überwiegend die
Auffassung vertreten, dass die
Verpflichtung zum Zivildienst nicht unmittelbar durch
die gesetzliche Wehrpflicht,
sondern allein durch einen wirksamen und
vollziehbaren Einberufungsbescheid
begründet werde (vgl. Harrer/Haberland,
Zivildienstgesetz, 4. Aufl. 1992, § 53 Anm.
2; LG Dortmund, Beschluss vom 15. Juli 1964, NJW
1964, S. 2028; für die
ähnliche Vorschrift des § 16 Abs. 1 des
Wehrstrafgesetzes: Schölz/Lingens,
Wehrstrafgesetz, Kommentar, 4. Aufl. 2000, § 1 Rn 5
ff. und § 16 Rn 4; Herbert
Arndt, JZ 1965, S. 775; Menger, DRiZ 1967, S. 381).
Die Strafbewehrung eines
Verwaltungsakts und die dadurch bedingte Bindung des
Strafrichters an die
Entscheidung einer Verwaltungsbehörde verstößt nicht
gegen den Grundsatz der
Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3 GG; vgl. BVerfGE 80,
244 ). Nach dieser
Auffassung käme es für die Strafbarkeit des
Verhaltens des Angeklagten auf die
Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht
nicht an. Denn der Angeklagte
wurde durch unanfechtbaren Bescheid vom 26. März 1993
zum Zivildienst
einberufen. Dass und gegebenenfalls aus welchen
Gründen der
Einberufungsbescheid gemäß § 44 VwVfG nichtig sein
sollte, legt das Landgericht
nicht dar.
Die Auffassung, dass sich eine Verpflichtung zum
Zivildienst bereits aus einem
wirksamen und vollziehbaren Einberufungsbescheid
ergebe, ist allerdings nicht
unbestritten (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 23.
November 1990, NJW 1991, S.
935). Auch der Bundesgerichtshof hat in einem Urteil
vom 21. Februar 1967
(NZWehrR 1967, S. 173; ebenso OLG Nürnberg, Beschluss
vom 28. April 1965, JZ
1965, S. 688) entschieden, dass wegen Fahnenflucht (§
16 WStG) nicht bestraft
werden könne, wer zum Wehrdienst einberufen werde,
obwohl er nicht mehr der
gesetzlichen Wehrpflicht unterliege, weil er seinen
ständigen Aufenthalt aus dem
Geltungsbereich des Wehrpflichtgesetzes hinaus
verlegt habe.
Das Landgericht hätte sich - wenn es dieser
Rechtsprechung hätte folgen wollen -
mit der Vergleichbarkeit von § 16 WStG und § 53 ZDG
sowie mit der
grundlegenden Kritik an diesen Entscheidungen (vgl.
Arndt, JZ 1965, S. 775;
Menger, DRiZ 1967, S. 381) und dem neueren Schrifttum
(Harrer/Haberland,
a.a.O.; Schölz/Lingens, a.a.O.) auseinandersetzen
müssen. Es hätte zudem
prüfen müssen, ob ein rechtmäßiger
Einberufungsbescheid vorliegt, der den
Angeklagten zum Zivildienst verpflichtet. Maßgebend
für die Beurteilung der
Rechtmäßigkeit eines Einberufungsbescheids ist nach
ständiger Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwGE 62, 80 ;
Beschluss vom 22. Mai
1987, NVwZ-RR 1988, S. 34) der im
Einberufungsbescheid festgesetzte
Gestellungszeitpunkt, hier also der 1. September
1993. Das Landgericht legt nicht
dar, dass die allgemeine Wehrpflicht bereits in
diesem Zeitpunkt verfassungswidrig
gewesen sei.
b) Selbst wenn die Verpflichtung zum Zivildienst
neben einer wirksamen
Einberufung auch das Bestehen der gesetzlichen
Wehrpflicht voraussetzte, hätte
das Landgericht zunächst darlegen müssen, welcher
Zeitpunkt insoweit für die
Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen
Wehrpflicht maßgebend
sei, und sodann, dass die allgemeine Wehrpflicht in
diesem Zeitpunkt nicht mehr
mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Das Landgericht
führt lediglich aus, dass die
strafbewehrte Aufrechterhaltung einer allgemeinen
Wehrpflicht "jedenfalls unter den
gegenwärtigen politischen Bedingungen" nicht mehr
verfassungsgemäß sei (S. 11
der Vorlage); sie sei "unter den heutigen
Bedingungen" ein unverhältnismäßiger
Eingriff in die Grundrechte der Wehrpflichtigen (S.
32 der Vorlage). Es meint zwar,
einen Konsens darüber feststellen zu können, dass die
Bundesrepublik
Deutschland spätestens mit dem Abzug der letzten
russischen Truppen im August
1994 nicht mehr einer existenzgefährdenden Bedrohung
ausgesetzt sei. Wann die
zuständigen Organe hieraus Konsequenzen für die
allgemeine Wehrpflicht
spätestens hätten ziehen müssen, führt es jedoch
nicht aus. Dem liegt offenbar die
Auffassung zugrunde, dass der Angeklagte vom Vorwurf
der Dienstflucht
freizusprechen sei, wenn die allgemeine Wehrpflicht
im Zeitpunkt der
strafgerichtlichen Entscheidung mit dem Grundgesetz
nicht mehr vereinbar wäre.
Gemäß § 2 Abs. 1 StGB bestimmen sich die Strafe und
ihre Nebenfolgen jedoch
nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt. Dass die
allgemeine Wehrpflicht
bereits in dem in Betracht kommenden Tatzeitraum vom
1. September 1993 bis 30.
November 1994 verfassungswidrig gewesen sei, geht aus
dem Vorlagebeschluss
vom 19. März 1999 nicht mit hinreichender
Deutlichkeit hervor. Gemäß § 2 Abs. 3
StGB ist zwar, wenn das Gesetz, das bei der Begehung
der Tat gilt, vor der
Entscheidung geändert wird, das mildeste Gesetz
anzuwenden. § 1 Abs. 1 WPflG
ist aber weder geändert noch aufgehoben worden. Ob §
2 Abs. 3 StGB auf einen
Wandel der tatsächlichen Verhältnisse, der zur
späteren Verfassungswidrigkeit
eines im Zeitpunkt der Tat verfassungsmäßigen
Gesetzes führt, entsprechend
anzuwenden ist, hätte das Landgericht eingehend
prüfen und erörtern müssen. Das
hat es nicht getan.
II.
1. Hat das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit
einer vorgelegten Norm mit
dem Grundgesetz bereits in einer früheren
Entscheidung bejaht, so ist eine erneute
Vorlage nur zulässig, wenn tatsächliche oder
rechtliche Veränderungen eingetreten
sind, die die Grundlage der früheren Entscheidung
berühren und deren Überprüfung
nahe legen (vgl. BVerfGE 33, 199 <203 f.>; 39, 169 ;
65, 178 ; 78, 38 ; 87, 341 ;
94, 315 ). An die Begründung einer erneuten Vorlage
sind gesteigerte
Anforderungen zu stellen. Das vorlegende Gericht muss
von der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts ausgehen und darlegen,
inwiefern sich die für die
verfassungsrechtliche Beurteilung maßgebliche Lage
verändert haben soll (vgl.
BVerfGE 87, 341 m.w.N.). Diesen Anforderungen genügt
die Vorlage nicht.
2. Das Landgericht nimmt zwar auf die Entscheidungen
Bezug, in denen das
Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung
die Vereinbarkeit der
allgemeinen Wehrpflicht (§ 1 Abs. 1 WPflG) mit dem
Grundgesetz bejaht hat (vgl.
BVerfGE 12, 45 <49 ff.>; 12, 311 ; 28, 243 ; 38, 154
; 48, 127 <159 ff.>; 69, 1 <21
f.>). Es setzt sich aber mit den Begründungen dieser
Entscheidungen nicht
auseinander.
a) Das gilt insbesondere für die Rechtsansicht des
Bundesverfassungsgerichts,
dass die allgemeine Wehrpflicht verfassungsrechtlich
verankert (vgl. BVerfGE 12,
45 <50 f.>; 28, 243 ; 38, 154 ; 48, 127 ) und diese
Pflicht daher nicht an dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen ist.
In dem Vorlagebeschluss wird dagegen die Auffassung
vertreten, dass Art. 12 a
Abs. 1 GG eine bloße Eingriffsermächtigung darstelle
und die durch das
Wehrpflichtgesetz vom 21. Juli 1956 (BGBl I S. 651)
eingeführte allgemeine
Wehrpflicht eine nur einfachgesetzlich begründete
Pflicht sei. Das Landgericht
erörtert nicht die dem entgegenstehende Rechtsansicht
des
Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 12, 45 ; 38,
154 ; 48, 127 ), die
weitgehend Zustimmung in der Literatur gefunden hat
(vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig,
Grundgesetz, Art. 12 a Rn 16 - Stand März 2001;
Gubelt, in: von Münch/Kunig,
Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 12 a Rn 1;
Gornig, in: von
Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1,
4. Aufl. 1999, Art. 12 a Rn
6, 7, 20; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. I, 1996,
Art. 12 a Rn 6; K. Ipsen/J.
Ipsen, in: Dolzer/Vogel, Bonner Kommentar zum
Grundgesetz, Art. 12 a Rn 28 -
Stand August 1976).
Darüber hinaus misst das Landgericht die allgemeine
Wehrpflicht mit der
schlichten Feststellung am Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit, dass die dem
entgegenstehende Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts nicht
überzeuge, da jener Grundsatz wie das Übermaßverbot
Leitregel allen staatlichen
Handelns sei. Die Frage, ob auch Verfassungsnormen am
Maßstab des
Verhältnismäßigkeitsprinzips überprüft werden dürfen,
stellt sich das Gericht nicht.
b) Zwar geht auch das Landgericht zunächst davon aus,
dass dem Gesetzgeber
eine weitgehende, "gerichtlich kaum überprüfbare"
Einschätzungsprärogative
zukomme. Doch schließt es aus einer vermeintlich
einmütigen Analyse der
Sicherheitslage durch die politische und militärische
Führung darauf, dass dem
Gesetzgeber keine andere Wahl bleibe, als die
allgemeine Wehrpflicht
abzuschaffen. Dabei lässt das Landgericht außer Acht,
dass der Verfassungsgeber
die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht - im
Gegensatz zu den anderen in Art.
12 a Abs. 3, 4 und 6 GG geregelten Dienstpflichten -
nicht von weiteren
Voraussetzungen, insbesondere nicht vom Vorliegen
einer bestimmten
sicherheitspolitischen Lage abhängig gemacht hat.
c) Das Landgericht übersieht zudem, dass es weitere
Gründe geben könnte, an der
Wehrpflicht festzuhalten. Hier sei nur beispielhaft
auf die bestehenden
Bündnisverpflichtungen verwiesen (vgl. BVerfGE 48,
127 ).
Die gegenwärtige öffentliche Diskussion für und wider
die allgemeine Wehrpflicht
zeigt sehr deutlich, dass eine komplexe politische
Entscheidung in Rede steht. Die
Fragen beispielsweise nach Art und Umfang der
militärischen Risikovorsorge, der
demokratischen Kontrolle, der Rekrutierung
qualifizierten Nachwuchses sowie nach
den Kosten einer Wehrpflicht- oder Freiwilligenarmee
sind solche der politischen
Klugheit und ökonomischen Zweckmäßigkeit, die sich
nicht auf eine
verfassungsrechtliche Frage reduzieren lassen. Wie
das Bundesverfassungsgericht
bereits in seinem Urteil vom 13. April 1978
ausgeführt hat, ist die dem Gesetzgeber
eröffnete Wahl zwischen einer Wehrpflicht- und einer
Freiwilligenarmee eine
grundlegende staatspolitische Entscheidung, die auf
wesentliche Bereiche des
staatlichen und gesellschaftlichen Lebens einwirkt
und bei der der Gesetzgeber
neben verteidigungspolitischen Gesichtspunkten, auch
allgemeinpolitische,
wirtschafts- und gesellschaftspolitische Gründe von
sehr verschiedenem Gewicht
zu bewerten und gegeneinander abzuwägen hat (BVerfGE
48, 127 <160 f.>).
Darum obliegt es nach der gewaltenteilenden
Verfassungsordnung des
Grundgesetzes zunächst dem Gesetzgeber und den für
das Verteidigungswesen
zuständigen Organen des Bundes, diejenigen Maßnahmen
zu beschließen, die zur
Konkretisierung des Verfassungsgrundsatzes der
militärischen Landesverteidigung
erforderlich sind. Welche Regelungen und Anordnungen
notwendig erscheinen, um
gemäß der Verfassung und im Rahmen bestehender
Bündnisverpflichtungen eine
funktionstüchtige Verteidigung zu gewährleisten,
haben diese Organe nach
weitgehend politischen Erwägungen in eigener
Verantwortung zu entscheiden.
3. Soweit § 3 Abs. 1 WPflG und § 53 ZDG zur
verfassungsrechtlichen Prüfung
gestellt werden, ist die Vorlage auf die als
entscheidungserheblich in Betracht
kommenden Teile der Normen zu beschränken (vgl.
BVerfGE 18, 52 ; 69, 373 ; 80,
354 ). Das sind allein Satz 1 des § 3 Abs. 1 WPflG,
in dem Wehrdienst und
Zivildienst unter dem Oberbegriff der Wehrpflicht
zusammengefasst werden, und
Absatz 1 des § 53 ZDG, der den Tatbestand der
Dienstflucht enthält. Das
Bundesverfassungsgericht hat die Vereinbarkeit beider
Normen mit dem
Grundgesetz bereits bejaht (vgl. BVerfGE 80, 354 zu §
3 Abs. 1 Satz 1 WPflG;
BVerfGE 23, 127 zu § 53 Abs. 1 ErsDiG in der Fassung
vom 16. Juli 1965 (BGBl I
S. 984), dem § 53 Abs. 1 ZDG entspricht). Das
Landgericht hat nicht dargetan,
warum sie neuerlich auf ihre Vereinbarkeit mit dem
Grundgesetz zu prüfen sein
sollten.
Die schriftliche Begründung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Februar 2002 wurde am 10. April 2002 veröffentlicht.
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