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Bundeswehr goes global - erste Bilanz

Von Uli Cremer *

Inzwischen wird die Bundeswehr tatsächlich schon zwei Jahrzehnte im Ausland eingesetzt. Mit dem Buch »Armee im Einsatz« haben Maybritt Brehm u.a. eine Studie vorgelegt, »in der die 20-jährige Geschichte der Bundeswehr-Auslandseinsätze kritisch bilanziert werden soll«. /9/

In dieser Zeit hat sich Deutschland von allen militärischen Einschränkungen befreit: »Damit ist die Bundeswehr aufgestellt für Militäreinsätze jeder Art, bündnispolitische oder geografische Beschränkungen gibt es nicht mehr.« /29/ Richtig wird herausgearbeitet, dass die »Kriegseinsätze nur im Bündnis« stattfinden. Insofern entfaltet sich die Geschichte der deutschen »Armee im Einsatz« vor dem Hintergrund der NATO- und der EU-Entwicklungen. Dabei gilt »grundsätzlich..., dass die NATO den strategischen Kurs vorgibt, dem Deutschland in seiner Verteidigungspolitik folgt und den es in die EU hineinträgt«. /46/ Deswegen werden nicht nur die deutschen »Weißbücher« und »Verteidigungspolitischen Richtlinien« der letzten 20 Jahre, sondern auch die einschlägigen Beschlüsse und Dokumente von NATO und EU analysiert und teilweise im Wortlaut dokumentiert.

Mit den Bundeswehreinsätzen außerhalb des NATO-Gebiets, nämlich in Kambodscha und Somalia 1992, später dann auf dem Balkan, wurden die geografischen Beschränkungen für das deutsche Militär nach und nach abgestreift. Sehr gut arbeitet die Studie das Urteil des Bundesverfasssungsgerichts von 1994 zum Thema Beteiligung AWACS an der Durchsetzung der Flugverbotszone über Bosnien als entscheidende Weichenstellung heraus. Denn das Grundgesetz stand bis dahin Out-of-Area-Einsätzen der Bundeswehr im Weg. Statt einer Grundgesetzänderung kamen damals die Karlsruher Richter der Politik im Rahmen von Arbeits- statt Gewaltenteilung zu Hilfe. Sie befanden, »dass friedenssichernde Missionen im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit verfassungskonform seien.« Gleichzeitig erhoben sie die Militärbündnisse bzw. kollektiven Verteidigungssysteme NATO und die WEU (die später in der EU aufgehen sollte) in den Status von Systemen kollektiver Sicherheit.

Aber warum wurde dieser Weg beschritten? Schließlich erfreuen sich heutzutage alle Bundeswehreinsätze großer Unterstützung im Bundestag, die 2/3-Mehrheit wird regelmäßig erreicht. Hier lässt die Studie leider eine Erklärungslücke.

Verdienstvoll ist auch das Nachzeichnen, wie die Bundeswehr zur Parlamentsarmee wurde. Auch dies ist nämlich den Karlsruher Kreativrichtern und ihrem Urteil von 1994 zu verdanken, wobei die genaue gesetzliche Regelung bis 2004 auf sich warten ließ. /55-71/

Ein gutes Nachschlagewerk stellt das Kapitel über die wichtigsten Auslandseinsätze der Bundeswehr da. Behandelt werden Kosovo, Kongo, Libanon, Somalia und Afghanistan. Viele Hintergrundinformationen über die Konflikte selbst werden durch die Reflektion der Entscheidungsfindung für das jeweilige internationale Eingreifen ergänzt. Dieses Kapitel enthält auch wichtige Learnings für die Kriege, an denen sich die Bundeswehr erst nach Redaktionsschluss beteiligt ist: Syrien und Mali. Bei letzterem bereitet Deutschland derzeit eine Teilnahme an der Militärausbildung für die malische Armee vor. Daran hatten sich in Mali auch schon die USA versucht und dabei einen Putschisten geschult. Wichtiger ist aber, dass die ausgebildeten Kämpfer 2012 die Seite wechselten und heute Frankreich auf dem Schlachtfeld gegenüber stehen. Auch bei der Ausbildung für somalische Kämpfer, die in Uganda auch von der Bundeswehr organisiert wird, sind bereits viele Absolventen »verloren gegangen«, ein Phänomen, das auch aus Afghanistan bekannt ist.

Allerdings weist die Darstellung des Afghanistan-Falls eine große Lücke auf: Dieser Krieg hat nach über zehn Jahren Dauer verschiedene Wandlungen hinter sich. Eine nicht unwichtige ist die Übernahme der ISAF durch die NATO selbst. Das geschah 2003. Auf Drängen von wem? Von der deutschen Bundesregierung. Das war die Voraussetzung, diverse Kampfaufgaben von der Parallelmission Enduring Freedom in die ISAF zu überführen. Diese Begebenheit ist zentral, da sie zeigt, welch aktive Rolle Deutschland bei solchen internationalen Militäreinsätzen inzwischen spielt (vgl. hierzu U. Cremer: Neue NATO: die ersten Kriege, Hamburg 2009, S. 87ff.)

Eine grundsätzliche inhaltliche Lücke des Buches ist das Auslassen von Kriegen: Weder am Irak-Krieg 2003 noch am Libyen-Krieg 2011 nahm Deutschland teil und lieferte sich jeweils eine politische Auseinandersetzung mit Verbündeten aus NATO und EU. Die deutsche Enthaltung ist sicherlich mehr als »eine diplomatische Überraschung«. /188 – Tipp zum Weiterlesen: Johannes M. Becker/Gert Sommer: Der Libyen-Krieg, Berlin 2012/

Gravierender ist jedoch das Fehlen eines Parts, der die realen waffentechnischen und personellen Umstrukturierungen der Bundeswehr resümiert und analysiert. Gerade vor dem Hintergrund, dass erst kürzlich die Wehrpflicht ausgesetzt wurde, überrascht diese Lücke. Eine bedauerliche Folge ist, dass im Buch eine de Maizière Märchenstunde unkritisch übernommen wird: Angeblich kann die Bundeswehr heute zu einem Zeitpunkt X nur 7.500 Soldaten parallel in internationale Einsätze schicken und de Maizière wünscht sich wenigstens 10.000 – was dann über die aktuelle Bundeswehrreform gelingen soll. /85/ Richtigerweise wird in der Studie erwähnt, dass Deutschland sich 1999 an der Kosovo-Truppe bereits mit bis zu 8.500 (!) Soldaten beteiligte. /101/ Wieso hätte sich diese personelle Fähigkeit aller Bemühungen, die Bundeswehr zu einer schlagkräftigen Interventionstruppe aufzubauen, zum Trotz sich auf 7.500 reduzieren sollen?

Aufmerksame Sozialismus-LeserInnen wissen mehr: In Heft 6/2011 wurde nachgewiesen, dass die Bundeswehr zumindest etwa 17.000 Einsatzkräfte parallel einsetzen konnte (siehe U. Cremer/W. Achelpöhler: Libyen-Krieg und Bundeswehrreform, in: Sozialismus Heft 6/2011, S. 8). Und das war bei einem Pool von 105.000 für Auslandseinsätze vorgesehenen Soldaten gemäß Weißbuch 2006 sogar noch konservativ gerechnet. Insofern ist die Aussage der Studie, »die Bundeswehr arbeitet derzeit an der Belastungsgrenze, und auch die Bundeswehrreform wir dies nicht ändern« /187/, eine Fehleinschätzung. Auch die Umsetzung der Pläne für länderübergreifende Interventionsstreitkräfte bei EU und NATO wird in der Studie nicht betrachtet. Wie groß ist heute die seit 1999 geplante EU-Armee oder die seit 2003 im Aufbau befindliche NATO Response Force? Sind die Ziele erreicht worden? Wie ist der Stand? (siehe hierzu, allerdings mit Stand von 2009, U. Cremer: Neue NATO: die ersten Kriege, S. 113-120) Ohne diese Informationen kann auch der Beitrag Deutschlands zu diesen internationalen Projekten nicht bewertet werden. Das Eine ist, was gesagt wird, das Andere, was getan wird.

Die Studie teilt die deutschen Militäreinsätze seit 1990 in drei Phasen ein: Die erste endet mit der Legalisierung der Out-of-area-Einsätze durch das Bundesverfassungsgericht 1994 und wird dazu passend »die Anfänge in einer rechtlichen Grauzone« genannt. Die zweite Phase (1994 bis ca. 2002) wird unter die Überschrift gestellt »›Humanitäre‹ Einsätze im Bündnis«. Das ist nicht sehr trennscharf, denn eigentlich werden alle Einsätze humanitär begründet. Wirtschaftliche Begründungen (z.B. Rohstoffsicherung) würden ganz offensichtlich dem Grundgesetz widersprechen, wie an diversen Stellen im Buch auch herausgearbeitet wird. Die dritte Phase (ab 2003)steht unter der Überschrift »EU-geführte Missionen gewinnen an Gewicht«. Das ist prinzipiell richtig, kollidiert aber mit der Beobachtung, dass die Bundeswehr sich seit 2003 mit großem Kontingent an der NATO-Mission in Afghanistan beteiligt und auch die Kosovo-Mission von der NATO geführt wird. Betrachtet man die drei Phasen konsequent aus deutscher Sicht, wäre es angemessener, die zweite Phase als »Erfahrung sammeln und mitmachen« zu charakterisieren. Und die neue Qualität der dritten Phase wäre »Übernahme von Führungsrolle und selektives Mitmachen«.

Das vorgeschlagene Phasenmodell kann deshalb nur ein erster Entwurf sein. Es wäre wünschenswert, dass die Studie eine Diskussion in der Friedensbewegung und bei mit ihr verbundenen politischen Kräften auslöst über die »Bilanz von 20 Jahre Auslandseinsätze der Bundeswehr«. Gelingt dies, hätte die Studie viel erreicht. In diesem Sinne sei der Erwerb eines Buchexemplars ausdrücklich empfohlen!

Maybritt Brehm/Christian Koch/Werner Ruf/Peter Strutynski: Armee im Einsatz. 20 Jahre Auslandseinsätze der Bundeswehr. VSA Verlag: Hamburg 2012, 256 Seiten, € 16.80; ISBN 978-3-89965-546-9

* Diese Besprechung erschien in: Sozialismus, Heft Nr. 3 / März 2013.

Weitere Informationen zum Buch:

Armee im Einsatz - 20 Jahre Auslandseinsätze der Bundeswehr
Eine Bilanz. Vorgelegt von der AG Friedensforschung - erschienen im vsa-Verlag (5. November 2012)




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