Kontinuität oder Neuanfang? Jan van Aken: "Krieg ist nie unausweichlich. Es gibt immer eine Alternative"
Debatte über die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik im Bundestag
Am 10. November 2009 fand die erste Sitzung des im September neu gewählten Bundestags nach der Regierungsbildung statt. Traditionell gab die wieder gewählte Bundeskanzlerin eine Regierungserklärung ab, die sodann in einer Generaldebatte diskutiert wurde. Sowohl die Regierungserklärung als auch die anschließende Generalbatte drehte sich zum größten Teil um innen-, wirtschafts- und sozialpolitische Themen. Außen- und sicherheitspolitische Fragen spielten demgegenüber eine sehr geringe Rolle.
Aus diesem Grund werden wir im Folgenden auch nicht die ganze Debatte dokumentieren, sondern wir beschränken uns auf einschlägige Auszüge der Debattenbeiträge. Wenn also der erste Debattenredner, der frühere Außenminister und jetzige SPD-Fraktionsführer Frank-Walter Steinmeier, in der nachfolgenden Dokumentation gar nicht vorkommt, dann nicht deshalb, weil er nicht geredet hätte,sondern weil er mit keinem Wort auf die Außenpolitik eingegangen ist - die FDP-Abgeordnete Birgit Homburger wies in ihrer Rede süffisant auf diesen doch erstaunlichen Sachverhalt hin. Auch Jürgen Trittin, der als Spitzenredner für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sprach, sparte die Außen- und Sicherheitspolitik vollständig aus.
Hier geht es zum vollständigen Protokoll der BT-Sitzung vom 10. November 2009:
http://www.bundestag.de/dokumente/protokolle/plenarprotokolle/17003.pdf
Auszüge aus Debattenbeiträgen, die sich mit außen- und sicherheitspolitischen Fragen beschäftigten:
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
(...) Möglich wurde der 9. November 1989 aber auch noch durch etwas anderes: durch ein Eintreten der transatlantischen, der westlichen Wertegemeinschaft - Europäische Union, NATO - für die Einheit und Freiheit unseres Landes. So wie es diese Wertegemeinschaften waren, die vor 20 Jahren mit zum Ende des Kalten Krieges beigetragen haben, so sind es auch heute Bündnisse und Wertegemeinschaften, die uns die Herausforderungen unserer Zeit meistern lassen. Die Herausforderungen und Aufgaben sind seit 1989 andere geworden. Die Zahl unserer Partner ist viel größer geworden. Aus der Bedrohung des Kalten Krieges sind asymmetrische Bedrohungen geworden. Doch der Weg, den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen, der ist derselbe geblieben. Es ist und bleibt ein Weg der Partnerschaften und Bündnisse auf Grundlage unserer Werte, mit dem wir die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen können. Niemand schafft es allein. Gemeinsam können wir alles schaffen.
(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)
Das gilt für uns in Europa. Der Vertrag von Lissabon tritt am 1. Dezember 2009 in Kraft. Er verbessert die Möglichkeit, dass die Europäische Union eine wirkliche Union der Bürgerinnen und Bürger wird und weltweit ihre Interessen entschiedener verteidigen und vertreten kann. Das gilt darüber hinaus im transatlantischen Verhältnis: Auch in Zukunft wird die NATO der bedeutendste Sicherheitsanker Deutschlands sein. Gleichzeitig streben wir mit Russland einen breiten sicherheitspolitischen Dialog an, nicht nur, aber gerade auch im NATO-Russland-Rat. Russland und Europa sind aufeinander angewiesen.
Wir teilen die Vision Präsident Obamas für eine nuklearwaffenfreie Welt, und wir setzen uns dafür ein, dass das neue strategische Konzept, mit dem die NATO auf die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft ausgerichtet wird, auch das Thema Abrüstung auf die Tagesordnung setzt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Verantwortung in Bündnissen zu übernehmen, das gilt auch bei den E3+3-Gesprächen zum iranischen Nuklearprogramm, bei unseren Bemühungen um den Nahostfriedensprozess wie auch bei unserem Engagement für ein stabiles Afghanistan.
Ohne Zweifel: Der Kampfeinsatz in Afghanistan fordert uns in ganz besonderer Weise. Er muss in eine neue Phase geführt werden. Mit unseren Bündnispartnern, mit den Ländern der Region und mit der neuen afghanischen Regierung werden wir deshalb auf der geplanten UN-Konferenz Anfang kommenden Jahres besprechen, wie und mit welchen konkreten Schritten wir diese Phase neu gestalten können. Wir wollen eine Übergabestrategie in Verantwortung festlegen. Wir erwarten, dass die afghanische Regierung konsequent auf gute Regierungsführung, auf den Aufbau der Sicherheitskräfte und auf wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes hinarbeitet.
(Alexander Ulrich (DIE LINKE): Wie wär's mal mit demokratischen Wahlen? - Gegenruf des Abg. Volker Kauder (CDU/CSU): Da sind Sie ja Spezialisten!)
Ich kann über unseren Einsatz in Afghanistan nicht sprechen, ohne an dieser Stelle unseren Dank an alle Soldaten, Polizisten und Entwicklungshelfer auszusprechen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie haben zum Teil sehr gefährliche Aufgaben in Afghanistan zu meistern. Ich kann hier auch nicht über Deutschlands Einsatz in Afghanistan sprechen, ohne besonders an jene zu denken, die ihr Leben lassen mussten oder verwundet wurden. Wir werden ihren Einsatz niemals vergessen.
Meine Damen und Herren, der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan wie auch in anderen Regionen unserer Erde ist hart. Er verlangt der Bundeswehr viel ab. Aber unsere Bundeswehr ist leistungsstark. Sie ist in der Mitte der Gesellschaft verankert. Das hat sich mehr als bewährt.
Die neue Bundesregierung hat entschieden, die Wehrpflicht auf sechs Monate zu verkürzen.
(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ein Blödsinn!)
Sie hat nicht beschlossen, die Wehrpflicht abzuschaffen - aus guten Gründen nicht. Jetzt geht es darum, die sechs Monate Wehrpflicht so effizient wie möglich auszugestalten, damit diese Verkürzung kein Einstieg in den Ausstieg aus der Wehrpflicht wird.
(Beifall bei der CDU/CSU - Alexander Ulrich (DIE LINKE): Macht überhaupt keinen Sinn mehr!)
Damit das gelingt, wollen wir natürlich auch Maßnahmen ergreifen, die dann zu mehr Wehrgerechtigkeit als heute führen. Dazu sind wir entschlossen.
Wir stehen auch weiter zu dem Konzept der vernetzten Sicherheit, also der Vernetzung von militärischen und zivilen Maßnahmen. Deshalb sage ich auch ganz deutlich: Für die neue Bundesregierung ist Entwicklungszusammenarbeit keine Nebensache, sondern eine Hauptsache.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Niebel-Sache! - Alexander Ulrich (DIE LINKE): Die FDP wollte das Ministerium doch abschaffen! - Sigmar Gabriel (SPD): Dann wird der Niebel jetzt wieder rausgeschmissen!)
Deshalb bekräftige ich heute vor diesem Hohen Hause ausdrücklich: Das Erreichen der Millenniumsziele für Afrika ist und bleibt uns Verpflichtung. Wir halten am Ziel fest, bis 2015 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungspolitik bereitzustellen. Auch das ist eine moralische Aufgabe.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Birgit Homburger (FDP):
(...) In der Außenpolitik haben wir viele Kontinuitätslinien.
(Zurufe von der SPD: Das ist doch keine Geschichtsunterrichtsstunde! - Kommen Sie doch einmal zum Thema!)
Aber es gibt auch einige neue Akzente, die gesetzt werden. Es ist heute schon deutlich geworden, dass die Abrüstungspolitik für diese Regierung eine zentrale Rolle spielt.
(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wann ist das denn deutlich geworden? - Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aha! Interessant!)
Wir als Koalition unterstützen die von US-Präsident Barack Obama unterbreiteten Vorschläge für neue, weitgehende Abrüstungsinitiativen mit Nachdruck. Das schließt auch das ehrgeizige Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt mit ein. Selbst Zwischenschritte auf dem Weg dorthin stellen einen bedeutenden Zugewinn für die weltweite Sicherheit dar.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Daher werden wir uns in der NATO und auch gegenüber den USA weiterhin dafür einsetzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden. Das war nicht immer so klar, wie es jetzt im Koalitionsvertrag steht. Es ist gut für Deutschland, dass wir uns darauf verständigt haben.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Eine besondere Herausforderung in der Außenpolitik stellt der Einsatz in Afghanistan dar. Wir haben als Koalition deutlich gemacht, dass wir wissen, was dieser Einsatz gerade für unsere Soldatinnen und Soldaten bedeutet. Es geht um die Stabilisierung Afghanistans; sie ist in unserem eigenen Interesse. Aber es geht nicht nur um Stabilisierung, sondern wir wissen ganz genau, dass die Soldatinnen und Soldaten jeden Tag vor großen Herausforderungen und auch in einem Kampfeinsatz stehen. Diese Regierung hat deutlich gemacht, dass wir wissen, um was es dort geht. Ich sage an dieser Stelle: Wir sind dankbar für das, was vor Ort geleistet wird: von unseren Soldatinnen und Soldaten, aber auch von den Polizisten, die an der Polizeiausbildung mitwirken, und von den Entwicklungshelfern.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Uns geht es darum, zusammen mit den Partnern eine Strategie zu finden, die den Wiederaufbau in den Mittelpunkt stellt und die vor allen Dingen dafür sorgt, dass Afghanistan dauerhaft selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen kann. Deswegen werden wir die Ausbildung des Militärs, aber auch die Ausbildung der Polizei weiter verstärken. Das ist der Schlüssel dazu, dass die afghanische Regierung selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen kann. Je früher das möglich ist, desto früher gibt es eine Perspektive, den Afghanen allein die Verantwortung für dieses Land zu übertragen. Das ist unser Ziel.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Herr Steinmeier, ich möchte an dieser Stelle sagen, dass es mich ein bisschen verwundert, dass Sie überhaupt nichts zur Außenpolitik gesagt haben. Wir hatten in den vergangenen Jahrzehnten in diesem Hause die gute Tradition, dass in der Außenpolitik viel gemeinsam geht.
(Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja! Das war aber vor Niebel!)
Die Tatsache, dass Sie, Herr Steinmeier, hierzu nichts gesagt haben, wirft die Frage auf, ob Sie, ob die SPD sich hier vom Acker stehlen will.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD - Zurufe von der SPD: Könnten Sie vielleicht auch einmal etwas zu Ihrem Koalitionsvertrag sagen? - Thema verfehlt! - Wovon reden Sie denn da?)
Der Einsatz der Bundeswehr an vielen Orten der Welt
(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich will mal sehen, was Sie beim Libanon-Einsatz machen!)
zeigt uns längst, dass die Bundeswehr eine Armee im Einsatz geworden ist. Deswegen war es richtig, dass wir im Koalitionsvertrag festgelegt haben, dass die Organisationsstruktur der Bundeswehr überprüft wird, und richtig war auch, dass die FDP hinsichtlich der Wehrpflicht konsequent durchgesetzt hat, dass die Grundwehrdienstzeit zum 1. Januar 2011 von neun auf sechs Monate verkürzt wird.
(Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wollten Sie die Wehrpflicht nicht abschaffen?)
Das ist eine Reduzierung um ein Drittel. Das bringt eine Entlastung der Wehrpflichtigen. Es zeigt deutlich, dass auch an dieser Stelle Bewegung möglich ist. (...)
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
(...) In Ihrer Regierungserklärung gab es eine ganz verräterische Formulierung: Ziemlich am Anfang steht, die Frage der Zukunft sei, wer sich den Zugriff - ich betone das Wort ?Zugriff? - auf Rohstoffe und Energiequellen sichere. Es geht nicht um den ?Zugriff? auf Rohstoffe und Energiequellen, es geht um die friedliche Nutzung. Angesichts der Kriege der letzten Jahre sagen wir: Wir halten es für völlig falsch, wenn sich die Bundesrepublik Deutschland in imperiale Kriege zur Sicherung von Rohstoffquellen einspannen lässt. Das war der Fehler der Außenpolitik der letzten Jahre.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie reden davon, sie seien eine christlich-liberale Koalition der Mitte oder was auch immer. Wenn man das Wort "Christentum" in den Mund nimmt, dann sollte man begriffen haben, Frau Bundeskanzlerin - das ist nicht zum Lachen -, dass man alle Anstrengungen unternehmen muss, um endlich die Waffenexporte zurückzuführen. Diese sind doch die Grundlage für vieles Elend in der Welt. Warum verstehen Sie das nicht?
(Beifall bei der LINKEN)
Meine letzte Bemerkung bezieht sich auf Afghanistan. Wir sind jetzt viele Jahre dort im Krieg; das haben wir immer so gesehen. Ich habe immer wieder gesagt, dass ich durchaus unterstellt habe, dass es die eine oder den anderen gab, die der Auffassung waren, dass man mit diesen Militäreinsätzen Gutes bewirken könne. Aber nach so vielen Jahren muss man doch bereit sein, wie es zum Beispiel in den Vereinigten Staaten im Falle des Irak oder jetzt in Bezug auf Afghanistan in mehreren Staaten der Welt bereits geschehen ist, zu erkennen, dass dieser Weg falsch war. Wir können diesen Krieg nicht gewinnen. Man kann die Stammesgesellschaft Afghanistans nicht zwingen, eine westliche Demokratie aufzubauen. Sie kämpfen dort gegen eine Kultur, und diesen Kampf können Sie nicht gewinnen. Begreifen Sie das doch endlich!
(Beifall bei der LINKEN)
Deshalb sagen wir: Es ist wirklich ein schwerer Fauxpas, dass der neue Bundesverteidigungsminister - ich sehe ihn im Moment nicht auf der Regierungsbank - gesagt hat, das Unglück von Kunduz, wie ich es nenne, sei "angemessen" gewesen. Ich sage hier für meine Fraktion: Eine Militäraktion, bei der unschuldige Zivilisten ums Leben kommen, ist niemals angemessen. Wir sollten eine solche Sprache aus diesem Parlament verbannen.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir sagen Ihnen: Ziehen Sie die Truppen aus Afghanistan zurück! Es wäre an der Zeit; Sie sollten nicht warten, bis die Diskussion in Amerika so weit ist, dass man den Afghanistan-Krieg beenden will.
Sie haben in Ihrer Regierungserklärung die wichtigen Aufgaben unserer Zeit verfehlt. Diese Regierung ist eine falsche Regierung zur falschen Zeit.
(Anhaltender Beifall bei der LINKEN - Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU):
(...) Dazu gehört auch, dass wir, Deutschland, Mitverantwortung
in der Welt übernehmen. Es reicht nicht, Wirtschaftsnation
zu sein und Wettbewerbsfähigkeit anzustreben;
man muss auch Mitverantwortung übernehmen.
Manchmal besteht diese Mitverantwortung auch im
militärischen Eingreifen.
Wenn wir heute unsere Söhne, unsere Töchter in Uniform
in fremde Länder schicken, dann müssen wir alles
tun, um dafür zu sorgen, dass sie gesund und unversehrt
wieder nach Hause kommen. Wenn sie bedroht werden,
dann müssen sie auch das Recht haben, sich zu wehren.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der FDP)
Ich danke ganz herzlich dem Bundesverteidigungsminister
Karl-Theodor zu Guttenberg dafür, dass er das ganz klar gemacht hat, dass er an die jungen Leute, die in Afghanistan und anderswo in der Welt für die deutsche
Freiheit eintreten, seine Botschaft ausgesandt hat: Wenn
ihr unsere Freiheit verteidigt, dann könnt ihr sicher sein,
dass wir auch euch nicht im Stich lassen. Diese Botschaft
ist notwendig, auch im Hinblick auf die Eltern
dieser Soldaten.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der FDP)
Die Stabilität der Gesellschaft ist die notwendige Voraussetzung
dafür, dass wir die Kräfte dieses Landes
freisetzen können. Die Keimzelle der Gesellschaft ist
– ich habe es angesprochen – die Familie.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Im Rahmen der Generalaussprache liegen nun keine
weiteren Wortmeldungen mehr vor.
Damit kommen wir zu den Bereichen Europa,
Außen- und Sicherheitspolitik, Entwicklungspolitik
und Menschenrechte.
Als erstem Redner erteile ich das Wort für die
Bundesregierung Herrn Bundesminister Dr. Guido
Westerwelle.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zunächst einmal an das anknüpfen, was Herr
Kollege Vaatz hier eben gesagt hat. Das ist eine außerordentlich
kluge und vor allen Dingen bemerkenswerte
Einschätzung gewesen. Denn die vielen Gäste, die wir
gestern empfangen konnten, haben alle ausgedrückt, wie
beeindruckt unsere befreundeten Partner in der Welt von
dieser friedlichen Revolution gewesen sind. Jeder hier
weiß, dass das auch viel Staatskunst verlangt hat. Jeder
kennt die Rolle von Helmut Kohl, von Hans-Dietrich
Genscher und – es wächst zusammen, was zusammen
gehört – von Willy Brandt; er sei ausdrücklich genannt.
Aber niemand darf dabei vergessen: Die wahren Helden
waren diejenigen, die nicht wussten, ob auf sie geschossen
wird, als sie auf die Straße gingen. Das waren die
wahren Helden dieser Zeit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, das hat natürlich auch viel
mit außenpolitischer Tradition und Kontinuität zu tun
gehabt. In Wahrheit ist die Außenpolitik seit Gründung
der Bundesrepublik Deutschland wirklich großes Inventar
unserer Republik. Diese Kontinuität hat die Außenpolitik
aller Regierungen vor uns – aller Regierungen – ausgezeichnet,
und diese Kontinuität wird selbstverständlich
auch jetzt fortgesetzt werden. Deutsche Außenpolitik ist
Friedenspolitik, sie ist interessengeleitet, aber sie ist ausdrücklich
auch werteorientiert. Das ist der Kompass. Der
galt früher, und der gilt auch in Zukunft.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Das hat die Angst vieler Völker der Welt vor uns
Deutschen genommen, das hat uns in die friedliche Völkergemeinschaft
zurückgeführt. Deswegen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, will ich gleich am Anfang sagen:
Wir stehen mit dieser Bundesregierung für eine Einbindung
unserer Politik in die europäische Politik und in die
Politik der Völkergemeinschaft. Wir wollen keine Alleingänge,
sondern wir wollen gemeinsames Handeln;
auch dies ist wichtig.
Ich möchte nachdrücklich sagen: Es soll jedem klar
sein, dass Kontinuität nicht mit Ideenlosigkeit verwechselt
werden darf. Jeder setzt seine eigenen Akzente. Ich
möchte ausdrücklich hinzufügen: Das hat auch Bundesaußenminister
Steinmeier getan. Da es das erste Mal ist,
dass ich in diesem Hohen Hause in meinem neuen Amt
sprechen darf, möchte ich mich bei ihm, gewissermaßen
in Abwesenheit – ich hätte es ihm gerne persönlich gesagt
–, für seine Amtsführung in den letzten Jahren sehr
herzlich bedanken.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
Es ist immer so: Jeder denkt natürlich an die eigene
Handschrift, an die eigenen Akzente, und es gibt Dinge,
die aus meiner Sicht und aus Sicht der Bundesregierung
vielleicht noch besser gemacht werden können. Ich
möchte zunächst vor allen Dingen auf die Europapolitik
Bezug nehmen.
Ich habe sehr früh, lange vor der deutschen Einheit,
von Hans-Dietrich Genscher ein Selbstverständnis gelernt,
das mich sehr geprägt hat. Damals sagte er mir als
jungem Studenten: Die Europäische Union heißt Europäische
Union und nicht Westeuropäische Union. – Das
ist kein selbstverständlicher, einfach so dahingesprochener
Satz, sondern es ist in Wahrheit ein Auftrag an unsere
Generation, zu vollenden, was andere vor uns begonnen
haben – abermals seien zum Beispiel Willy Brandt und
Walter Scheel genannt –, dass die tiefe Freundschaft, die
wir mit unseren westlichen Nachbarn erreichen konnten
– wir sprechen längst nicht mehr nur von Partnerschaft,
sondern selbstverständlich von einer Freundschaft der
Völker –, auch mit unseren östlichen Nachbarländern
möglich wird, dass sie wächst und dass sie gedeiht.
Deswegen habe ich meine erste Antrittsreise nach Polen
unternommen. Ausdrücklich habe ich als erstes Land,
in das ich im Rahmen meiner Antrittsbesuche gereist bin,
Polen und dort Warschau besucht. Das soll auch von mir
ganz persönlich ein klares Bekenntnis sein: Wir wollen,
dass die Freundschaft, die zum Beispiel im deutsch-französischen
Verhältnis gewachsen ist, auch für das deutschpolnische
Verhältnis selbstverständlich wird. Wir wollen
unseren Beitrag dazu leisten, dass die Ressentiments, die
es selbstverständlich gibt – wie könnte es in Anbetracht
unserer Geschichte auch anders sein? –, als Vergangenheit
zurückbleiben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN
und der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN])
Wie jeder von Ihnen habe ich in meiner politischen
Laufbahn viele Gespräche geführt und das eine oder andere
fürs Leben mitgenommen. So ist es mir wichtig, dass
ich in den 90er-Jahren – schon etwas näher an der Politik
stehend: im Vorstand meiner Partei, später als Generalsekretär
und dann als junger Abgeordneter – noch erlebt
habe, wie Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher in
der Europapolitik immer größten Wert darauf gelegt haben,
dass Europa nicht nur ein Konzert der großen Staaten
in Europa ist. In Europa gibt es keine kleinen Länder.
Auch die geografisch kleinen Länder sind in Europa ganz
groß, auf Augenhöhe. Respekt vor allen Mitgliedstaaten
der Europäischen Union, das soll unsere, das wird
auch meine Handschrift sein.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Deswegen ist es mir ein Anliegen gewesen – und ich
werde das in dieser Woche fortsetzen –, gleich am Anfang
selbstverständlich nicht nur Frankreich, unseren
wunderbaren Freund und Nachbarn, zu besuchen, sondern
auch die kleineren Nachbarländer, die Beneluxländer,
wie sie oft genannt werden, aufzusuchen.
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Es
gibt doch keine mehr!)
– Ich habe es doch gerade erklärt; vielleicht ertragen Sie
es einfach mal. Ich glaube, dass Sie es verstehen können.
Ich bitte wirklich darum. – Ich halte es deshalb für so
wichtig, diese Länder zu besuchen, weil ich es nicht gut
finde, wenn Länder wie beispielsweise Luxemburg, wenn
Länder wie die Niederlande oder wenn Länder wie Belgien
das Gefühl bekommen, gewissermaßen eingedrängt
oder nicht genügend beachtet zu werden. Ich war persönlich
überrascht, dass der letzte bilaterale Besuch eines
deutschen Außenministers in Belgien – nicht in Brüssel/
Europa, sondern in Belgien – neun Jahre zurücklag.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unser Joschka!)
Ich glaube, es ist wichtig, dass, gerade weil Deutschland
ein so großes Land ist, wir als Deutsche Wert darauf legen:
In Europa wollen wir uns mit Respekt begegnen.
Deswegen haben wir unsere Sprache, selbst wenn es
Kontroversen gibt, so zu wählen, dass sich niemand in
unseren Nachbarländern, auch nicht in Luxemburg, beleidigt
und gekränkt fühlen muss.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Schließlich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
ist es wichtig und selbstverständlich Tradition, dass alle
bisherigen deutschen Regierungen das transatlantische
Verhältnis als eine ganz besondere Partnerschaft angesehen
haben. Wir wollen Partnerschaft mit vielen Ländern
in der Welt, wir wollen uns bemühen, mit vielen
Ländern in der Welt – mit ärmeren wie reicheren, mit
geografisch größeren wie kleineren – gute Beziehungen
zu pflegen. Aber außerhalb von Europa sind die Vereinigten
Staaten von Amerika nicht nur unser stärkster,
sondern auch unser treuester Verbündeter. Wir stünden
nicht hier mit freier Rede an diesem Platz, wenn die Vereinigten
Staaten von Amerika nicht dafür geradegestanden
hätten, in ihrer gesamten gemeinsamen Geschichte
mit uns.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Sie werden nicht erwarten, dass man in den ersten Tagen
über alles Bilanz zieht und über alles schon eine
abschließende Meinung hat. Ich habe jetzt viele Außenminister
getroffen, hatte die Ehre, mit vielen
Regierungschefs zu sprechen. Meine Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen, damit es Sie beruhigt:
Alle hatten einmal ihren ersten Tag. Dementsprechend
will ich nicht den Eindruck erwecken, als sei
schon alles aufgeschrieben und abschließend benannt.
Ich möchte Ihnen anbieten, dass wir in den großen Fragen,
die vor uns liegen – ob es um das Konzept der
selbsttragenden Sicherheit in Afghanistan geht; ob es um
den Iran geht; ob es darum geht, die Rede, die Bundeskanzlerin
Merkel in Washington gehalten hat, in der Völkergemeinschaft
politisch mehr und mehr mit Leben zu
erfüllen –, gemeinsam die Politik besprechen. Es geht
jetzt darum, dass wir uns diesen Herausforderungen stellen.
Ich möchte Sie herzlich um Ihre Zusammenarbeit bitten.
Gleichzeitig biete ich Ihnen als den Abgeordneten
hier in diesem Hohen Hause, und zwar allen Fraktionen,
nachdrücklich eine faire und gute Zusammenarbeit an,
weil ich glaube, dass Außenpolitik vor allen Dingen eine
gemeinsame Politik unseres Landes ist.
Ich danke deshalb auch sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
(Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei
der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun der Kollege Gernot Erler für die
SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Kontinuität und Grundkonsens, Herr Bundesminister
des Äußeren, sind in der Tat bewahrenswerte Prinzipien
in der Außen- und Sicherheitspolitik – auch bei
einem Regierungswechsel.
Zwischen 1998 und 2005 hat die rot-grüne Regierung
wichtige Weichenstellungen getroffen. Erst aus den Balkankriegen
heraus entstand eine wirkliche europäische
Außen- und Sicherheitspolitik mit entsprechenden zivilen
und militärischen Fähigkeiten, an deren Schaffung
wir uns aktiv beteiligt haben. Als Antwort auf die Tragödie
dieser Konflikte bekamen die Westbalkanstaaten
1999 auf deutsche Initiative hin zunächst den Stabilitätspakt.
Im Juni 2003 erhielten sie auf dem Europäischen
Rat von Thessaloniki dann eine verbindliche EU-Beitrittsperspektive.
Das hat sich bis heute als europäische
Friedenspolitik bewährt.
Bis heute gültig ist auch die wertebezogene europäische
Sicherheitsstrategie vom Dezember 2003, in die
auch wichtige Prinzipien, die wir erarbeitet haben, eingegangen
sind, und Rot-Grün hat in Deutschland viele
Initiativen für eine präventive Friedenspolitik auf den
Weg gebracht: zum Beispiel mit dem ZIF, dem Zentrum
für Internationale Friedenseinsätze, mit dem Aufbau des
zivilen Friedensdienstes, mit dem Aktionsplan für zivile
Krisenprävention, mit der Aufwertung der Menschenrechtspolitik,
mit der Unterstützung der Vereinten Nationen
und mit der Erweiterung der Entwicklungszusammenarbeit,
die wir als globale Prävention verstehen. All
das hat den Wechsel von 2005 in die Große Koalition
schadlos überstanden und ist in den vergangenen vier
Jahren weiterentwickelt worden.
Herr Bundesaußenminister, daran anzuknüpfen, wäre
in der Tat eine sinnvolle und überzeugende Kontinuitätsentscheidung.
In dem Koalitionsvertrag von CDU/CSU
und FDP – nicht in Ihrer Rede – wird aber leider gezeigt:
Sie sind im Begriff, einen Bruch mit dem bisherigen
Grundkonsens zu vollziehen. Das will ich hier an fünf
konkreten Punkten aufzeigen:
Erstens: Parlamentsbeteiligungsgesetz. Ihre Koalition
kündigt Änderungen des Parlamentsbeteiligungsgesetzes
und die Schaffung eines Vertrauensgremiums an.
Das stützt sich auf die widerlegbare Behauptung, dass
bei der jetzigen Regelung eine zeitnahe und ausreichende Information des Parlaments in bestimmen Fällen
nicht gesichert ist. Tatsächlich hat es dafür hier bisher
nicht ein einziges Beispiel in Form eines Problems gegeben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Wir warnen vor einer Aufweichung oder gar Demontage
der Parlamentsrechte bei bewaffneten Auslandseinsätzen.
Deutschland ist mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz
bisher gut gefahren. Das ist ein Teil unserer
politischen Kultur geworden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deswegen werden wir an diesem Punkt nicht nur aufmerksam
sein, sondern auch kämpfen.
Zweitens. EU-Erweiterungspolitik. Ich habe eben
auf die friedenspolitische Bedeutung dieser Politik hingewiesen.
Im Koalitionsvertrag von 2005 hatte die
CDU/CSU noch zugestimmt, Kroatien zu erwähnen und
diese Perspektive ausdrücklich zu bestätigen. Ein solches
Bekenntnis fehlt in auffallender Weise im Koalitionsvertrag
der neuen Bundesregierung, in dem lediglich
von einer „Erweiterungspolitik mit Augenmaß“ gesprochen
wird, ohne jeden Hinweis auf ein bestimmtes Land
und ohne jede Bestätigung dieser wichtigen europäischen
Perspektive. Das ist nicht nur eine Veränderung,
die in den Balkanländern mit Sorge wahrgenommen
worden ist, sondern das ist auch gefährlich. Sie tragen
die volle Verantwortung für die Folgen für die Sicherheit
auf dem Balkan, die sich daraus ergeben.
(Beifall bei der SPD)
Drittens: Rüstungsexporte. Herr Bundesaußenminister,
Sie haben in den letzten Tagen und Wochen sehr
lautstark Initiativen zur Abrüstung angekündigt. In dem
konkretesten Fall, dem Abzug von amerikanischen
Atomwaffen, mussten Sie teilweise schon wieder zurückrudern.
Aber wir werden nicht zulassen, dass im
Schutz dieses Geräuschpegels die im Vergleich mit den
anderen europäischen Staaten in Deutschland besonders
strengen Rüstungsexportrichtlinien lautlos verwässert
werden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Wir werden keine Ruhe geben, bis Sie erklären, was Sie
mit Ihren Forderungen nach – ich zitiere – „Harmonisierung
der Rüstungsexportrichtlinien innerhalb der EU“
und nach „fairen Wettbewerbsbedingungen in Europa“
meinen.
Viertens: unser Verhältnis zu Russland. Man merkt es
nur, wenn man genau liest – Sie haben eben Russland
überhaupt nicht erwähnt, Herr Bundesaußenminister;
auch in den letzten Tagen und Wochen haben Sie es
nicht genannt –: Im Koalitionsvertrag steht wenig Neues
über Russland, das immerhin als wichtiger Partner eingestuft
wird. Aber es gibt eine sehr auffällige Auslassung.
Der Begriff „strategische Partnerschaft“ kommt
nicht mehr vor.
Ich frage Sie: Was soll das bedeuten? Die EU zum
Beispiel hat diesen Begriff der strategischen Partnerschaft
für ihr Verhältnis mit Russland ständig benutzt.
Sie machen dies in einer Zeit, in der Präsident Obama
den Reset-Knopf hinsichtlich der Beziehungen zur Russischen
Föderation gedrückt hat, in der er den Stolperstein
Raketenabwehr ausgeräumt hat und in der er,
durchaus mit unserem Beifall, mit dem russischen Präsidenten
bis Dezember zu einem neuen Schritt in der atomaren
Abrüstung kommen will. Daher frage ich Sie:
Was soll in dieser Zeit diese erklärungsbedürftige Abstufung
von deutscher Seite? Ich kann es mir nicht erklären.
Fünftens: der deutsche Einsatz in der Entwicklungspolitik.
Wir haben vorhin von der Bundeskanzlerin gehört,
das Thema sei nicht Nebensache, sondern Hauptsache.
Das spiegelt sich nun leider weder in der Besetzung
des Ministeriums noch im Koalitionsvertrag wider.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Zwar lesen wir in dem Vertrag ein Bekenntnis allgemeinster
Art zu dem europäischen 0,7-Prozent-Ziel. Das
wird aber sofort mit der Einschränkung verbunden, man
wolle sich diesem Ziel – ich zitiere – „verantwortlich im
Rahmen des Bundeshaushaltes annähern“. Zudem nennen
sie kein Zeitziel. Völlig unklar bleibt auch: Was
wird eigentlich mit dem gemeinsamen europäischen
0,51-Prozent-Ziel in Deutschland im Jahr 2010? Was
wird mit dem 0,7-Prozent-Ziel im Jahr 2015? Nach elf
Jahren Kampf für die Erhöhung der ODA-Quote in der
deutschen Politik klingt das nach einem kläglichen Abgesang.
Auch das werden wir nicht hinnehmen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich stelle summierend fest: Es ist falsch, die Entscheidungsrechte
des Deutschen Bundestages bei Auslandseinsätzen
einzuschränken. Es ist falsch, von der
verbindlichen europäischen Perspektive für die Westbalkanstaaten
abzurücken. Es ist falsch, die politischen
Richtlinien für deutsche Rüstungsexporte, die strenger
als in unseren Nachbarstaaten sind, aufzuweichen. Es ist
falsch, die bisherige Politik der strategischen Partnerschaft
mit Russland infrage zu stellen. Es ist falsch, aus
den europäischen Zielen zur Erhöhung der Anstrengungen
in der Entwicklungszusammenarbeit in die Unverbindlichkeit
zu flüchten.
Bei all diesen Punkten verlassen Sie, meine Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition, den Grundkonsens
in der Außen- und Sicherheitspolitik – nicht wir. Bei all
diesen Punkten werden Sie in der Sache bei uns auf engagierten
Widerstand stoßen. Aber es gilt natürlich auch:
Wo immer Sie an den guten Kontinuitäten der letzten elf
Jahre anzuknüpfen bereit sind, werden wir konstruktiv
zusammenarbeiten können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Am Beginn einer neuen Legislaturperiode ist es
wichtig, noch einmal auf die Grundlagen unserer Außenpolitik
zu verweisen. Deutsche Außenpolitik war und ist
immer dann erfolgreich, wenn sie auf engen und berechenbaren
Beziehungen zu unseren Partnern in der Europäischen
Union und auf einem vertrauensvollen Verhältnis
zu den Vereinigten Staaten von Amerika beruht.
Gestern haben wir den 20. Jahrestag der Öffnung der
Mauer gefeiert. Dass es dazu gekommen ist, ist auch darauf
zurückzuführen, dass die Regierung Kohl/Genscher
gegen erheblichen Widerstand vor allem von den Grünen
und der SPD zum NATO-Doppelbeschluss gestanden
hat.
(Lachen bei Abgeordneten der SPD)
Dafür, wie sehr eine berechenbare und vertrauensbildende
Politik in EU und NATO deutschen Interessen
dient, ist dies wohl das herausragendste, aber auch das
schönste Beispiel. Deshalb war es auch richtig, dass Sie,
Frau Bundeskanzlerin, in Ihrer großen Rede vor dem
amerikanischen Kongress noch einmal ein klares Bekenntnis
zur transatlantischen Partnerschaft und zur
NATO als Eckpfeiler der deutschen Sicherheitspolitik
abgelegt haben.
Ich denke, jeder von uns ist erleichtert, dass der Lissabonner
Vertrag jetzt in Kraft treten kann. Es ist ein
guter Vertrag. Europa wird in seiner Handlungs- und
Entscheidungsfähigkeit und in seiner Sichtbarkeit deutlich
gestärkt. Die Rechte des Europäischen Parlamentes
und der nationalen Parlamente werden deutlich verbessert.
Jetzt sind die Voraussetzungen geschaffen, um die
europäischen Aufgaben und globalen Herausforderungen
besser bewältigen zu können.
Deutschland wird durch den Lissabonner Vertrag ein
größeres Gewicht in der Europäischen Union erhalten.
Das heißt aber – das hat der Außenminister vorhin unterstrichen
–, dass wir noch mehr als bisher die berechtigten
Interessen unserer Nachbarn und Partner berücksichtigen
müssen. Deshalb begrüßen wir, dass der
Außenminister gleich zu Beginn seiner Amtszeit auf
Polen und die Benelux-Staaten zugegangen ist. Das war
ein wichtiges und richtiges Zeichen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutschland ist immer gut gefahren, und es war immer
ein Markenzeichen jeder schwarz-gelben Koalition,
wenn es den kleinen und mittleren EU-Ländern mit
Respekt begegnet und sie frühzeitig einbindet. Wenn immer
so gehandelt worden wäre, hätte uns das beispielsweise
viele Probleme bei dem europäischen Projekt der
Ostseepipeline erspart.
Deutschland und Frankreich müssen auch weiterhin
in der EU die entscheidende Motorrolle wahrnehmen.
Das gilt für die ganze Breite der außen- und europapolitischen
Themen. Dabei werden wir in den nächsten
Jahren einen besonderen Schwerpunkt auf die Bereiche
Bildung, Klimaschutz, Weltraum sowie Sicherheit und
Verteidigung legen. Doch es geht nicht nur darum, dass
Deutschland und Frankreich die europäische Integration
in der Substanz – also die Wettbewerbsfähigkeit, die
Energiesicherheit oder die außen- und sicherheitspolitische
Rolle Europas in der Welt – voranbringen. In all
diesen Bereichen muss Europa mit einer Stimme sprechen.
Auch deshalb ist es unverzichtbar, dass wir wieder
deutlich den europäischen Solidargedanken stärken.
Auf ihm hat die europäische Integration aufgebaut, und
durch ihn ist die EU zu einem echten Erfolgsprojekt geworden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Doch die Vorgänge während der Wirtschafts- und
Finanzkrise oder das jüngste Gipfeltreffen, wo das
Thema Klimaschutz offenbart hat, wie weit alte und
neue Mitgliedstaaten auch in ihrem Lebensgefühl noch
auseinanderliegen, zeigen, wie wichtig es ist, dass wir
den Solidargedanken wieder stärker ins Bewusstsein
bringen und vor allem in der EU und als EU noch stärker
danach handeln. Gerade Deutsche und Franzosen haben
hier eine besondere Verpflichtung. Dies kann nicht allein
auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs und der
Ministerien geleistet werden. Deswegen halte ich es für
notwendig, dass wir einen deutlich breiteren, vor allem
aber kontinuierlichen gesellschaftlichen deutsch-französischen
Dialog auf hoher Ebene schaffen, das heißt zwischen
Parlamentariern, Vertretern der Wirtschaft, Kultur,
Medien und Wissenschaft und insbesondere auch jungen
Menschen aus beiden Ländern.
In der Frage künftiger Erweiterungen der EU stehen
wir als Parlamentarier vor neuen Aufgaben. Durch die
Begleitgesetzgebung haben wir das Recht und die Pflicht
zu einer Stellungnahme, ehe der deutsche Außenminister
im Kreis seiner EU-Kollegen über die Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen entscheidet. Die schlechten Erfahrungen,
die wir heute noch mit dem verfrühten Beitritt
Bulgariens und Rumäniens machen müssen, sind
eine deutliche Ermahnung dafür, dass wir uns mit Blick
auf künftige Beitritte schon vor Verhandlungsbeginn ein
genaues Bild über den Stand der Vorbereitung des Kandidaten
machen und, darauf aufbauend, die Erwartungen
an den Verhandlungsprozess formulieren. Wenn wir
nicht wieder in die Situation kommen wollen, am Ende
nur noch das Verhandlungsergebnis abnicken zu können,
dann müssen wir insbesondere vor, aber auch während
des Verhandlungsprozesses unsere Position dezidiert
zum Ausdruck bringen. Deshalb bin ich dem Außenminister
dankbar, dass er nicht dem Drängen der schwedischen
EU-Ratspräsidentschaft nachgibt, bereits am
7. Dezember über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen
mit Island und möglicherweise auch mit Mazedonien
zu entscheiden, sondern dass wir Gelegenheit
haben, eine sorgfältig formulierte Stellungnahme zu erarbeiten.
In diesem Zusammenhang ein Wort zur Türkei. Es ist
klar: Die Verhandlungen mit der Türkei sind mit dem
Ziel des Beitritts aufgenommen worden und sind ein ergebnisoffener Prozess. Aber will die Türkei eigentlich noch in die EU? Die Verhandlungen kommen nicht
voran. Sie geraten möglicherweise schon bald an einen
toten Punkt. Wenn der türkische Ministerpräsident den
iranischen Präsidenten Ahmadinedschad öffentlich einen
Freund nennt, obwohl dieser den Holocaust leugnet,
oder über den wegen Völkermordes gesuchten sudanesischen
Präsidenten al-Baschir sagt, ein Muslim könne
keinen Völkermord begehen, dann stellt sich schon die
Frage nach dem Verständnis europäischer Werte. Auch
dass die Türkei seit drei Jahren die Anwendung des Ankara-
Protokolls verweigert, wie die Kommission kürzlich
in ihrem dritten Fortschrittsbericht festgestellt hat,
spricht nicht für den Willen, die EU-Regeln und -Werte
zu akzeptieren. Die EU-Außenminister haben am
11. Dezember 2006 acht Kapitel eingefroren und eine
neue Entscheidung für den kommenden Dezember vorgesehen,
sollte die Türkei das Ankara-Protokoll dann
noch immer nicht erfüllen. Da dies erkennbar nicht der
Fall ist, muss ich für meine Fraktion in aller Deutlichkeit
sagen: Die CDU/CSU erwartet, dass die Außenminister
am 7. Dezember eine Entscheidung treffen, die die klare
politische Botschaft enthält, dass es die EU ernst meint,
wenn sie sagt: Eingegangene Verpflichtungen sind einzuhalten.
(Beifall bei der CDU/CSU)
In Afghanistan stehen wir vor der größten außenpolitischen
Aufgabe der nächsten vier Jahre. Uns allen ist in
diesem Jahr die Schwierigkeit dieser Aufgabe deutlicher
denn je bewusst geworden. 2009 wird – das lässt sich
leider jetzt schon sagen – das militärisch schwierigste
und verlustreichste Jahr des ISAF-Einsatzes. In diesem
Jahr ist uns vor Augen geführt worden, wie schwierig es
ist, die Säulen einer demokratischen Ordnung zu errichten,
wenn das Fundament dafür noch immer instabil ist.
Die Größe der Herausforderung ist sichtbarer denn je.
Und doch liegt die Stabilisierung Afghanistans weiterhin
in unserem besonderen nationalen Interesse, wie wir es
im Koalitionsvertrag formuliert haben. Wir sind in
Afghanistan, weil von dort grausame Terroranschläge
gegen den Westen geplant und durchgeführt wurden und
weil wir dringend und unbedingt verhindern müssen,
dass dies wieder passiert. Wir sind in Afghanistan, weil
dort ein Volk, das sich nach Jahrzehnten des Krieges und
der Diktatur Frieden und Freiheit wünscht, seine Hoffnungen
auf uns setzt. Und wir sind in Afghanistan, weil
wir Teil der transatlantischen Gemeinschaft sind und
weil wir den Einsatz, um den die Vereinten Nationen und
die afghanische Regierung die NATO gebeten haben, in
aller Konsequenz mittragen. Dies alles war richtig, als
wir in Afghanistan rasche erste Erfolge sahen und auf
ein baldiges Ende des Einsatzes hoffen durften. Dies alles
bleibt auch heute noch richtig, wo wir für unsere Erfolge
viel härter arbeiten müssen und an ein rasches
Ende des Einsatzes nicht mehr zu denken ist.
Unser Ziel in Afghanistan war und bleibt, dafür zu
sorgen, dass die afghanische Regierung die Verantwortung
für die Sicherheit ihrer Menschen und die Stabilität
ihres Landes übernehmen kann. Deshalb gibt es keine
Exit-Strategie für unseren Einsatz, sondern die Strategie
einer Übergabe in Verantwortung, wie es die Bundeskanzlerin
hier im Deutschen Bundestag vor zwei Monaten
erklärt hat. Bei der für 2010 geplanten Afghanistankonferenz
müssen die internationalen Partner mit der
afghanischen Regierung festlegen, wie diese Übergabe
in Verantwortung konkret ausgestaltet werden kann und
welche Zeit- und Zielvorgaben jetzt festgelegt werden
können und festgelegt werden müssen. Es wird dabei
– dessen bin ich mir sicher – an klaren Worten gegenüber
der afghanischen Regierung nicht mangeln.
Präsident Karzai hat nach seiner Wiederwahl, deren
Umstände man zumindest als ungewöhnlich bezeichnen
muss, gesagt, seine Regierung sei durch Korruption und
Vetternwirtschaft ernsthaft diskreditiert. Er muss nun alles
unternehmen, um dieses Problems Herr zu werden,
das den Aufbau seines Landes belastet und bedroht. Um
es mit aller Deutlichkeit zu sagen: Wir erwarten von der
afghanischen Regierung deutlich mehr Anstrengungen,
um nach nun fast acht Jahren internationaler Präsenz
selbst noch stärker als bisher zur Stabilisierung beizutragen.
Es sind, wie es Präsident Obama gesagt hat, Taten,
nicht Worte erforderlich. Auf diese Taten werden wir
drängen. Die internationale Afghanistankonferenz muss
deshalb einen Aktionsplan für die nächsten Jahre vereinbaren,
der Zuständigkeit und Verantwortung eindeutig
benennt und die nächsten Etappen und Zwischenziele
absteckt. Diese Afghanistankonferenz darf keine weitere
Geberkonferenz werden. Sie muss eine Strategiekonferenz
sein.
Ich halte es deshalb für richtig, dass wir das ISAF-Mandat
bei der für Dezember anstehenden Verlängerung
zunächst weitgehend unverändert belassen. Wenn
dann die Ergebnisse der Konferenz vorliegen, werden
wir auch ein klareres Bild davon haben, welche Änderungen
des Mandats gegebenenfalls erforderlich sind.
Bis jetzt haben alle Mandatsverlängerungen für die deutsche
Beteiligung an ISAF eine breite Unterstützung in
diesem Haus gefunden, getragen von der gemeinsamen
Überzeugung fast aller Parteien, dass dieser Einsatz richtig
und notwendig ist. Es wäre zu wünschen, dass uns
diese gemeinsame Überzeugung erhalten bleibt, auch
und gerade dann, wenn die Schwierigkeiten größer geworden
sind. Das wäre auch ein wichtiges Signal nach
außen, an unsere Partner, mit denen wir diesen Einsatz
gemeinsam bestreiten, aber auch an unsere Gegner, die
diesen Einsatz zum Scheitern bringen wollen und jedes
Zeichen von Schwäche als Ermutigung auffassen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt nachdrücklich
die Vision des amerikanischen Präsidenten
Obama, Schritt für Schritt eine Welt frei von Atomwaffen
zu schaffen. Das entspricht ganz unserer Tradition.
Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher waren 1982
mit dem Ziel angetreten: Frieden schaffen mit immer
weniger Waffen. – In ihrer Regierungszeit wurde Europa
weitgehend von Mittel- und Kurzstreckenwaffen befreit.
Auch daran gilt es 20 Jahre nach dem Mauerfall zu erinnern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Jetzt wollen wir diesen Prozess fortsetzen und dabei
auch die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abrüsten,
in enger Absprache mit unseren Verbündeten und im Rahmen von Abrüstungsvereinbarungen. Diese Koalition
– das kann ich insbesondere für die CDU/CSUFraktion
sagen – wird in dieser Legislaturperiode nachdrücklich
auf Fortschritte bei der Nichtverbreitung von
Massenvernichtungswaffen, bei der Rüstungsbegrenzung
und Abrüstung drängen; denn wir müssen verhindern,
dass neue Nuklearmächte und eine neue Aufrüstungsdynamik
entstehen. Ein nuklear bewaffneter Iran
würde im Nahen und Mittleren Osten einen atomaren
Rüstungswettlauf mit katastrophalen Folgen auslösen.
Das muss verhindert werden, wenn nötig auch durch
härtere gemeinsame Sanktionsmaßnahmen.
Mit unserem Angebot, die in Deutschland lagernden
Atomwaffen abgestimmt und im Rahmen von Abrüstungsvereinbarungen
abzuschaffen, wollen wir ein Zeichen
setzen. Wir wollen nicht nur auf weitere Abrüstungsschritte
drängen, sondern dazu auch einen
konkreten Betrag leisten, im Zusammenhang mit dem
neuen strategischen Konzept der NATO und im Rahmen
von Abrüstungsvereinbarungen.
In den letzten Tagen wurde ich wiederholt von russischen
Gesprächspartnern gefragt, ob und was sich an der
deutschen Russland-Politik durch die neue Koalition
ändere. Herr Erler, ich kann Sie beruhigen. Die Antwort
lautet: Es bleibt bei unserer Russland-Politik, nämlich
bei der Russland-Politik von Bundeskanzlerin Merkel.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Sie, die Bundeskanzlerin, hat in den letzten vier Jahren
die Richtung und die Substanz der deutschen Russland-
Politik bestimmt. Auf diesem Wege werden wir weitergehen;
denn das ist eine gute, berechenbare und erfolgreiche
Russland-Politik.
Ich bin dem Außenminister dankbar, dass er noch am
Wahlabend die Frage der Bürgerrechte so deutlich hervorgehoben
hat. Zwar haben Sie, Herr Westerwelle, das
vor allem innenpolitisch gemeint; aber niemand kann einen
Zweifel daran haben, dass Sie sich mit gleichem
Nachdruck für die Respektierung der Bürger- und Menschenrechte
in anderen Staaten einsetzen. Ich erinnere
daran, wie Sie und Frau Leutheusser-Schnarrenberger
mit Entschiedenheit ein rechtsstaatliches Verfahren im
Fall Chodorkowski eingefordert haben. Das ist richtig
so, und das muss auch weiterhin der Fall sein.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Stimme des Außenministers muss auch zu hören
sein, wenn es schwierig wird oder wenn es darum geht,
dem Partner in angemessenem Ton Kritisches zu sagen.
Das war in den letzten vier Jahren leider nicht immer der
Fall.
Für die Russland-Politik der CDU/CSU-FDP-Koalition
gilt, dass wir eine enge, aufgeschlossene und in Umgang
und Ansprache ehrliche Partnerschaft wollen.
Zugleich werden wir Russland dabei unterstützen,
den Kurs der Modernisierung des Landes konsequent
fortzusetzen und dabei die Defizite bei Menschenrechten,
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie
abzubauen.
So steht es in unserer Koalitionsvereinbarung. Mit anderen
Worten: Wir haben ein besonderes Interesse an einem
politisch und wirtschaftlich modernen, rechtsstaatlich-
demokratisch verfassten und handelnden Russland,
und wir wollen unseren Beitrag dazu leisten.
Wie weit der Weg dorthin ist und wie groß die Defizite
sind, zeigt die Analyse einer berufenen russischen
Stimme: Primitive Rohstoffwirtschaft; chronische Korruption;
die veraltete Gewohnheit, bei der Lösung der
Probleme auf den Staat oder auf das Ausland zu hoffen,
nur nicht auf sich selbst; schwache Zivilgesellschaft mit
unterentwickelter Demokratie und paternalistischer Gesellschaftsform.
– Niemand anderes als der russische
Präsident Medwedew hat diese Beschreibung in der
gazeta.ru veröffentlicht. Russland hat heute einen Präsidenten,
der die Probleme des Landes so offen anspricht,
wie es kein Kritiker aus dem Westen wagen würde. Das
ist eine grundlegende Voraussetzung dafür, das Land in
eine bessere Zukunft zu führen.
Der Präsident lässt keinen Zweifel daran, dass der
Schlüssel für eine bessere Zukunft Russlands in seiner
inneren Entwicklung, in individueller Verantwortung
und in einer starken Zivilgesellschaft liegt. Ob dies gelingt,
wird davon abhängen, wie stark die Gegenkräfte
sind, die vom alten System profitieren. Außerdem wird
es davon abhängen, ob sich die modern denkenden Menschen
in Wirtschaft und Gesellschaft ausreichend ermutigt
und unterstützt fühlen, die Modernisierung im Lande
voranzutreiben, statt ins Ausland oder in die innere Emigration
zu gehen.
Dies alles zeigt, dass wir uns keine Illusionen über die
Chancen und das Tempo des Modernisierungsprozesses
in Russland machen dürfen. Aber wir wollen das nicht
als Zuschauer von außen beobachten. Im Gegenteil:
Russland bei seiner Modernisierung aktiv zu unterstützen,
wo immer es notwendig und möglich ist und wo
Russland dazu bereit ist, dazu gibt es für uns keine verantwortbare
Alternative; denn es gibt ein viel zu breites
Feld gegenseitiger Abhängigkeiten. Es schadet unserem
Interesse, wenn der in Russland angestrebte Modernisierungsprozess
nicht vorankommt oder gar scheitert.
Ohne eine erfolgreiche Modernisierung werden wir
das beachtliche Potenzial der Handels- und Investitionsbeziehungen
nicht ausschöpfen können, auch weil wachsende
Korruption und Bürokratismus dem entgegenstehen.
Dazu gehört auch unser Beitrag zur Stärkung der
russischen Zivilgesellschaft. Die rund 230 000 russischen
Nichtregierungsorganisationen, die sich trotz erschwerter
Rahmenbedingungen erstaunlich vital behaupten,
sind für mich Ausdruck der Bereitschaft, wieder von
unten Mitverantwortung zu übernehmen. An diesen Entwicklungen
können und wollen wir anknüpfen. Das ist
ein konkreter Beitrag zur Modernisierung, der die Ziele
von Präsident Medwedew unterstützt und der zudem den
Menschen in Russland zugutekommt.
Meine Damen und Herren, wie unmittelbar internationale
und globale Fragen das Alltagsleben der Menschen
in Deutschland prägen, wissen wir nicht erst seit der aktuellen
Finanz- und Wirtschaftskrise. Die CDU/CSUFraktion
wird sich Deutschlands Verantwortung für die
Welt im Interesse unseres Landes engagiert stellen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der FDP)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Jan van Aken für die
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Jan van Aken (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
gelernter Naturwissenschaftler. Da hat man ein gewisses
Faible für Zahlen. Als ich mir jetzt, Herr Westerwelle
und Frau Merkel, Ihren Koalitionsvertrag angeschaut
habe, sprang mich ein Ereignis sofort förmlich an. Das
Mantra Ihrer Außenpolitik sind ja die deutschen Interessen
bzw., wie wir heute Morgen von der Kanzlerin gehört
haben, der Zugriff auf die weltweit vorhandenen
Rohstoffe. Jetzt kommt es: Wenn es um die Durchsetzung
dieser Interessen geht, erwähnen Sie elfmal die
Bundeswehr und die deutschen Soldaten, aber das Völkerrecht
kommt ganze zweimal in diesem Koalitionsvertrag
vor. Ich sage Ihnen: Das ist kein statistischer Ausreißer
mehr. Das ist Programm.
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Westerwelle, wenn Sie sich hier heute hinstellen
und sagen, die deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik,
dann kann ich dazu nur sagen: Das ist schlichtweg
falsch. Die Militarisierung Ihrer Außenpolitik
(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/
CSU)
zieht sich wie ein roter Faden durch die 132 Seiten Ihres
Koalitionsvertrages.
(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch des
Abg. Holger Haibach [CDU/CSU])
Ich nenne vier Beispiele. Sie kündigen darin heute tatsächlich
schon noch mehr Auslandseinsätze an.
(Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Wahlkampf
ist doch vorbei!)
Sie wollen den Aufbau einer europäischen Armee. Sie
wollen noch mehr Geld für die europäische Sicherheitspolitik,
und Sie setzen auf noch mehr Rüstungsexporte.
Jetzt könnte man es fast schon erfrischend nennen, dass
Sie das überhaupt nicht mehr humanitär verbrämen oder
irgendwie propagandistisch übertünchen, sondern schlicht
und einfach klarstellen: Es geht um die Durchsetzung
deutscher Interessen, zur Not mit der Waffe in der Hand;
Punkt.
(Beifall bei der LINKEN – Karl-Georg
Wellmann [CDU/CSU]: Ach du lieber Himmel!)
Ich finde das aber überhaupt nicht erfrischend. Ich finde
das sehr beunruhigend.
Vor allem beunruhigt mich aber, dass sich hier überhaupt
kein Protest regt. Ich stelle mir einmal vor, dass
die schwarz-gelbe Koalition 1994 ein solches nacktes
und blankes Bekenntnis zur Normalität des Krieges vorgelegt
hätte. Was glauben Sie denn, wäre dann hier in
Deutschland los gewesen? Da hätten doch Hunderttausende
in Bonn demonstriert. Ich sage Ihnen, Herr Trittin:
Wir hätten uns zusammen vor dem Konrad-Adenauer-
Haus angekettet.
(Beifall bei der LINKEN – Iris Gleicke [SPD],
an den Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN] gewandt: Das hast du jetzt davon! –
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ich habe noch nie vor dem Konrad-Adenauer-
Haus demonstriert!)
– Dann wäre das der Moment gewesen, dass wir beide
uns auch einmal zusammen irgendwo angekettet hätten.
Ich sage es jetzt ganz direkt an die Adresse der SPD
und der Grünen: Ich finde, Sie machen einen Riesenfehler,
wenn Sie hier und heute die Militarisierung der deutschen
Außenpolitik einfach so durchwinken. Ich finde,
es wird Zeit – eigentlich ist heute genau der richtige
Zeitpunkt dafür –, dass Sie sich endlich einmal aus dieser
Schröder-Fischer-Falle befreien.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf der Abg.
Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN])
Ich kann ja verstehen – ich kann es wirklich verstehen,
auch wenn ich es grundfalsch finde –, dass Sie immer
noch diesen Reflex haben, bei Auslandseinsätzen erst
einmal zuzustimmen. Aber irgendwann muss doch damit
einmal Schluss sein.
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Westerwelle, es gibt eine Sache, die uns beide
vereint: Wir sind beide Jahrgang 1961. Ich finde eigentlich,
das ist ein guter Jahrgang. Ich erwähne das aber vor
allen Dingen deshalb, weil es bedeutet, dass wir beide in
einem Deutschland aufgewachsen sind, in dem Frieden
noch etwas galt.
Als wir beide zehn Jahre alt waren – da kannten wir
uns noch nicht –, da hat ein deutscher Bundeskanzler namens
Willy Brandt gesagt, dass von deutschem Boden
nie wieder Krieg ausgehen darf.
(Hellmut Königshaus [FDP]: Aber im Osten
gab es den Wehrkundeunterricht, mein Lieber!
Das war auch Deutschland!)
Zu unserem 20. Geburtstag haben in Bonn damals
Millionen von Menschen gegen die atomare Aufrüstung
demonstriert. Ich weiß nicht, ob wir uns damals gesehen
haben; ich war jedenfalls dabei.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Donnerwetter! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
Ein Mann mit Geschichte!)
Auch zu unserem 30. Geburtstag hat sich ein CDUKanzler
noch geweigert, deutsche Soldaten in einen
Irakkrieg zu schicken, obwohl es damals ein UN-Mandat
gab; es gab die UN-Sicherheitsresolution 687. Trotzdem
war es 50 Jahre lang in Deutschland undenkbar, dass wir
die Bundeswehr in einen Krieg im Ausland schicken. Ich
glaube, einer der wichtigsten Gründe dafür war, dass die
Generation unserer Eltern selber noch Krieg erlebt hat.
Sie hat das Leid und das Elend des Krieges am eigenen
Leibe erfahren.
Wenn in diesen Tagen wieder über die Tanklaster in
Afghanistan debattiert wird, dann dürfen wir doch eines
nie vergessen: Diese Tanklaster sind nur die Spitze des
Eisberges. Der Krieg in Afghanistan bedeutet wie jeder
Krieg tagtägliches Sterben, tagtägliche Zerstörung und
tagtägliches Hungern.
(Beifall bei der LINKEN)
Davon höre ich hier im Bundestag kein einziges Wort.
Hier gibt es „Krieg“ oder „Einsatz“, der immer irgendwie
unausweichlich scheint, immer nur als abstrakten
Begriff. Aber eines dürfen wir doch nie vergessen: Krieg
ist nie unausweichlich. Es gibt immer eine Alternative.
Es braucht nur den politischen Willen dazu. Ich selber
habe bei den Biowaffeninspektoren der Vereinten Nationen
gearbeitet, weil diese eine Alternative zum Irakkrieg
gewesen sind. Genauso gibt es heute eine Alternative
zum Krieg in Afghanistan.
(Beifall bei der LINKEN – Hellmut
Königshaus [FDP]: Nämlich?)
Noch ein Wort zu Europa. Der Lissabon-Vertrag
wird bald in Kraft treten. Das ist keine gute Nachricht
für Menschen, die Europa lieben. Wir haben in den letzten
Jahren immer für ein besseres, sozialeres und friedlicheres
Europa gekämpft. Aber mit unserer Klage vor
dem Verfassungsgericht haben wir wenigstens durchgesetzt,
dass dieses Europa ein wenig demokratischer geworden
ist.
(Beifall bei der LINKEN – Hellmut
Königshaus [FDP]: Was?)
Der Bundestag hat mehr Rechte bekommen, und Sie
können sich schon heute darauf einstellen, dass wir diese
Rechte auch nutzen werden.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
gar keine Waffen mehr exportieren sollte.
(Beifall bei der LINKEN)
Dazu muss ich eines sagen: Der Koalitionsvertrag ist
132 Seiten lang. Ein einziges Mal werden in ihm die
hochwertigen Arbeitsplätze erwähnt. Raten Sie einmal,
was für diese Koalition hochwertige Arbeitsplätze sind!
Da würden mir Solarfabriken, Schulen, Krankenhäuser
oder Opel einfallen. Warum nicht Opel? Aber für Frau
Merkel und Herrn Westerwelle sind hochwertige Arbeitsplätze
nach diesem Koalitionsvertrag ausschließlich
in der Rüstungsindustrie zu finden.
(Hellmut Königshaus [FDP]: So ein Quatsch!
Was soll denn das?)
Ich finde das eklig.
(Beifall bei der LINKEN)
Jedes Mal, wenn heute irgendwo auf der Welt – in Myanmar,
in Kolumbien oder im Sudan – Menschen aufeinander
schießen, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr
hoch, dass eine deutsche Firma daran mitverdient. Ich
finde das eine Schande. Ich verspreche Ihnen hier und
heute, dass die Linke keine Ruhe geben wird, bis
Deutschland endlich aufhört, Waffen in alle Welt zu exportieren.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege van Aken, das war Ihre erste Rede in
diesem Haus. Ich gratuliere Ihnen dazu herzlich, verbunden
mit guten Wünschen für Ihre weitere Arbeit.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nun hat der Kollege Dr. Frithjof Schmidt für die
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort.
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bundesaußenminister, Sie haben in Ihrer Rede und
auch im Koalitionsvertrag die Kontinuität der deutschen
Außenpolitik betont. In der Tat: Die Einbindung in die
Europäische Union, das enge transatlantische Bündnis
mit den USA und die aus unserer Geschichte erwachsene
Verantwortung gegenüber Israel sind die Eckpfeiler
deutscher Außenpolitik. Diese Kontinuität ist richtig.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Aber auch wenn Sie das abstreiten: Sie nutzen diese
Kontinuität auch als Ausrede für Ideenlosigkeit und Abwarten.
Da enttäuschen Sie auf der ganzen Linie.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ihr Koalitionsvertrag strotzt vor diplomatischen Leerformeln
und durchsichtigen Kompromissen; ich komme
noch genauer dazu. Damit werden Sie den Herausforderungen
in keiner Weise gerecht. Wir befinden uns heute
in einer historisch zugespitzten Krisenlage: Klimakrise,
Finanzmarktkrise, anwachsende Hungerkrise und globale
Wirtschaftskrise stehen in einer starken Wechselwirkung.
Die ganze Welt diskutiert heute über Lösungsstrategien
unter dem Stichwort „Green New Deal“, um
das Wort von Ban Ki-moon aufzunehmen. Ich könnte ja
noch verstehen, wenn Sie in dem Zusammenhang mit
dem Wort „grün“ Ihre Schwierigkeiten hätten. Aber dass
Sie sich inhaltlich an dieser Stelle ganz abmelden und
keine Antworten geben, wird international niemand verstehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)>
Es gibt die Erwartung an Deutschland, dass es eine zentrale
Rolle in dieser Debatte spielt. Wir waren Schrittmacher
in der Klimapolitik. Wir waren Antreiber bei der
Debatte über die Reformen der globalen Institutionen.
Was kommt jetzt von Ihnen? – Ein paar Allgemeinplätze
zur Reform der Vereinten Nationen und sage und
schreibe ein einziger Satz zur Rolle der G 20 in der Koalitionsvereinbarung.
Das reicht doch nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie des Abg. Dr. Andreas Schockenhoff
[CDU/CSU])
Die großen Veränderungen in der internationalen
Landschaft werden bei Ihnen fast ausgeblendet. Natürlich
ist und bleibt es richtig, die Europäische Union ins
Zentrum deutscher Außenpolitik zu rücken. Natürlich ist
und bleibt es richtig, die Chancen zur Erneuerung der
transatlantischen Partnerschaft, die die Obama-Administration
jetzt bietet, zu nutzen. Aber was ist mit den anderen
Teilen der Welt? Was ist mit China, Indien, Brasilien
oder Südafrika? Ohne diese Länder – das wissen Sie
auch – können die globalen Herausforderungen nicht bewältigt
werden.
Sie sagen dazu fast nichts. Im Gegenteil – es ist heute
schon angesprochen worden –: Als erste Maßnahme
brüskieren Sie aus populistischen, innenpolitischen Motiven
die chinesische Regierung, indem Sie über die
Presse die Einstellung der Entwicklungszusammenarbeit
verkünden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Dass es dabei um die Förderung der Zusammenarbeit im
Umwelt- und Energiebereich geht, fällt bei Ihnen unter
den Tisch, Herr Niebel. Ich persönlich hätte mir nie träumen
lassen, dass einmal die Grünen den Liberalen erklären
müssen, dass auch Außenwirtschaftsförderung ein
sinnvolles Konzept sein kann an der Schnittstelle von
Entwicklungspolitik und Außenpolitik.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
So weit sind wir gekommen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, dann erschreckt
Ihr fast schon dröhnendes Schweigen zur politischen
Perspektive in Afghanistan. Wir sind in einer dramatischen
Situation. Ein umfassender Kurswechsel ist
nötig, damit die internationale Gemeinschaft dort noch
erfolgreich sein kann. Die Zeit drängt. Kanada und die
Niederlande haben den Abzug beschlossen. In den USA
findet gerade eine intensive Debatte statt, ebenso in
Großbritannien. Wie gehen Stabilisierungs- und Abzugsperspektive
in den nächsten vier Jahren zusammen? Darauf
erwarten die Menschen eine Antwort.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Doch von Ihnen ist dazu inhaltlich bisher nichts zu hören.
Die von Ihnen versprochene Verbesserung der zivilen
Koordination ist gut und wichtig. Ansonsten haben
Sie sich fürs Abwarten entschieden: warten auf die USA,
warten auf eine Afghanistankonferenz, warten darauf,
dass einem irgendjemand die Entscheidung abnimmt.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
Das ist ein konzeptionelles Vakuum. Das ist unverantwortlich
gegenüber den Afghaninnen und Afghanen sowie
gegenüber den deutschen Polizisten, Soldaten und
zivilen Helfern dort.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Westerwelle und Herr zu Guttenberg, bringen
Sie endlich eigene inhaltliche Vorschläge! Dazu hätten
Sie hier im Plenum die Gelegenheit. Wann, wenn nicht
jetzt? Eine semantische Debatte über den Kriegsbegriff
reicht da nicht.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
Wir brauchen ein Konzept für Aufbau und Stabilisierung
in Afghanistan in Verbindung mit einer Abzugsperspektive
in den nächsten vier Jahren. Stellen Sie sich endlich
dieser Herausforderung! Für ein richtiges Umsteuern
– das kann ich Ihnen hier anbieten – können Sie dabei
auch auf unsere Unterstützung zählen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte noch zwei Punkte anmerken, die mir als
ehemaligem Europaabgeordneten besonders am Herzen
liegen. Ich bin enttäuscht, wie wenig diese Regierung zu
den politischen Perspektiven für Europa zu sagen hat.
Wo bleiben die Initiativen, die Europäische Union auf
dem internationalen Parkett zu einer starken Stimme für
Klimaschutz, für Menschenrechte und für soziale Verantwortung
zu machen? Wo bleiben die Initiativen, gerade
auch den krisengeschüttelten Nachfolgestaaten des
ehemaligen Jugoslawiens eine Zukunft zu bieten? Da
fehlt fast alles. Stattdessen seitenlange, kleinteilige
Kommentare zu Einzelheiten des Binnenmarktes und absatzweise
fadenscheinige Kompromisse zwischen CSU
und FDP. Das kann man jeweils Punkt für Punkt nachlesen,
zum Beispiel auch bei der Frage des Türkei-Beitritts.
Man sollte sich einmal überlegen, ob die Entwicklungen
in der Türkei nicht auch etwas damit zu tun
haben, dass dort die Empfindung vorherrscht, es werde
der Türkei im Hinblick auf den EU-Beitritt unter anderem
von dieser neuen Regierung eine Absage erteilt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Im Zusammenhang mit den Finanzierungsfragen bedienen
Sie im Koalitionsvertrag unterschwellig das Klischee,
die Europäische Union sei ein geldverschlingender,
bürgerferner Moloch. Damit werden Sie in Europa
niemanden für die Europäische Union begeistern. Damit
tragen Sie nichts zu der Debatte darüber bei, was heute
die Identität und vielleicht auch die Vision der Europäischen
Union ausmacht und ausmachen sollte.
Dass Sie sich – lassen Sie mich das hinzufügen – im
Koalitionsvertrag nicht mehr dazu bekennen, die Verpflichtungen
des europäischen Stufenplans zur Steigerung
der Mittel für die Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent
des Bruttosozialproduktes einzuhalten, lässt Schlimmes
befürchten. Der Erfolg der Millenniumsziele zur Bekämpfung
von Armut und Krankheit in der Welt steht
auf der Kippe. Die Anstrengungen müssten stärker werden
und nicht schwächer. Ich sage Ihnen: Wenn Deutschland
unter Ihrer Führung wegen eines Haushaltsvorbehalts aus dem europäischen Geleitzug ausschert, dann
wäre das eine Schande für unser Land.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich
wünsche Ihnen, aber vor allem unserem Land, dass Ihre
tatsächliche Politik besser wird als der Text Ihres Koalitionsvertrages.
Dankeschön.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege Dr. Schmidt, auch für Sie war dies die
erste Rede in diesem Haus. Ich gratuliere auch Ihnen
sehr herzlich und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit
Freude und Erfolg.
(Beifall)
Nun erteile ich das Wort für die Bundesregierung
Herrn Bundesminister Dirk Niebel.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN und
vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wer den Koalitionsvertrag genau gelesen und
wer der Regierungserklärung der Frau Bundeskanzlerin
genau zugehört hat, wird feststellen, dass diese neue Regierung
der Mitte die Entwicklungszusammenarbeit ausdrücklich
aufwertet.
(Undine Kurth [Quedlinburg] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Oh!)
Er wird feststellen, dass Entwicklungszusammenarbeit
nach unserem Verständnis weit mehr ist als reine Armutsbekämpfung.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Sie ist vielmehr ein Bestandteil der deutschen Dialogpolitik
in einer globalisierten Welt. Entwicklungszusammenarbeit
ist Bestandteil des Konzepts der vernetzten
Sicherheit. Unsere Entwicklungszusammenarbeit wird
weiterhin werteorientiert sein.
All denjenigen, die schon vor dem ersten Wort meiner
Rede Zurufe gemacht haben, sage ich ganz ausdrücklich:
Unsere Entwicklungszusammenarbeit ist ausdrücklich
interessenorientiert – im wohlverstanden besten Sinne
der Bundesrepublik Deutschland. Denn es ist in unserem
Interesse, weltweit dafür zu sorgen, dass die Folgen des
Klimawandels bekämpft werden können.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Es ist in unserem Interesse, in unserem eigenen Vorgarten,
in Afrika, dafür zu sorgen, dass Menschen keine
Fluchtgründe geliefert bekommen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zurufe
vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vorgarten!)
Es ist in unserem ureigensten Interesse, Entwicklungszusammenarbeit
unter der Prämisse der Freiheit für möglichst
viele Menschen zu organisieren.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
CDU/CSU)
Entwicklungszusammenarbeit soll den Menschen Freiheit
bringen; aber sie braucht Freiheit auch als Voraussetzung,
um tatsächlich funktionieren zu können.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Diese Bundesregierung wird sich ausdrücklich darum
kümmern, dass gutes Regierungshandeln in unseren
Partnerländern eine Voraussetzung der Zusammenarbeit
sein wird. Menschenrechte und Demokratie werden
wesentliche Werte sein; auf diese werden wir zu achten
haben. Aber auch die wirtschaftliche Freiheit der Partnerländer
gehört dazu.
(Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin
[FDP])
Das Ministerium, das ich führen darf, heißt „Ministerium
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“.
Beides gehört zusammen, damit die Hilfeleistung
für andere Staaten vorzugsweise durch eigenständige
wirtschaftliche Leistungskraft abgelöst werden kann.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir wissen aber auch, dass jemand, der Sorgen haben
muss, wovon er seine Familie am nächsten Tag ernähren
kann, nur ein geringes Maß an Freiheit in seinem Leben
ausschöpfen kann. Aus diesem Grund muss es uns angst
und bange werden, wenn wir feststellen, dass wegen der
enormen Verteuerung von Lebensmitteln mittlerweile
schon wieder über 1 Milliarde Menschen an Hunger leiden.
Weil dies so ist, müssen wir die Effizienz und die
Schlagkraft unserer Entwicklungszusammenarbeit erhöhen.
Dafür haben wir die Grundlagen in unserem Koalitionsvertrag
gelegt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Wir werden ausdrücklich dafür sorgen, dass ländliche
Regionen sich entwickeln können und dass die Chance
auf eine sich selbst tragende Landwirtschaft größer wird
als heute. Das ist die Grundlage für Ernährungssicherung
in der Welt.
Außerdem werden wir ausdrücklich dafür sorgen,
dass die zwei Seiten der gleichen Medaille, Armut und
Bildungsarmut, besser bekämpft werden als in der Vergangenheit.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Bildung ist die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes
Leben. Deswegen wollen wir insbesondere die Schulbildung
von Kindern, aber auch die berufliche Bildung von
jungen Menschen intensivieren, damit sie die Möglichkeit
haben, ihren Lebensunterhalt durch eigener Hände
Arbeit zu finanzieren. Insofern ist diese Bundesregierung
nicht nur in Deutschland, sondern weltweit eine
Regierung der sozialen Verantwortung. Wir wollen den
Menschen die Möglichkeit geben, selbst über ihr Leben
bestimmen zu können. Das ist die Grundlage unserer
Entwicklungszusammenarbeit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir müssen faire Handelsstrukturen stärken und
hier insbesondere auf die WTO setzen und neben einer
Stärkung des privaten Sektors in den Partnerländern
auch die Mikrokreditfinanzierung intensivieren, damit
selbstständige Tätigkeiten entstehen können und jemand,
der seinen Lebensunterhalt selbstständig finanzieren
kann, womöglich auch noch anderen Menschen eine
Erwerbsmöglichkeit bieten kann. Dies ist eine wichtige
Aufgabe für diese Legislaturperiode, der wir nachkommen
müssen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Wir werden uns um die globalen Fragen im Bereich
des Klimaschutzes kümmern. Die Entwicklungszusammenarbeit
und der Klimaschutz sind gar nicht mehr
voneinander zu trennen. Eigentlich ist das BMZ das
Klimaministerium in Deutschland; denn dort sind schon
heute über 1 Milliarde Euro für Mittel des Klimaschutzes
in der Entwicklungszusammenarbeit angesiedelt.
Hier sind übrigens auch die Hebelwirkungen, was die
ODA-Quote anbetrifft, mit die besten.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Wir müssen allerdings ein höheres Maß an Zielgenauigkeit
erreichen. Aus diesem Grunde werden wir die
Durchführungsorganisationen reformieren. Wir werden
uns bemühen, im internationalen Ausgleich zu einer
besseren Arbeitsteilung zu kommen. Dieser Koalitionsvertrag
und der Zuschnitt dieser Bundesregierung bieten
die Grundlage für das Ende irgendwelcher Nebenpolitiken,
weil wir durch Außenpolitik, Außenwirtschaftsförderung
und Entwicklungszusammenarbeit kohärente
Entwicklungspolitik gestalten können. Einer kann den
anderen Hand in Hand weiterleiten, wenn die Entwicklung
eines Landes vorangegangen ist, damit man die
Chance hat, in Zukunft als Partner mit uns zusammenarbeiten
zu können.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Raabe?
Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung:
Gerne.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege Raabe, bitte.
Dr. Sascha Raabe (SPD):
Herr Minister, Sie haben gesagt, dass Sie für faire
Handelsbedingungen stehen. Wie verträgt sich das mit
der Aussage im Koalitionsvertrag, dass Sie eine radikale
Marktöffnung fordern und jeden Protektionismus ablehnen?
Dies bedeutet auch, dass Sie es den Entwicklungsländern
verwehren wollen, für ihre Ernährungssicherheit
ihre Landwirtschaft zu schützen, was zur Folge hat, dass
diese Länder dann durch Dumpingexporte überflutet
werden können.
Zweitens haben Sie gesagt, Sie wollten die wirtschaftliche
Entwicklung und die Landwirtschaft stärken. Erst vor
wenigen Monaten haben Sie aber davon gesprochen, dass
Sie 100 Millionen Euro, die im Rahmen eines 50-Milliarden-
Konjunkturpakets für die Ärmsten der Armen ausgegeben
werden sollen, lieber für deutsche Grundschullehrer
ausgeben würden; mit dieser Summe könnten
2 000 Lehrer angestellt werden. Wissen Sie, wie viele
Grundschullehrer man für dieses Geld in Afrika einstellen
kann, und distanzieren und entschuldigen Sie sich für
diese Aussage, die Sie damals auf dem Rücken der
Ärmsten der Armen getroffen haben, um damit Stammtische
zu bedienen?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hellmut
Königshaus [FDP]: Das ist doch Quatsch!)
Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung:
Herr Kollege Raabe, wir haben das Konjunkturpaket
der alten Bundesregierung in diesen Punkten nicht mitgetragen.
Wir sind dennoch der Ansicht, dass es wichtig
und notwendig ist, Bildung zu fördern. Aber man sollte
den einen nicht gegen den anderen ausspielen.
(Lachen bei der SPD)
Was den ersten Punkt angeht, den Sie angesprochen
haben, lieber Herr Kollege Raabe, muss ich eines ganz
deutlich feststellen: Sie sind auf dem völlig falschen
Trip. Genau andersherum wird ein Schuh daraus.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Es ist doch wohl nicht normal, dass Entwicklungsländer
durch Handelshemmnisse und Marktzutrittsverbote in
vielen Bereichen der Welt mehr Geld verlieren, als ihnen
durch Entwicklungszusammenarbeit der sogenannten Industriestaaten
zugeführt wird. Das muss geändert werden,
damit man mit fairen Handelsbedingungen Partner
in einer weltweiten Wirtschaft werden kann.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Diese Partnerschaft werden wir auch einfordern; denn
wir wollen ausdrücklich Eigenverantwortung. – Ich habe
Ihre Frage hinreichend beantwortet; aber Sie dürfen gern
stehen bleiben, weil dann meine Uhr auch stehen bleibt. –
Diese Eigenverantwortung werden wir bei unseren Partnerländern
auch insofern einfordern, als die nationalen
Eliten unserer Partnerstaaten dieser Verantwortung gerecht
werden müssen. Wir wollen verlässliche Partner
sein, aber wir erwarten auch, dass unsere Partnerinnen
und Partner bestimmte Spielregeln, die unsere Werte hervorbringen,
einhalten.
Ich bin ausdrücklich dankbar, Frau Bundeskanzlerin,
dass Sie vorhin so deutlich noch einmal unsere Verlässlichkeit
bei der Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels erwähnt
haben. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
als Haushaltsgesetzgeber, diesen Maßstab in Ihre
Beratungen einzubeziehen. Ich würde mich sehr freuen,
wenn Sie das übernähmen, was im Koalitionsvertrag
festgelegt ist und was in der Zukunft auch tatsächlich
von uns erreicht werden soll.
Erlauben Sie mir, einen letzten Punkt anzusprechen.
Veränderungen – das haben wir nicht nur gestern oder
vor 20 Jahren gelernt – kommen in aller Regel aus der
Mitte der Gesellschaft. Deswegen gilt auch in der Entwicklungszusammenarbeit
eines ganz ausdrücklich:
Nicht alles muss der Staat machen; wir sollten uns auf
die Gesellschaft verlassen, auf die Zivilgesellschaft hier
bei uns, aber auch in unseren Partnerländern. Es ist hervorragend
– das muss hier noch einmal ausdrücklich
festgestellt werden –, dass die Koalitionsvereinbarung
der neuen Regierung der Mitte ausdrücklich die Nichtregierungsorganisationen,
die Kirchen, die politischen Stiftungen und auch die Privatwirtschaft auffordert, sich an der Bekämpfung von Armut und der Zusammenarbeit
mit anderen Ländern dieser Welt zu beteiligen, damit
diese eine Chance haben, in Zukunft als unsere Partner
auf Augenhöhe mit uns agieren zu können.
Vielen herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Angelica
Schwall-Düren für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Es wäre sicher reizvoll, auf Herrn Niebel einzugehen,
aber das überlasse ich anderen Kollegen. Ich
möchte mich gerne der Europapolitik zuwenden.
Mit der erfreulichen Tatsache, dass wir bald den Lissabonner
Vertrag ratifizieren können, werden endlich
die Bedingungen geschaffen, dass wir in einem größeren
Europa weiter handlungsfähig bleiben und die demokratische
Transparenz stärken. Insofern, lieber Herr
Minister Westerwelle, haben Sie völlig recht, dass die
Europapolitik wie in der Vergangenheit einer Weiterentwicklung
bedarf, aber einer Weiterentwicklung in Kontinuität.
Ich hoffe sehr und wünsche Ihnen auch, dass Sie
die gute Arbeit von Frank-Walter Steinmeier fortsetzen
können.
Allerdings ist da durchaus Skepsis angebracht. Frau
Bundeskanzlerin Merkel hat erst gestern anlässlich der
Feier zum 9. November gesagt, dass die Nationalstaaten
Macht abgeben müssten. Sie hat die Frage gestellt – ich
darf zitieren –:
Sind Nationalstaaten bereit und fähig dazu, Kompetenzen
an multilaterale Organisationen abzugeben,
koste es, was es wolle; …?
Wenn ich dann aber feststelle, dass im Koalitionsvertrag
in den ersten Abschnitten keineswegs von gemeinsamen
Werten und europäischer Solidarität die Rede ist, sondern
überwiegend die Interessen unseres Landes betont
werden, dann frage ich mich: Bleiben Sie tatsächlich in
der Kontinuität von Bundeskanzler Kohl und Außenminister
Genscher, für die immer deutschlandpolitische
Räson in der Europapolitik war, dass die Interessen
Deutschlands identisch mit den Interessen des gemeinsamen
Europas sind, dass also eine sogenannte Win-win-
Situation geschaffen werden muss.
Zu dem aus meiner Sicht engen Geist des Textes des
Koalitionsvertrages passt das konservativ-marktliberale
Bild von der Europapolitik. Während es die SPD 2005
geschafft hat, die soziale Dimension in diesem Text zu
verankern, finden wir dort eine schwarz-gelbe Lücke.
Ich frage: Wo wird erwähnt, dass wir in Europa ebenfalls
Mitbestimmungs- und Arbeitnehmerrechte brauchen,
beispielsweise wenn es um die europäische Privatgesellschaft
geht? Wo wird erwähnt, dass wir eine soziale Folgenabschätzung
bei der europäischen Gesetzgebung brauchen? Wo lesen wir etwas über soziale Mindeststandards, die wir für die völlige Öffnung der europäischen
Arbeitsmärkte brauchen? – Fehlanzeige! Dagegen wird
ein Scheinargument für nationalstaatliche Alleinzuständigkeit
bei der Sozialpolitik angeführt: Man verweist auf
die hohen deutschen Sozialstandards, die man nicht gefährden
dürfe. Dabei wird vergessen, dass die Europäische
Union uns in der Vergangenheit nicht nur einmal
Impulse gegeben hat, die soziale Dimension zu verstärken.
Denken wir nur an den Diskriminierungsschutz
oder den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Ich habe
den Eindruck, Schwarz-Gelb schaut hier nicht über den
Tellerrand und interessiert sich nicht für die sozialen
Nachteile, die für die Menschen gerade als Folge von
Deregulierung entstehen können.
Wenn wir uns anschauen, was zur Lissabon-Strategie
geschrieben wurde, stellen wir fest, wie weit diese Regierung
von dem Stand des Jahres 2000 entfernt ist, als
mehrheitlich sozialdemokratische Regierungen die Lissabon-
Strategie aus der Taufe gehoben haben. Heute
lesen wir nur noch, dass Europa zum weltweit wettbewerbsfähigsten
Raum werden soll. Den sozialen Zusammenhalt
lassen Sie weg.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Daher müssen wir befürchten, dass die Menschen dem
Raubtierkapitalismus überlassen werden sollen.
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
So kann man Bürger nicht gewinnen. So kann Europa
nicht gewinnen. Wir, die SPD, werden Sie nicht aus der
Verantwortung entlassen; denn die Bürger sagen nur
dann Ja zu Europa, wenn es ein soziales Europa ist.
(Beifall bei der SPD)
Der konservative Geist Ihres Textes ist auch daran zu
erkennen, dass möglichst viel Bürokratie abgebaut werden
soll, möglichst wenig Bankenaufsicht stattfinden
soll, also: privat vor Staat, unverfälschter Wettbewerb.
Wenn wir uns den Bereich der Finanzmarktregulierung
anschauen, stellen wir auch dort fest: Konkrete
Aussage? – Fehlanzeige. Nichts zur Höhe einer Eigenkapitalquote
für die Banken, nichts zum Kampf gegen
Steueroasen, nichts zu Transparenzregeln. Außerdem
lehnen Sie jegliche EU-Steuer ab, also auch eine Finanztransaktionssteuer,
die nicht nur ein Mittel wäre, die
Krise zu managen, sondern auch, um vorzusorgen, damit
wir solche Krisen in Zukunft nicht mehr erleben müssen.
Was die finanzielle Vorausschau anbelangt, so scheinen
Ihre Aussagen zur Neustrukturierung des Haushalts
Lippenbekenntnisse zu sein. Es gibt keine inhaltliche
Diskussion und keine Zielsetzung. Einzig und allein
wird festgehalten: 1 Prozent des BIP, nicht mehr – und
das, obwohl Sie gleichzeitig sagen, dass aus dem EU-Haushalt
ein höherer Anteil für die GASP finanziert
werden soll. Dies ist aus meiner Sicht ein perspektivloser,
ein technokratischer Umgang mit den Haushaltsmitteln.
Wir, die SPD, wollen die EU nicht verwalten, sondern
gestalten. Daher werden wir uns gerade aufgrund
der neuen Begleitgesetze aktiv einbringen.
Ich will aber auch ein Lob aussprechen, ein Lob für
die Passagen, die sich mit der Zusammenarbeit mit unseren
Nachbarstaaten beschäftigen, mit Frankreich und
unseren kleinen Partnern. Ich hoffe, dass wir hier tatsächlich
zu Abstimmungen kommen. Herr Westerwelle,
sehr erfreulich sind in der Tat die Passage zu Polen und
die Tatsache, dass Ihr erster Antrittsbesuch Sie nach
Polen führte. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
müssen uns wirklich fragen, ob Sie von Ihrem großen
Koalitionspartner diesbezüglich ausreichend unterstützt
werden.
Leider mussten wir wieder feststellen, dass Frau
Steinbach hinsichtlich der Zusammenarbeit mit unseren
Nachbarn Öl ins Feuer gießt.
(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
Hört! Hört! Nun ist aber gut!)
Da fragen wir uns: Wo steht die Bundeskanzlerin? Versteckt
sie sich hinter Herrn Westerwelle? Nimmt sie es in
Kauf, dass neues Misstrauen gesät wird?
(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
Sie säen Misstrauen!)
Wenn ich Ihnen ein Zitat vorlesen darf:
Für das politische Klima in Polen gibt es eine nicht
zu unterschätzende deutsche Verantwortung. Etliche
deutsche Politiker gefielen sich darin, in unserem
Nachbarland wider besseres Wissen Ängste zu
schüren, anstatt sie abzubauen.
Richtig, Frau Steinbach, aber genau das trifft auf Sie
zu. Frau Bundeskanzlerin, wir erwarten, dass Sie Ihre
Position klar nennen. Wir verlangen, dass Sie alles tun,
damit die gemeinsamen Herausforderungen wirklich bewältigt
werden können. Wir sollten beispielsweise im
Zusammenhang mit der östlichen Dimension mit Polen
zusammenarbeiten.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hartwig
Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie schüren
doch Ängste!)
Ich muss leider zum Schluss kommen.
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)
Ich möchte abschließend sagen: Der Koalitionsvertrag
zu Europa ist kein großer Wurf. Er ist lieblos heruntergeschrieben.
Es fehlt ihm die Inspiration, es fehlen ihm
neue Ideen. Er hat keine Perspektiven aufgezeigt. Die
Bürger und Bürgerinnen verlangen mehr von Europa.
Auch ich kann nur wünschen, dass Sie über den Text des
Koalitionsvertrages hinausgehen. Dafür biete ich meine
Zusammenarbeit an.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die Bundesregierung hat nun das Wort Herr Bundesminister
Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der FDP)
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesminister
der Verteidigung:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist erfreulich und gut, dass der 20. Jahrestag
des Mauerfalls Gelegenheit gibt, den Blick auch auf die
außen- und sicherheitspolitische Dimension dieses großen
Ereignisses zu richten. Herr Kollege Westerwelle,
Sie haben den Bezug bereits hergestellt, der gestern Anlass
gegeben hat, vielen zu Recht zu danken: vielen Partnern
und jenen unserer Landsleute, die größten Mut und
Zivilcourage an den Tag gelegt haben, jenen, die damals
im unfreien Teil Deutschlands die Ketten der Diktatur
gesprengt haben. Herr Vaatz, ich darf auch von meiner
Seite in diesem Zusammenhang noch einmal sagen: Das
war heute eine bemerkenswerte Rede von Ihnen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es ist aber auch ein Grund, noch einmal an dieser
Stelle Dank zu sagen an die Partner und Freunde der
atlantischen Allianz, und zwar nicht nur für deren diplomatische
Klugheit. Die Partner haben durch ihr Vertrauen
– ich unterstreiche das Wort Vertrauen zweimal –
das Geschenk der Einheit in Freiheit erst möglich gemacht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Gerade das gemahnt uns an einen Grundpfeiler, an ein
Grundverständnis des Bündnisses als solches, nämlich
dass Solidarität und Vertrauen niemals nur in eine Richtung
weisen dürfen. Manche, die heute die NATO bereits
in ihrer Begründung lautstark infrage stellen – die soll es
ja geben –,
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Auch leise!)
und auch manche, die sie beerdigen wollen, können sich
in diesem Zusammenhang bestenfalls auf Vergessen berufen.
Allzu oft sind es genügsam zelebrierte Undankbarkeit
und Ignoranz
(Widerspruch bei der LINKEN)
gegenüber erfahrenem Vertrauen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD – Dr. Diether
Dehm [DIE LINKE]: Danke!)
In dieser Hinsicht ist Vertrauen niemals Nostalgie, sondern
weiterhin das Fundament jeder Bündnisstruktur, jeder
erneuerten Bündnisstruktur, aber auch jeder zu erneuernden
Bündnisstruktur.
Die Bundeswehr hat vor 1989 im Kalten Krieg den
Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik Deutschland
möglich gemacht. Sie hat unsere Bereitschaft dokumentiert,
die Freiheit, wenn es darauf ankommt, zu verteidigen,
wobei Freiheit nicht alleine an nationalen Grenzen
zu bemessen ist und weiterhin auch nicht allein daran bemessen
werden kann.
Die Bundeswehr hat ihren Anteil am Gelingen der
Wiedervereinigung. Schon bald nach dem 3. Oktober
1990 hat sie bewiesen, dass auch sie ihren Teil zur inneren
Einheit unseres Vaterlandes beitragen konnte. Die
Bundeswehr hat seitdem in vielen internationalen Einsätzen
gezeigt, dass sie bereit ist, sich der durch die Wiedervereinigung
gewachsenen internationalen Verantwortung
unseres Landes zu stellen; das ist kein Widerspruch,
sondern durchaus eine innere Bedingung. Die Bundeswehr
leistet den Beitrag, den unsere Verbündeten und
Partner zu Recht von uns erwarten. Manche, die ihr dies
heute absprechen, haben offenbar vergessen, welchen
auch militärischen Beitrag wir von unseren Partnern genau
zu dem Zeitpunkt, als es darauf ankam, erwarten
konnten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
des Abg. Hans-Ulrich Klose [SPD])
Dieses Grundverständnis ist eine wesentliche Voraussetzung,
um unserem eigenen Anspruch gerecht zu werden,
ein gestaltendes und solidarisches Mitglied in der
internationalen Staatengemeinschaft zu sein und damit
dem Frieden in der Welt zu dienen; ja, dem Frieden,
nicht dem Schüren und der Aufrechterhaltung von Konflikten
und auch nicht der Billigung solcher Konflikte
dadurch, dass man sich genügsam zurücklehnt, in ferne
Regionen dieser Welt blickt und einfach sagt: Was geht
uns all das dort eigentlich an? – In der Regel geht es uns
mittlerweile viel an.
Meine Damen und Herren, nur ein Staat, der über die
Fähigkeit verfügt, sich zu wehren, ist in der Lage, seine
Bürger zu schützen und seinen Bündnisverpflichtungen
nachzukommen. In diesem Zusammenhang sage ich
aber auch: Ein Schutzverständnis, das nur die eigenen
Landesgrenzen kennt, würde jene verhöhnen, auf deren
Schutz wir in Zeiten, als es nicht leicht war, bauen durften.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]:
Das Römische Reich zum Beispiel!)
Unsere Partner wissen – das dürfen sie auch weiterhin
wissen –: Wir stehen zu unseren Verpflichtungen.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Und zu unserem
Grundgesetz! – Gegenruf des Abg.
Volker Kauder [CDU/CSU]: Für diesen Hinweis
brauchen wir Sie nicht, Herr Kollege!)
– Das Grundgesetz schafft hierfür Voraussetzungen. –
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Im Grundgesetz
steht dazu doch etwas ganz Eindeutiges
drin!)
Diese Verpflichtungen – auch die Basis des Grundgesetzes,
die ihnen zugrunde liegt – haben Ergebnisse gezeitigt,
über die man nicht schweigen muss. Auf dem Balkan
haben auch wir unseren Beitrag dazu geleistet, dass
der grauenvolle und blutige Bürgerkrieg der 90er-Jahre
beendet werden konnte. In Bosnien-Herzegowina herrschen
zumindest Frieden und eine gewisse Stabilität,
auch wenn wir mit dem Erreichten noch nicht in jeder
Hinsicht zufrieden sein können. Einige nicht erfolgte
Entwicklungen geben gelegentlich auch Anlass zu Sorgenfalten,
gerade wenn man in diese Region blickt.
Im Kosovo haben wir es gemeinsam mit unseren Verbündeten
geschafft, dass letztendlich auf friedlichem
Wege ein unabhängiger Staat geschaffen werden konnte.
Er bleibt noch auf Hilfe angewiesen – das ist richtig –
und hat noch einen harten Weg vor sich. Aber aufgrund
unserer Erfolge im Rahmen der NATO haben wir unsere
militärische Präsenz dort deutlich verringern können.
Auch die Verringerung militärischer Präsenz ist letztendlich
eine Zielsetzung, wenn man sie an solche Erfolge
knüpfen kann.
Meine Damen und Herren, auch UNIFIL ist eine Erfolgsgeschichte.
Es schadet nicht, am Tag nach dem anderen
9. November daran zu erinnern, dass wir im Hinblick auf
den Schutz und die Sicherheit Israels auf ganz besondere
Weise in der Pflicht stehen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
In Afghanistan sind wir noch nicht am Ziel. Eigentlich
wäre und ist dieses Ziel klar formuliert: Wir wollen,
dass die Afghanen eines nicht allzu fernen Tages – ja, eines
nicht allzu fernen Tages – in der Lage sind, selbst für
ihre Sicherheit zu sorgen.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das sagen Sie alle Jahre wieder!)
– Auf diesem Wege, Herr Trittin – –
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Nein, das war der Herr Ströbele!)
– Entschuldigung! Also Herr Ströbele; Herr Trittin ist
schon nach Hause gegangen. Aber die Stimmen gleichen
sich an.
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der FDP – Claudia Roth
[Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ströbele ist unverwechselbar!)
– Die Stimme ist nicht gleich der Schal, Frau Roth!
Auf diesem Wege – das ist unbestreitbar – gab und
gibt es Enttäuschungen. Gemeinsam mit unseren Verbündeten
wollen wir – die Frau Bundeskanzlerin hat darauf
hingewiesen – auf einer baldmöglichst stattfindenden
Konferenz unsere Strategie zusammen mit den Vertretern
Afghanistans, aber auch – das ist zwingend – in
Abstimmung mit Vertretern der Nachbarstaaten auf eine
neue Grundlage stellen. Es geht darum, die Zuständigkeiten
schrittweise von der internationalen Gemeinschaft
auf die afghanische Regierung zu übertragen, sobald
diese dazu in der Lage ist. Gerade deshalb drängen wir
darauf, dass die Regierung von Präsident Karzai schon
bald und mit mehr Nachdruck die Voraussetzungen dafür
schafft, dass dies erfolgen kann.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
In diesem Gesamtkontext wollen wir in ausgewählten
Distrikten im Norden des Landes die Verantwortung für
die Sicherheit baldmöglichst der afghanischen Regierung
übergeben.
Die Frage der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte
– ich denke dabei an die Ausbildung der Polizei
wie der Armee – bleibt eine Schlüsselfrage. Deshalb
dürfen wir jetzt bei der Ausbildung nicht
nachlassen. Wir befinden uns bereits in einem Übergabeprozess.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wo denn?)
– Der ist schon im Gange. – Mit unserer Strategie der
Übergabe in Verantwortung nehmen wir die afghanische
Regierung in die Pflicht, und wir werden nicht aufhören,
die afghanische Regierung an diese ihre Pflicht zu erinnern.
Am 19. November 2009 wird Präsident Karzai erneut
in sein Amt eingeführt werden.
(Zuruf von der LINKEN: Demokratisch gewählt!)
– Ja. Aber lassen Sie mich einmal ausreden! – Das ist
eine gute Gelegenheit für ihn, zu verdeutlichen, wie er
seiner Verpflichtung zu guter Regierungsführung und
zum Schutz der Menschenrechte nachkommen sowie
wie er Drogenkriminalität und Korruption erfolgreich
bekämpfen will.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Man muss nicht alles auf die internationale Gemeinschaft
übertragen. Wir rufen den afghanischen Partnern
freundschaftlich, aber mit aller Klarheit zu: Worte genügen
nicht zur Verdeutlichung; den Worten müssen Taten
folgen. Wir können unser Ziel in Afghanistan gerade mit
Blick auf Übergabe in Verantwortung, so glaube ich,
durchaus erreichen. Dies erfordert jedoch, dass wir alle
Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, auf dieses
Ziel ausrichten und sie erfolgreich zum Einsatz bringen.
Auch hier haben wir noch Nachbesserungsbedarf. Dabei
denke ich nicht nur an den Einsatz der Streitkräfte.
Es bleibt richtig, die ressortübergreifenden Anstrengungen
zu bündeln, und es ist nach meiner Überzeugung
richtig, ein internationales Afghanistankonzept mit konkreten
Zeit- und Zielvorgaben umzusetzen. Der im Koalitionsvertrag
vereinbarte Kabinettsausschuss der für
Afghanistan verantwortlichen Bundesminister und die
entsprechend ausgestaltete Position des Sonderbotschafters
für Afghanistan sind wichtige Schritte.
Unsere Soldaten und die Soldaten unserer Partner
– vergessen wir nicht: 43 Nationen stellen Truppen für
die ISAF –, genauso aber die afghanischen Sicherheitskräfte
nehmen ein hohes Risiko auf sich, und sie zahlen
einen hohen Preis. Sie stehen häufig in zum Teil intensiven
Gefechten. Gefahr, Verwundung und auch Tod sind
allgegenwärtig. Meine Damen und Herren, das dürfen
wir nicht mit bürokratischen Formeln weichzeichnen.
Ich plädiere dafür, zu sagen, was ist, schlicht und einfach.
Die Menschen in unserem Lande können mehr
Wahrheit vertragen, als wir uns bisweilen trauen, ihnen
zuzutrauen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
Mehr noch sind es unsere Soldatinnen und Soldaten, die
zu Recht verlangen, dass ihr Einsatz realistisch beschrieben
wird, ohne jede Beschönigung, aber auch ohne jede
Übertreibung. Ich kann gut verstehen, dass unsere Soldaten
– aber es sind ja nicht nur unsere Soldaten – angesichts
der kriegsähnlichen Situation etwa in Kunduz von
Krieg sprechen. Ein klassischer Krieg ist es nicht. Das
Völkerrecht ist hier glasklar: Kriege können nur zwischen
Staaten geführt werden.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Dann muss
man aber den Oberst verurteilen!)
– In Teilen von Afghanistan herrscht für mich aber ohne
Zweifel ein Zustand, um vielleicht auch einmal diesen
Zwischenruf aufzugreifen, der in der Sprache des Völkerrechts
durchaus als ein nicht internationaler bewaffneter
Konflikt beschrieben werden könnte.
Im Einsatz werden unsere Soldaten immer wieder unter
extremem Zeitdruck und enorm belastenden Umständen
vor schwierigste Entscheidungen gestellt. Das war
auch am 4. September dieses Jahres in Kunduz der Fall,
als in kurzer Zeit eine Entscheidung von enormer Tragweite
getroffen werden musste. Wie leicht doch heute
manches Urteil von den Lippen geht, das ohne jeglichen
Zeitdruck bequem aus der wohligen Entfernung gebildet
werden kann.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich habe vor Kurzem eine Einschätzung dieses Vorfalls
abgegeben, und ich bleibe bei dieser Einschätzung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Koalitionspartner haben sich für die nächsten
Jahre viel vorgenommen, gerade auch hinsichtlich der
Strukturen der Bundeswehr. Wir haben uns ein ehrgeiziges,
ja, ein ambitioniertes Programm gegeben, damit
die Bundeswehr die herausfordernden Aufgaben annehmen
und ihnen gerecht werden kann.
Wir wollen, dass das Denken vom Einsatz her die Organisations-
und auch die Führungsstrukturen der Bundeswehr
künftig noch stärker durchdringt, ein Denken,
das dann realitätsgebunden ist. Die Bundeswehr befindet
sich in Einsätzen, und es werden nicht ihre letzten sein.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aha!)
Ob sie nun gewünscht oder gelegentlich zu Recht auch
unerwünscht sind: Auch das gilt es offen anzusprechen.
Auch deshalb und gerade, weil dieses Denken vom
Einsatz her sich in den Organisationsstrukturen widerzuspiegeln
hat, werde ich eine Kommission einsetzen, die
bis Ende 2010 Vorschläge zu Eckpunkten einer neuen
Organisationsstruktur der Bundeswehr inklusive der
Straffung der Führungs- und Verwaltungsstrukturen zu
erarbeiten hat. Es geht dabei nicht um eine Neuauflage
der Kommission „Gemeinsame Sicherheit und Zukunft
der Bundeswehr“ aus dem Jahre 2000.
Wir wollen dort Anpassungen vornehmen, wo die
Bundeswehr noch schlanker, noch effizienter, noch einsatzorientierter
werden kann, und wir wollen – auch das
ist ehrgeizig; ich weiß das – auch Abläufe von bürokratischen
Fesseln befreien. Dazu wird die dann sicherlich
geplagte Kommission Vorschläge ausarbeiten, und auf
dieser Grundlage werde ich entscheiden.
Meine Damen und Herren, die Stärke der Bundeswehr
bemisst sich nicht lediglich an der Zahl der Schiffe,
der Panzer oder der Flugzeuge.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Auch der
Soldaten!)
Es sind die Soldatinnen und Soldaten und die zivilen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die Bundeswehr so
leistungsfähig machen und die, ebenso ihre Familien,
unseren Dank verdient haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
Nicht zuletzt wollen wir, dass der Dienst in der Bundeswehr
im Wettbewerb um die besten Köpfe – auch
hier findet er ja statt – noch attraktiver wird. Es ist mein
Ziel, dass die Gesellschaft diesen Dienst auf angemessene
Weise würdigt. Das Verhältnis zwischen Bundeswehr
und Gesellschaft ist und kann keines der
Ausgrenzung sein, es muss eines des Miteinanders sein.
In diesem Zusammenhang will ich meinem Vorgänger
Franz Josef Jung gerade für seine großen Leistungen in
diesem Bereich auch einmal an dieser Stelle herzlich
danken. Herzlichen Dank!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
In diesem Sinne verstehe ich die mittlerweile doch intensiv
debattierte Kürzung des Wehrdienstes auf sechs
Monate, die in dem auch in diesem Sinne ehrgeizigen
Koalitionsvertrag vorgesehen ist, trotzdem auch als
Chance.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Na ja!)
– Ich glaube, meine Betonung war klar.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja!)
Wir werden den Grundwehrdienst so zu gestalten haben,
dass die Soldaten spüren, dass sie gebraucht werden und
nicht im Praktikum stehen und noch dazu einen attraktiven
und sinnvollen Dienst für sich und ihre Mitbürger
leisten. Das ist eine enorme Aufgabe, die wir in einem
entsprechenden Zeitrahmen in Angriff nehmen müssen.
Ich glaube aber, dass sie darstellbar ist.
Es gehört zu unserer gemeinsamen Verantwortung für
die Bundeswehr, ihren Angehörigen einen attraktiven
Arbeitsplatz zu bieten. So sichern wir nachhaltig die personelle
Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Dabei spielt
die Frage der Versetzungshäufigkeit ebenso wie ein
neues Laufbahnrecht eine wesentliche Rolle. Darüber hinaus
sollen die Angehörigen der Angehörigen der Bundeswehr,
die Familien, davon profitieren, dass wir die
Vereinbarkeit von Familie und Dienst noch stärker in
den Blick nehmen und zeitgemäße Kinderbetreuungsmöglichkeiten
schaffen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Soldaten der Bundeswehr haben geschworen, der
Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das
Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu
verteidigen. Mit diesem Eid muten wir ihnen viel, sehr
viel zu. Wir muten ihnen zu, sich der Gefahr zu stellen.
Wir muten ihnen im äußersten Fall sogar zu, ihr Leben
für uns zu opfern. Dieser Eid verpflichtet aber auch uns,
die Bundesregierung und den Bundestag. Er verpflichtet
uns, das zu tun, was in unserer Macht steht, um das Risiko,
das unsere Soldaten tragen, so gering wie nur irgend
möglich zu halten. Auch in Zeiten knapper Kassen
übernehmen wir, wenn wir die Bundeswehr in ihre bisweilen
gefährlichen Einsätze entsenden, die Verpflichtung,
ihr das zur Verfügung zu stellen, was sie für die
Ausfüllung ihres Auftrages und für einen größtmöglichen
Schutz der Soldaten benötigt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Das ist unsere Pflicht und unsere Schuldigkeit.
Für ein Bekenntnis zu unserer Bundeswehr, auch und
gerade zu einer solchen im Einsatz, muss man sich in
diesem Lande nun wirklich nicht schämen.
Herzlichen Dank.
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
der FDP)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Gehrcke
für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich gebe zu, dass der Blick auf die Regierungsbank,
so wie sie heute aussieht, gewöhnungsbedürftig ist. Ich
möchte bezweifeln, dass ich mich gerne daran gewöhne.
Ich gebe auch zu, dass der Blick auf die drei Minister,
die jetzt zusammen Außenpolitik betreiben wollen, aber
auch die Töne, die sie von sich gegeben haben, mehr als
gewöhnungsbedürftig sind. Wir werden uns daran nicht
gewöhnen.
(Beifall bei der LINKEN)
Dieses Trio infernale wird die Politik in Deutschland
nicht auf diese Art und Weise umgestalten können.
(Hellmut Königshaus [FDP]: Sie bleiben deutlich
unter Ihrem Niveau!)
Ich fand das Angebot von Herrn Westerwelle attraktiv;
er ist jetzt nicht mehr da. Meine Fraktion wird sein
Angebot einer Zusammenarbeit so annehmen: Wir werden
harten Widerspruch leisten, wo er notwendig ist.
Das ist in fast allen Bereichen der Außenpolitik der Fall.
Hier muss harter politischer Widerspruch erhoben werden.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Ich fand es sehr verständlich, dass viele Kolleginnen
und Kollegen, darunter die Kanzlerin und der Außenminister,
ihre Reden in einen geschichtlichen Kontext
eingeordnet und einen Wertebezug hergestellt haben. Ich
teile jedoch die Inhalte nicht. Es sind verschiedene
Werte genannt worden: die Westbindung der Republik,
die soziale Marktwirtschaft – es wäre schön, wenn wir
sie hätten –, die Wiederbewaffnung und vieles andere
mehr. Diese Werte sollten aus meiner Sicht nicht bestimmend
sein; ich habe einen anderen Wertekatalog. Mir ist
aufgefallen – das finde ich schlimm und bedauerlich –,
dass in der gesamten Auseinandersetzung mit der Geschichte
nach 1945 und mit den Werten kein einziger
Regierungsvertreter den Grundwert erwähnt hat, den wir
zu verteidigen haben: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!
(Beifall bei der LINKEN)
Es ist augenfällig, dass diese Aussage nicht gekommen
ist, dass nicht so argumentiert worden ist.
Es ist völlig richtig. Wir hatten ein gemeinsames
Grundverständnis: Von deutschem Boden darf nie wieder
Krieg ausgehen. Dieses Grundverständnis ist gebrochen
worden, und zwar bedauerlicherweise – darüber
kommt man nicht hinweg – von einer SPD-grünen Bundesregierung.
Der Krieg gegen Jugoslawien war der Beginn
des Paradigmenwechsels der deutschen Außenpolitik.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Er ist fortgesetzt worden mit dem, was man mit der indirekten
Unterstützung des Irakkriegs fabriziert hat. Es ist
auch gut, einmal daran zu erinnern, dass diese Bundeskanzlerin
deutsche Soldaten in den Irakkrieg schicken
wollte. Bitte vergessen Sie das nicht, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Das Grundverständnis ist auch im Afghanistankrieg
gebrochen worden. Der Kollege zu Guttenberg hat zu
Recht gesagt, man solle nicht um die Dinge herumreden.
Dann lassen Sie es uns hier aussprechen: Deutschland
führt Krieg am Hindukusch. Deutschland wird nicht am
Hindukusch verteidigt. Das ist untergeschoben worden,
um Art. 26 des Grundgesetzes auszuweichen. Deutschland
führt Krieg am Hindukusch, und dieser Krieg wird
immer mehr zu einem Angriffskrieg. Darum werden Sie
nicht herumkommen.
Das stellt Sie jetzt vor rechtliche Probleme. Was passiert
mit dem Oberst? Wir sind kein Gericht. Wir haben
uns hier nicht über Urteile zu äußern. Was passiert mit
dem Oberst? Wenn er nach deutschem Recht behandelt
wird, dann wird er sich der Frage stellen müssen, ob es
Totschlag war, als 142 Menschen umgekommen sind.
(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Sie
haben doch gerade gesagt, Sie sagen nichts
dazu!)
Wenn er nach internationalem Recht bzw. nach Kriegsvölkerrecht
behandelt wird, ist es eine andere Kategorie.
Wir ziehen daraus nur eine Schlussfolgerung: Der Krieg
muss beendet werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Das Ende des Krieges beginnt auch damit, dass die deutschen
Truppen aus Afghanistan abgezogen werden.
Auch mit den ganzen Verrenkungen kommen Sie um
die Frage nicht herum. Ich habe es mir extra aufgeschrieben:
Herr zu Guttenberg sprach von einem „nicht-internationalen
bewaffneten Konflikt“, sein Vorgänger von
einem „robusten Stabilisierungseinsatz“. Es ist aber ein
Krieg. Das Nein zu diesem Krieg ist notwendig. Ansonsten
wird dieser Krieg Ihrer Außenpolitik wie ein Klotz
am Bein hängen.
Im Übrigen sollten Sie Ihren Koalitionsvertrag noch
einmal darauf überprüfen, was verfassungskonform ist.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Was?)
– Sie bzw. Ihre Mitarbeiter, Herr Kauder, haben in den
Koalitionsvertrag hineingeschrieben, dass die Bundeswehr
ein Instrument der deutschen Außenpolitik ist.
(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]:
Genau!)
Das hätte Herr zu Guttenberg gerne, weil er auch ganz
gerne Außenpolitik macht. Das glaube ich Ihnen ja. Aber
das entspricht nicht dem deutschen Grundgesetz. Das ist
grundgesetzwidrig.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir werden hier über die internationale Afghanistankonferenz
zu diskutieren haben. Auch hierzu sage
ich Ihnen: Wer das auf eine Initiative Merkel / Sarkozy
beschränken will, tut einer solchen Konferenz Unrecht.
Wir brauchen eine internationale Afghanistankonferenz
unter dem Dach und der Verantwortung der UNO.
Nichts anderes brauchen wir.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Ich weiß, dass Sie die Frage, ob Sie mehr Truppen
entsenden, erst nach der Konferenz beantworten wollen.
Sie benutzen die Konferenz auch ein bisschen, um die
entsprechende Stimmung dafür zu schaffen. Deswegen
sagen Sie, dass Sie jetzt bei der Mandatsverlängerung
erst einmal im Rahmen des Mandates bleiben. Ich sage
Ihnen: Wir müssen als Bundestag überprüfen, ob wir
nicht ein anderes Signal setzen sollten. Ich glaube, eine
kopflose Verlängerung der bestehenden Mandate gefährdet
Afghanistan und auch die deutschen Soldatinnen und
Soldaten.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Ich möchte abschließend etwas zu der sehr schönen
Formulierung einer wertegebundenen und interessengeleiteten
Außenpolitik im Koalitionsvertrag sagen. Ich
habe als Linker Erfahrung damit, wenn man Politik ideologisiert.
Dabei kommt meistens Unsinn heraus. Was Sie
als wertegebunden und interessengeleitet vorstellen, ist
eine Ideologisierung der deutschen Außenpolitik.
Dann fangen Sie an, die Werte zu beschreiben. Das
müssen Sie auch zu Ende denken. Sie schreiben in diesem
Abschnitt, dass der Kern des Begriffs „wertegebunden“
die Idee der westlichen Werte ist. Erklären Sie mir
doch einmal, was für Sie die westlichen Werte sind! Wie
wollen Sie in den Vereinten Nationen, die gerade auf
Wertevielfalt und kultureller Vielfalt beruhen, die westlichen
Werte durchsetzen? Das sollten Sie einmal der
Mehrheit der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen als
politisches Konzept anbieten. Dann können Sie sich Ihren
Platz im Weltsicherheitsrat gleich abschminken; der
ist sowieso weg.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich habe vor, den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages
zu bitten, eine wissenschaftliche Ausarbeitung
vorzunehmen, was man unter westlichen Werten versteht.
Ich möchte wissen, was Sie durchsetzen wollen.
Im Koalitionsvertrag äußern Sie sich nicht genauer dazu.
Der einzige Wert, auf den Sie durchgehend hinweisen,
ist die freiheitliche Ordnung der Weltwirtschaft, das
heißt die Ordnung der Märkte sowie der Zugang zu
Märkten und Profiten. Das ist für mich als Werteorientierung
für dieses Parlament und unser Land zu wenig.
Schönen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat das Wort der Kollege Omid Nouripour für die
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter
Herr Verteidigungsminister Guttenberg. Nach dieser
Rede war versucht, zu sagen: Herr Außenminister
Guttenberg. Sie haben nun ein neues Amt in dieser Regierung.
Ich möchte Ihnen im Namen meiner Fraktion zu
diesem Amt gratulieren. Wir wollen Sie gerne unterstützen
und mit Ihnen zusammenarbeiten. Allerdings werden
wir Sie nicht an Ihren Worten und Reden, sondern
an Ihren Taten messen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir wissen, dass der Schwerpunkt Ihrer Amtsführung
die Auseinandersetzung in Afghanistan sein wird. In
diesem Zusammenhang kann ich nur begrüßen, dass Sie
die vielen Verrenkungen Ihres Vorgängers um die sogenannte
K-Frage ein Stück weit klargestellt und Platz für
relevante Fragen geschaffen haben. Die relevanten Fragen
ergeben sich natürlich auch aus Ihrer Terminologie.
Was bedeutet die Feststellung, dass kriegsähnliche Zustände
in Afghanistan herrschen, für die Rechtsgrundlage
des Einsatzes? Was bedeutet das für die Soldatinnen
und Soldaten sowie ihre Familien? Was bedeutet das für
die Ausrüstung? Was bedeutet das – das ist die zentrale
Frage – für den lebensnotwendigen zivilen Aufbau in
Afghanistan? Darüber müssen wir im Parlament diskutieren,
auch im Vorfeld von internationalen Konferenzen.
Ich hoffe, dass die anstehende Konferenz mehr
bringt als so manch andere, die wir in der Vergangenheit
zum Thema Afghanistan erlebt haben. Das Parlament ist
jedenfalls der Ort der Auseinandersetzung. Ich verspreche
Ihnen daher: Jegliche Versuche der Koalition, die
Rechte des Parlamentes bei der Beteiligung an Auslandseinsätzen
zu beschneiden, werden auf härtesten Widerstand
meiner Fraktion stoßen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wir brauchen hier im Parlament eine Diskussion, weil
eine Abzugsperspektive notwendig ist; das haben Sie selber
gesagt. Eine solche Perspektive können wir nur mit
einer offenen Diskussion schaffen. Eine solche Diskussion
muss mit dem Vorfall am 4. September 2009 in Kunduz
beginnen. Sie kann aber nur stattfinden, wenn wir
eine Grundlage dafür haben. Das kann nur ein von Ihnen
vorgelegter Bericht sein, da die NATO die entsprechenden
Papiere nicht herausgibt. Wir befinden uns in der absurden
Situation – das muss man sich einmal vorstellen –:
Gestandene Parlamentarier, die den Bericht gelesen haben,
dürfen sich im Verteidigungsausschuss darüber nicht
miteinander unterhalten, während der deutsche NATOGeneral
Egon Ramms in der Öffentlichkeit die heiklen
Punkte einen nach dem anderen erörtert. Das geht so
nicht. Diese Situation wird diesem Hause nicht gerecht,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wenn er mit den Punkten, die er angesprochen hat,
recht hat – ich habe keinen Anlass, dies zu bezweifeln –,
dann geht das, was Sie, Herr Minister, gesagt haben,
nicht mehr. Sie haben – auch das begrüße ich als wichtige
Abkehr von der Politik Ihres Vorgängers – Regelverstöße
eingeräumt und zugegeben, dass es zivile Opfer
gegeben hat. Aber die Aussage, die Regelverstöße seien
nicht so wichtig, weil das Ergebnis am Ende sowieso das
gleiche gewesen wäre, bagatellisiert zentrale Regeln der
Operationsführung, die zur Vermeidung ziviler Opfer
aufgestellt worden sind. Deshalb kann ich nur sagen: So
geht es leider nicht, Herr Minister.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie haben es zwar leicht, sich von Ihrem Vorgänger
abzusetzen, was die Initiativkraft betrifft. Sie haben es
aber schwer, wenn es darum geht, den Koalitionsvertrag
umzusetzen; denn er ist rückwärtsgewandt, ideenlos und
vor allem widersprüchlich.
Beispiel Wehrpflichtverkürzung auf sechs Monate.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja!)
Die Liberalen sind eingeknickt. Es hat sich die alte Ideologie
durchgesetzt, und deshalb dürfen wir die Wehrpflicht
als kostspielige Hommage an den Kalten Krieg
weiterbehalten. Sechs Monate:
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Oh!)
Drei Monate Grundausbildung, zwei Monate Fachausbildung
– das macht fünf Monate –, ein Monat Fachdienst
und ein Monat Urlaub – das sind keine sechs Monate.
Ich verstehe gar nicht, wie Sie gerechnet haben. Ich
bin sehr gespannt, wie Sie da herauskommen wollen.
Hier haben wir eine dreifache Verschwendung, wenn wir
die Wehrpflicht von sechs Monaten nicht abschaffen. Sie
ist militärisch komplett sinnlos: Wir verschwenden militärisches
Personal bei der Ausbildung, wir verschwenden
Steuermittel der Bürgerinnen und Bürger, und wir
verschwenden vor allem Lebenszeit von jungen Menschen.
Das muss einfach nicht sein. Die Wehrpflicht gehört
abgeschafft.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich komme jetzt zum Schluss. Ich habe noch einige
andere Beispiele. So kommt im Zusammenhang mit der
Abrüstung das Wort „Kleinwaffen“ überhaupt nicht im
Koalitionsvertrag vor.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ein zentraler Punkt!)
Kleinwaffen sind aber etwas, über das ein renommiertes
Institut in Bonn sagt, das seien die Massenvernichtungswaffen
des 21. Jahrhunderts. Beim Thema Nukleartechnologie
sagen Sie „Keine neuen Atommächte!“, aber Sie
geben weiterhin Hermesbürgschaften für den Export von
Nukleartechnologie. Anscheinend hat man am Beispiel
des Iran nicht gesehen, dass es von militärischer und ziviler
Nutzung zu ein Katzensprung ist.
Herr Minister, es gibt einiges für Sie zu tun. Wir werden
sehr genau hinschauen, ob dieser Koalitionsvertrag
etwas ist, mit dem Sie sich befassen, oder ob Sie tatsächlich
eine ganz neue Politik werden entwickeln müssen.
Ich glaube, so wird es kommen. Wir sind sehr gespannt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Elke Hoff
das Wort.
(Beifall bei der FDP)
Elke Hoff (FDP):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Ich darf die Gelegenheit nutzen, Herrn Minister zu
Guttenberg für seine in hohem Maße angemessene und
zutreffende Rede zu danken, die er heute hier unmittelbar
nach der Feierlichkeit, die wir gestern in Berlin verfolgen
und miterleben konnten, gehalten hat, weil ich der
festen Überzeugung bin, dass gerade die Bundeswehr
nicht nur Ausdruck der Souveränität der Bundesrepublik
Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geworden ist,
sondern eben auch ein Symbol für die erfolgreiche, gelungene
Wiedervereinigung der beiden getrennten
Deutschlands. Ich denke, dass gerade hier die Bundeswehr
eine besondere Leistung erbracht hat, für die ein
umfassender und gebührender Dank notwendig ist.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD)
Es haben heute schon eine Reihe von Vorrednern den
Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ganz ausdrücklich
für ihre Auslandseinsätze gedankt, für ihren
Einsatz von Leib und Leben, für die Angst und die Sorge
der Familien. Ich möchte dieses natürlich auch für die
FDP-Fraktion wiederholen und um einen Aspekt erweitern,
gerade aufgrund der aktuellen Ereignisse, die zurzeit
in Afghanistan die Herzen und Köpfe auch unserer
Verbündeten bewegen. Wir haben in der vergangenen
Woche erleben müssen, dass bei einer Ausbildung von
afghanischen Polizisten britische Soldaten ermordet
worden sind. Ich glaube, dass wir uns von dieser Stelle
als Verbündete an die britischen Kolleginnen und Kollegen
und an die britischen Familien wenden und dafür
danken sollten, dass sie unter diesen schwierigen Umständen
Leib und Leben einsetzen, damit Afghanistan
stabiler und in die Lage versetzt wird, für die eigene Sicherheit
zu sorgen. Ich denke, das ist auch ein Ausdruck
von Bündnissolidarität an dieser Stelle.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Ich glaube, dass der Koalitionsvertrag, den wir gemeinsam
mit unseren Kolleginnen und Kollegen von der
Union beschlossen haben, im sicherheitspolitischen Bereich
gerade auch mit Fokus auf die Bundeswehr ein guter
ist. Es wird sehr deutlich, dass uns allen daran gelegen
ist, dass die Bundeswehr in Zukunft eine moderne
und eine leistungsfähige Armee wird, die in der Lage ist,
die durch das Parlament gestellten Aufgaben zu erfüllen.
Ich kann weder Herrn Erler noch den Kollegen
Nouripour verstehen, dass sie in irgendeiner Form daran
zweifeln, dass das Parlamentsbeteiligungsgesetz ausgehöhlt
werden soll. Das Gegenteil ist der Fall.
(Beifall bei der FDP – Claudia Roth [Augsburg]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann
ist ja gut!)
Für alle Fälle, die auftreten können – insbesondere
wenn Gefahr im Verzug ist; ich kann mich sehr gut an die
Diskussionen über den Einsatz der NATO-Response-
Force oder der EU-Battle-Group erinnern; es hieß, das
Parlament könne nicht schnell genug reagieren –, soll ein
Gremium geschaffen werden, das in solchen Situationen
unverzüglich dafür sorgt, dass der Deutsche Bundestag
informiert wird. Ich denke, dass man hier von einer Einschränkung
oder Aushöhlung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes
nicht reden kann.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Man kann bei näherem Studium des Koalitionsvertrages
feststellen, dass es im Bereich der Afghanistanpolitik
durchaus eine Wende gibt; denn zum ersten Mal steht
ausdrücklich in einem Koalitionsvertrag – ich darf an
dieser Stelle zitieren –:
Wir bekennen uns zum Ansatz einer Vernetzten
Sicherheitspolitik. Dies erfordert moderne und leistungsfähige
Streitkräfte und geeignete zivile Instrumente
zur internationalen Konfliktvorsorge und -bewältigung
sowie eine noch engere Integration und
Koordinierung. In künftige Mandate für Einsätze im
Ausland werden wir konkrete Benennungen der zu
leistenden Aufgaben sowie deren Zuteilung auf die
verantwortlichen Ressorts aufnehmen.
Ich halte dies für einen hervorragenden Ansatz. Dadurch
haben wir hier im Parlament die Gelegenheit, über diese
konkreten Benennungen zu diskutieren und letztendlich
auch darüber zu entscheiden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Seitdem die Bundeswehr an internationalen Einsätzen
teilnimmt, also seit etwa 15 Jahren, haben rund
300 000 Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst dort getan.
Zurzeit tun pro Jahr rund 60 000 bis 70 000 Soldatinnen
und Soldaten ihren Dienst in den aktuellen Auslandseinsätzen.
Herr Minister, ich kann Ihnen nur
zustimmen: Wir können stolz auf diese Bundeswehr
sein. Sie ist nämlich ein Aushängeschild der Bundesrepublik
Deutschland, auch in ihrer außenpolitischen Darstellung,
wenn es darum geht, an friedensschaffenden,
friedensstiftenden Maßnahmen und an Aufbaumaßnahmen
teilzunehmen.
Wir haben heute sehr viel zu den Ereignissen in Kunduz
gehört. Ich möchte mir an dieser Stelle nicht anmaßen,
über die Situation, in der sich Oberst Klein – den
ich bei meinem letzten Besuch dort im Juni dieses Jahres
kennengelernt habe – befindet, ein Urteil zu erlauben.
Ich finde, dass es uns nicht ansteht, an dieser Stelle über
diese Dinge zu urteilen. Wofür wir aber zu sorgen haben
– das haben auch vergangene Debatten gezeigt –, ist,
dass unsere Soldatinnen und Soldaten Rechtssicherheit
haben und dass für den Fall, dass es zu einer gerichtlichen
Auseinandersetzung kommt, die Gerichte qualifiziert
in der Lage sind, sich mit diesen Sachverhalten auseinanderzusetzen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Das haben wir auch im Koalitionsvertrag so niedergeschrieben.
Ich bin sehr froh darüber, dass es gelungen ist – ich
verweise auf die Leistungen für die Bundeswehr, die wir
in den vergangenen Jahren im Parlament auf den Weg
gebracht haben; ich denke beispielsweise an das Einsatz-
Weiterverwendungsgesetz –, klarzumachen, dass wir
auch andere Schritte gehen wollen: Wir wollen das
Thema „Vereinbarkeit von Dienst und Familie“ in den
Mittelpunkt stellen, und wir wollen die Kinderbetreuung
ausbauen.
Wir wollen aber auch einen anderen Punkt anpacken.
Ich freue mich noch heute, dass es hier im Parlament gelungen
ist, einen gemeinsamen Antrag auf den Weg zu
bringen. Darin wird die Frage behandelt: Wie gehen wir
mit den mittel- und langfristigen Folgen von militärischen
Einsätzen im Ausland für unsere Soldatinnen und
Soldaten um? Dabei geht es um das Thema der posttraumatischen
Belastungsstörung. Wer in den letzten
Wochen die Presse verfolgt hat und sehen konnte, dass
sich insbesondere unsere amerikanischen Verbündeten
mit diesem Thema erheblich beschäftigen müssen – damit
verbunden sind erhebliche Probleme innerhalb der
Truppe –, der kommt sicherlich wie ich zu der Meinung:
Wir haben richtig daran getan, uns mit diesem Thema
möglichst frühzeitig zu befassen. Herr Minister, ich
hoffe, dass es sehr schnell gelingen wird, das, was wir
hier niedergeschrieben haben, in die Realität umzusetzen.
Ich glaube, dass wir innerhalb des Bündnisses dadurch
einen wichtigen Beitrag leisten können, dass wir
die gewonnenen Erkenntnisse zur Verfügung stellen.
Unsere Soldatinnen und Soldaten und deren Familien
müssen wissen, dass sie nicht alleingelassen werden,
wenn wir politisch darüber beschlossen haben, die Bundeswehr
auch als Mittel der Außenpolitik einzusetzen.
Auch das Thema Ausrüstung spielt im Koalitionsvertrag
eine Rolle.
Es ist eben dankenswerterweise von Herrn Minister
zu Guttenberg gesagt worden, dass nur eine gut ausgerüstete
und ausgebildete Armee in der Lage ist, den Auftrag,
den wir ihr politisch erteilen, zu erfüllen. Dazu gehört
auch, die nötigen finanziellen Mittel bereitzustellen,
damit unsere Soldatinnen und Soldaten wissen, dass wir
als Parlamentarier wirklich hinter ihnen stehen und es
unser Ziel ist, sie möglichst wohlbehalten und unversehrt
wieder nach Hause zu bringen. Insofern hat eine
vernünftige Ausrüstung der Bundeswehr nach wie vor
oberste Priorität.
Wir haben in unserem Koalitionsvertrag auch etwas
zu großen Beschaffungsvorhaben gesagt. Hier ist die
Industrie gefordert, ihre Aufgaben zu erfüllen. Ich denke
an das Thema A400M, an das Thema Eurofighter und an
einen weiteren Bereich, der nicht explizit im Koalitionsvertrag
erwähnt wird, nämlich den Zulauf der Hubschrauber.
Hier muss unsere Industrie zeigen, dass sie
wirklich in der Lage ist, die nötigen und angemessenen
Technologien zum richtigen Zeitpunkt zu liefern.
Meine Damen, meine Herren, ich denke, wir als FDPFraktion
haben gemeinsam mit den Kollegen der Union
gezeigt, dass wir bereit sind, im sicherheitspolitischen
Bereich Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung
zu tragen und diese inhaltlich zu füllen. Wir stehen natürlich
für Diskussionen hier im Parlament gerne zur
Verfügung, aber unsere gemeinsame Aufgabe muss es
sein, die inhaltlichen Konflikte, die möglicherweise zwischen
uns bestehen, nicht auf dem Rücken der Soldatinnen
und Soldaten und deren Familien auszutragen. Wenn
ein Mandat diesen Bundestag verlässt, muss es klar sein,
und es muss für die Soldatinnen und Soldaten eindeutig
erkennbar sein, in welche Richtung die Reise gehen soll.
Es darf nicht sein, dass am Ende der Reise Unsicherheiten
innerhalb der Truppe dazu führen, dass wir Politikerinnen
und Politiker unsere Glaubwürdigkeit verlieren.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich weiß, dass Sicherheits- und Verteidigungspolitik
ein schwieriges Thema ist. Es ist sicherlich auch kein
Thema, mit dem man in der Öffentlichkeit sehr viele
Pluspunkte sammeln kann; denn es gilt hier – das hat
Minister zu Guttenberg zu Recht gesagt –, Wahrheiten
zu formulieren. Aber ein Staat, der nicht in der Lage ist,
für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen und in einem
kollektiven Verteidigungsbündnis Verantwortung zu
übernehmen, verfolgt eine falsche Politik. Deswegen
lassen Sie uns versuchen, hier gemeinsam den richtigen
Weg zu gehen.
Ich möchte jetzt, obwohl mich die Präsidentin schon
ermahnt, dass ich die Redezeit überschritten habe, noch
einen Satz zum Thema Wehrpflicht sagen: Ja, bei dem,
was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, handelt
es sich um einen Kompromiss. Ich glaube aber, dass
durch die Reduzierung des Wehrdienstes auf sechs Monate
auch Druck auf die Bundeswehr als Arbeitgeber
und Wettbewerber auf dem Arbeitsmarkt ausgeübt wird,
darüber nachzudenken, ob sie in der Lage ist, mit diesen
Strukturen ihre Ziele zu erreichen. Falls nicht, müssen
wir am Ende der Reise eine Neubewertung vornehmen
und dazu übergehen, uns bei den Formen der Beschaffung
von Nachwuchs für die Bundeswehr neu zu orientieren.
Ich denke, das ist ein offener Prozess.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Omid
Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das ist aber eine subversive Lösung!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Hoff, das war ein sehr langer Satz. Sie wissen,
die Parlamentarischen Geschäftsführer haben sich
darauf geeinigt, Redezeiten zu übertragen, aber gegebenenfalls
auch Minuszeiten anzurechnen. Ich sage das nur
im Interesse ihrer Kolleginnen und Kollegen, die nach
Ihnen reden werden.
Elke Hoff (FDP):
Jawohl, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrten Damen
und Herren, ich freue mich auf die gemeinsame Zusammenarbeit
in der neuen Legislaturperiode. Ich freue
mich auch auf die Zusammenarbeit mit dem neuen Verteidigungsminister.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Rainer Arnold für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Rainer Arnold (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Herr Minister zu Guttenberg, zunächst auch von
unserer Seite die herzlichsten Glückwünsche zu einem
Amt, von dem wir wissen, dass es ein ganz besonders
verantwortungsvolles ist, weil Sie die Verantwortung für
Soldatinnen und Soldaten tragen, die für unser Gemeinwesen
im Zweifelsfall mit ihrem eigenen Leben eintreten.
Weil dem so ist, verdient die Bundeswehr jenseits
unserer unterschiedlichen Aufgaben in Regierung und
Opposition einen gewissen Grundkonsens vonseiten der
Politik. Wir wollen Ihnen ausdrücklich anbieten, diesen
mitzutragen, wenn es um das soziale Gefüge der Streitkräfte,
um die Attraktivität des Dienstes, um modernes
Gerät, das die Soldaten schützt, und um die Prozesse der
Transformation geht. Bei all diesen Feldern wollen wir
Sie parlamentarisch sehr eng begleiten. Wir werden aber
im Zuge dieser Begleitung auch von unseren Rechten als
Opposition sehr engagiert und kreativ Gebrauch machen.
In einem Punkt sind wir allerdings völlig anderer
Meinung: Ihren Beschluss zur Wehrpflicht können Sie
in Ihrem Koalitionsvertrag in die große Kategorie einordnen,
die mit der Überschrift „Murks“ versehen werden
könnte; denn er wird der Aufgabe in keiner Weise
gerecht.
(Beifall bei der SPD)
Dieser Beschluss entzieht der Truppe materielle und finanzielle
Ressourcen und gibt ihr nichts zurück. Er dient
lediglich dazu, aus der Wehrpflicht ein Instrument zur
Nachwuchsgewinnung zu machen. Das ist aber nicht im
Sinne unserer Verfassung.
Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch. Überlegen Sie
sich wirklich einmal, ob wir nicht gemeinsam Freiwilligendienste
in unserer Gesellschaft so attraktiv machen,
dass genügend junge Frauen und Männer sagen: Jawohl,
bei der Bundeswehr leiste ich meinen Dienst an der Gesellschaft.
Aber die größte Herausforderung bleiben natürlich
die internationalen Einsätze der Bundeswehr. Hier
wurde schon einiges zu Afghanistan gesagt, auch mit
Blick auf die aktuelle Debatte zur Bombardierung der
Tanklastzüge und der Menschen in der Nähe dieser
Tanklastzüge. Ich glaube, wir müssen da eine rechtliche
und eine politische Bewertung vornehmen. Zunächst zur
rechtlichen Bewertung: Ich finde es positiv, dass dieser
Vorfall in Karlsruhe bewertet wird und dass dabei möglicherweise
das Völkerstrafgesetzbuch als Maßstab genommen
wird. Ich füge aber hinzu: Dies hat die Justiz
angesichts der Dimension der dortigen Situation entschieden;
es ist nicht vom Minister initiiert worden. Ich
wünsche allen Soldaten und uns, dass daraus mehr
Rechtssicherheit entsteht. Dies wäre ein positiver Weg.
Wir haben großes Verständnis – und hoffen, dass auch
die Juristen das haben – für die schwierige Situation der
Soldatinnen und Soldaten in Kunduz aufgrund des
Drucks und der alltäglichen Bedrohung.
(Elke Hoff [FDP]: Ja!)
Wir haben aber kein Verständnis dafür, wie Sie, Herr Minister,
den ISAF-Bericht interpretieren. Dieser Bericht
ist eindeutig in seiner Sprache. Er ist wahrhaftig umfassend.
(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Haben
Sie ihn gelesen?)
– Natürlich habe ich ihn gelesen, Herr Kollege, beim
besten Willen! Ich habe ihn von Anfang bis Ende gelesen.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Was stand denn drin? Ich möchte
es auch wissen!)
Sie kultivieren hier Ihr Image, Klartext zu reden, und ich
finde es gut, wenn jemand das tut. Aber exakt an dieser
Stelle, wo es sehr ernst wird in diesen Tagen, verfahren
Sie im Grunde genommen wie Ihr Vorgänger Herr Jung.
Auch er hat am Anfang verniedlicht, scheibchenweise
informiert
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das war das Schlimme!)
und zivile Opfer bestritten. Ebenso reden Sie jetzt nicht
Klartext, sondern sagen, es habe Verfahrensfehler gegeben.
Herr Minister, in aller Deutlichkeit: Es gab gravierende
Verstöße gegen die ISAF-Einsatzregeln.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das müssen Sie sagen, wenn Sie die Öffentlichkeit korrekt
informieren wollen. Ich verstehe überhaupt nicht,
wie Sie zu der Einschätzung kommen, dass es mit einer
gewissen Zwangsläufigkeit auch ohne diese Verstöße
zum Abwurf der Bomben gekommen wäre. Das ist
schlichtweg falsch. Wären die Regeln eingehalten worden,
hätte in Kunduz selbst diese Entscheidung nicht
mehr getroffen werden können. Sie hätte nur im ISAF-Headquarter
entschieden werden können. Es gab keine
unmittelbare Bedrohung, und es gab auch keine Truppen
am Boden, die in unmittelbarem Kontakt waren.
Die Debatte ist schwierig und auch unfair gegenüber
der Öffentlichkeit, weil wir den Bericht im Gegensatz
zur Öffentlichkeit kennen. Aber auch die Öffentlichkeit
würde gerne wissen, was dort wirklich los war. Sie erfährt
es aber nicht. Das ist kein guter Zustand. Wir wünschen
uns, dass das geändert wird.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Es bedarf aber auch einer politischen Bewertung des
Einsatzes, und diese ist für uns gravierend. Sie sagten:
Dies war angemessen. – In aller Deutlichkeit: Wir halten
den Abwurf von Bomben auf Menschenansammlungen
in Afghanistan weder für verhältnismäßig noch für angemessen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Das Risiko für Zivilpersonen ist generell latent vorhanden.
Das mussten die amerikanischen Freunde bei solchen
Einsätzen in den letzten Jahren schmerzhaft lernen.
Zum Glück haben sie es gelernt und begriffen. Nun sagen
wir, das sei ein normaler Vorgang. Wir wissen aber
auch, dass die Taliban zivile Opfer provozieren. Gerade
deshalb muss man an dieser Stelle besonders aufpassen.
Herr Minister, wir können keine Strategie mittragen,
die zivile Opfer billigend in Kauf nimmt. Die Zivilbevölkerung
in Afghanistan verdient den gleichen Schutz
und sie hat den gleichen Wert wie die Menschen in
Deutschland und überall auf der Welt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Für die Soldaten der Bundeswehr ist es ein sehr hohes
Gut, dass ihre Mandate eine breite parlamentarische Unterstützung
erfahren. Die Sozialdemokraten werden sich
auch in der Opposition in diesen Fragen nicht einfach
aus der Verantwortung stehlen.
Sie hatten allerdings in dieser Frage keinen guten
Start. Manchmal habe ich den Eindruck, dass manches
Wort, das Sie in die Debatte werfen, ein wenig zu beifallheischend
ist. Dies wird aus unserer Sicht der Komplexität
der Situation in Afghanistan und der Größe der
Herausforderung nicht gerecht. Sie haben bis zur Debatte
über die Afghanistanmandate noch die Chance, die
Opposition einzubeziehen. Sie haben noch die Chance,
zu vermeiden, dass aus Falsch plötzlich Richtig wird,
was nicht sein darf.
Wir bitten Sie also, diese Chance zu nutzen. Unser
Angebot besteht nach wie vor, weil wir wollen, dass Beschlüsse
zu Afghanistan gefasst werden, mit denen die
Debatte nicht vertagt wird. Manchmal habe ich die
Sorge, dass alle nur auf die Afghanistankonferenz warten.
Dies wäre zu spät. Wir brauchen diese differenzierte
Debatte schon in den nächsten Wochen. Unser Rat ist:
Nehmen Sie dabei die Opposition mit. Die Bundeswehr
und ihre Soldaten hätten dies wirklich verdient.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Dr. Christian Ruck für die
Unionsfraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der FDP)
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal möchte ich dem Minister für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – Frau
Staatssekretärin, bitte richten Sie ihm dies aus – zu seiner
Jungfernrede gratulieren. Ich kann jedes Wort, das er gesagt
hat, unterschreiben.
(Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD, der
LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN: Oh! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN]: Aber Christian!)
Er bewegt sich vollkommen auf der Basis des Koalitionsvertrages.
Deswegen kann ich seine Ausführungen
doppelt unterstreichen.
Der Mauerfall in Deutschland vor 20 Jahren, den wir
in diesen Tagen zu Recht feiern, hat damals eine neue
Ära in der deutschen Entwicklungspolitik eingeleitet. Es
ging nun nicht mehr darum, welches Land zu welchem
Bündnis gehört, ob zum Osten oder zum Westen. In den
Fokus rückten vielmehr andere Dinge, nämlich gute Regierungsführung,
Beachtung der Menschenrechte sowie
das Eintreten für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Es
ging um Schwerpunktsetzung – dazu gehörte damals
auch die Umwelt –, und es ging um höhere Effizienz.
Diese Neuorientierung unter der damaligen christlichliberalen
Koalition hat Maßstäbe gesetzt, die bis heute
gelten und an denen sich auch der neue christlich-liberale
Koalitionsvertrag orientiert. Allerdings sind die Herausforderungen
in der Entwicklungspolitik inzwischen
erheblich größer geworden. Auch die Bedeutung der
Entwicklungspolitik ist enorm gestiegen.
Die Entwicklungspolitik hat tatsächlich das damalige
Nischendasein beendet und ist zu einem wichtigen Bestandteil
der Zukunftsvorsorge geworden, und zwar
auch der Zukunftsvorsorge in Deutschland und in Europa.
Ganz anders als damals sind jetzt, 20 Jahre später,
das Wohl und Wehe auch für uns in Deutschland abhängig
von den Entwicklungen in den Entwicklungs- und
Schwellenländern, und zwar in wirtschaftspolitischer,
sozialpolitischer, umweltpolitischer und sicherheitspolitischer
Hinsicht. Es kommen auf die Entwicklungspolitik
gewaltige Herausforderungen zu: die Sicherung der
gemeinsamen Ernährungsbasis und der Schutz unseres
Klimas, die Bewältigung der Weltwirtschaftskrise, die
Entschärfung sozialer Brandsätze und die Bekämpfung
des Terrorismus durch eine ausgewogene, nachhaltige
Entwicklung in den Entwicklungs- und Schwellenländern,
die dem Radikalismus den Boden entzieht.
Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass sich die
Unionsfraktion all die letzten Jahre sehr intensiv um geeignete
Antworten auf diese Herausforderungen bemüht
hat. Ich glaube, dass die Entwicklungspolitik der letzten
Jahre durchaus große Erfolge erzielt hat. Das steht im
Gegensatz zu dem, was Sie, Herr Erler, uns vorhalten
möchten. Wir sind inzwischen der zweitgrößte Geber.
Wir haben einen Quantensprung im Klimaschutz erzielt.
Wir haben eine vernünftige Lösung auf dem Weg
zur Beendigung des Gießkannenprinzips und bei der
Schwerpunktsetzung gefunden. Wir haben zum ersten
Mal Mittel aus Emissionserlösen für den Klimaschutz in
Entwicklungsländern eingesetzt. Wir haben auch einen
ersten wichtigen Schritt zur Einbeziehung der Entwicklungs-
und Schwellenländer in globale Absprachen gemacht.
Ich habe immer gesagt: Es war ein Gemeinschaftswerk.
Die Zusammenarbeit und das Klima unter den
Entwicklungspolitikern, auch im AwZ, waren gut. Dafür
möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Damals, 2005,
kam es aber – das möchte ich ganz deutlich sagen – zu
einer Änderung der Kanzlerschaft in diesem Lande.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat gegen größte
Schwierigkeiten eisern das eingehalten, was ihr Vorgänger
mal schnell versprochen hatte. Ich darf daran erinnern,
dass der Entwicklungshaushalt, Herr Erler, unter
Angela Merkel um 50 Prozent zugelegt hat, nachdem er
zuvor, ab 1998, unter Rot-Grün um 3 Prozent abgenommen
hatte.
Wir haben uns damals zwischen den Koalitionären
über manches nicht einigen können. Deswegen freue ich
mich, dass wir uns in der neuen Koalition rasch und
konzentriert über ein neues Kursbuch haben einigen
können – mit konkreten Schritten bei der Vorfeldreform,
mit klaren Festlegungen zu den Schlüsselsektoren, mit
einem klaren Bekenntnis zu den finanziellen Zusagen
und einer klaren Aussage zur Reform der europäischen
und der internationalen Entwicklungszusammenarbeit.
Ein wichtiger Punkt in diesem Vertrag ist der Satz,
dass wir im Rahmen guter Regierungsführung und fairen
Handels sowie im Rahmen von Bildung und der schon
erwähnten Mikrofinanzierung nachhaltige Strukturen
schaffen wollen, damit sich Menschen eigenverantwortlich
entfalten können. Hilfe zur Selbsthilfe ist der rote
Faden, der diesen Koalitionsvertrag prägt. Das bedeutet
natürlich, dass es nicht nur um staatliche Entwicklungszusammenarbeit
geht, sondern, wie wir es in den Vertrag
geschrieben haben, auch darum, dass wir auf die Nichtregierungsorganisationen
und den Einfluss und das
Engagement der Kirchen setzen und dass wir insbesondere
die politischen Stiftungen, und zwar die aller Parteien,
für ganz wichtige Akteure im entwicklungspolitischen
Geschäft halten.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der FDP)
Ich bin froh, dass im Koalitionsvertrag enthalten ist,
dass wir nicht nur den Ländern mit guter Regierungsführung
und gutem entwicklungspolitischen Management
helfen, sondern dass wir auch diejenigen Menschen
nicht im Stich lassen wollen, die in fragilen und autoritären
Staaten oder auch in Staaten leben, von denen für uns
Gefahr ausgeht. Wir wollen weiterhin Mittel und Wege
finden, schlechte Regierungsführung zu transformieren.
Auch das ist ein wichtiger Gesichtspunkt des Koalitionsvertrags.
Wichtig ist auch, dass wir eine bessere Arbeitsteilung
und Kontrolle erreichen. Wir wollen und müssen eine
stärkere Kontrolle der europäischen Entwicklungspolitik
– Kollege Königshaus, das war immer ein Anliegen der
FDP – durchsetzen; denn wir haben oft den Verdacht,
dass viele Gelder deswegen so schnell und zum Teil
auch schlampig abfließen, weil man ansonsten sagen
müsste, man habe das Geld nicht untergebracht.
Das ist der Hintergrund dafür, dass wir darauf Wert
gelegt haben, wieder zu einer vernünftigen Aufteilung
zwischen nationalem und internationalem Geld zu kommen,
nämlich im Verhältnis von einem Drittel zu zwei
Dritteln. Es geht dabei darum, die Mittel dort einzusetzen,
wo sie effizient eingesetzt werden können.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der FDP)
Meine Damen und Herren, über die Passage zu den
Schwellenländern bin ich froh und dankbar; denn wir
haben uns hier sehr viel Mühe gegeben. Ich glaube, dass
die Staatengemeinschaft ohne die Schwellenländer keinen
Fuß in die Tür bekommt, wenn es um einen Ausweg
aus der Weltwirtschaftskrise geht, und schon gar nicht,
wenn es um Sicherheitspolitik, Umweltpolitik und um
Armutsbekämpfung geht. Deswegen ist es richtig, dass
die Zusammenarbeit mit den Schwellenländern für uns
eine sehr große Bedeutung hat.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Dabei geht es immer weniger um die klassische Entwicklungshilfe,
sondern vor allem um Einflussnahme
auf die Entwicklung durch Entwicklungspolitik.
Herr Niebel, ich gebe Ihnen auch recht, wenn Sie sagen,
es sei viel zu kurz gesprungen, das BMZ auf Armutsbekämpfung
zu reduzieren, und wenn Sie neulich
unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Zusammenarbeit
im Hinblick auf den Mittelstand und die
Zusammenarbeit mit den Schwellenländern auf die „Geländerfunktion“
des Entwicklungsministeriums hingewiesen
haben. Das BMZ verfügt über den zweigrößten
Investitionshaushalt der Bundesrepublik und ist dafür
verantwortlich, dass 250 000 Arbeitsplätze gesichert
werden. Dies geschieht vor allem in der Zusammenarbeit
mit den Schwellenländern.
Herr Minister, ich versichere Ihnen, dass Sie unsere
Unterstützung auch bei einem ganz schwierigen Geschäft
haben, nämlich der Verzahnung des Außenhandels.
Wie man in Afghanistan sieht, ist die Verzahnung
des Außenhandels ein Gebot des Überlebens, und zwar
nicht nur für unsere Soldaten, sondern auch für alle, die
in der Entwicklungshilfe tätig sind. Ihnen danke ich an
dieser Stelle ebenfalls für ihr Engagement; auch unter ihnen
gibt es viele Opfer, an die wir denken sollten. Die
Verzahnung zwischen den Politikbereichen ist und bleibt
eine sehr schwierige Daueraufgabe. Wir werden Sie dabei
unterstützen, dass das Entwicklungsministerium alles,
was mit ODA zu tun hat, als Kompetenz bekommt.
Sollten Sie Schwierigkeiten haben, sich zum Beispiel
gegenüber dem Außenministerium durchzusetzen, wären
wir gern bereit, Ihnen dabei behilflich zu sein.
(Heiterkeit bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb
[FDP]: Aufruhr!)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Herausforderungen
an die Entwicklungspolitik sind gewaltig.
Aber wir haben in den letzten Tagen gesehen, was die
Deutschen bei der Wiedervereinigung nach dem Fall der
Mauer leisten konnten. Lassen Sie uns nicht bange sein
vor großen Herausforderungen. Wir können sie meistern.
Dies gilt auch für diese globalen Herausforderungen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der FDP)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion
Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Heike Hänsel (DIE LINKE):
Danke schön, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Von einem neu gebackenen Entwicklungsminister
hätte ich, ehrlich gesagt, erwartet, dass er
sich in seiner ersten Rede vor allem mit der zum Himmel
schreienden menschlichen Tragödie von mehr als
1 Milliarde hungernden Menschen beschäftigt und Vorstellungen
darlegt,
(Hellmut Königshaus [FDP]: Hat er doch gemacht!
Haben Sie nicht zugehört?)
wie wir zur Lösung dieses Problems beitragen können
und wo die Ursachen dieser großen menschlichen Katastrophe
liegen, unter anderem in dem herrschenden
Weltwirtschaftssystem. Dazu war sehr wenig zu hören.
Er hat sich vor allem auf Interessen und Werte konzentriert,
wovon heute schon den ganzen Tag über gesprochen
wurde. Wir haben da einen gewissen Vorgeschmack
auf das bekommen, was die Werte der FDP
sind.
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Sie haben ja keine!)
Ich komme in diesem Zusammenhang auf den Fall
Honduras zu sprechen.
(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE
LINKE])
Im Juni dieses Jahres gab es den Putsch gegen eine progressive
linke Regierung, die sich um eine Sozialpolitik
in Honduras bemüht hat. Weltweit wurde dieser Putsch
einhellig verurteilt.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Außer von der FDP!)
Was machte die FDP? Der Vertreter der FDP-nahen
Friedrich-Naumann-Stiftung sprach davon, dass es in
Honduras gar keinen Putsch gegeben habe, obwohl der
demokratisch gewählte Präsident aus dem Land entführt
wurde. Hier in den Räumen des Bundestages gab es ein
Treffen von einhelligen Unterstützern des Putsches in
Honduras, zu dem von der Friedrich-Naumann-Stiftung
eingeladen wurde.
(Zurufe von der LINKEN: Pfui! – Christian
Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ein dicker
Hund!)
Ich muss sagen, dass sich auch der neue Staatsminister
Werner Hoyer positiv zu diesem Putsch geäußert hat. Ich
erwarte eigentlich eine klare Stellungnahme zum Wert
von Demokratie und zum Werteverständnis der FDP.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
der SPD)
Wenn so deutsche Außenpolitik aussieht, dann werden
wir bald international isoliert sein; davon sprechen Sie ja
auch sehr oft.
Insgesamt kann ich Ihnen nur raten – Sie sprechen ja
auch von einer neuen Lateinamerikastrategie –, dass Sie
nicht versuchen, neue Ansätze in Lateinamerika, linke,
progressive Regierungen, die dürfen soziale Bewegungen
an die Macht kamen, um Menschen an der Politikgestaltung
zu beteiligen, die verfassungsgebende Prozesse
ins Leben rufen, die eine neue Ökologie und Sozialpolitik
entwickeln und Landreformen durchführen, als zukünftige
Gegner auszurufen, weil dort Menschen direkt
an neuen Ansätzen für die Lösung von Problemen beteiligt
werden. Sie brauchen unsere Unterstützung und
nicht den Angriff durch eine aggressive Freihandelspolitik
unter anderem der Europäischen Union.
(Beifall bei der LINKEN)
In diesem Zusammenhang finde ich es auch interessant,
dass Herr Kollege Raabe von der Linken, so kann
man sagen, gelernt hat.
(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP –
Volker Kauder [CDU/CSU], an die SPD gewandt:
Eine solche Beleidigung würde ich zurückweisen!
– Widerspruch bei der SPD)
Wir haben in den letzten vier Jahren häufig darüber gesprochen,
dass es auch einen Schutz für die Entwicklungsländer
zur Entwicklung ihrer eigenen Wirtschaft
braucht und wir daher mit einer Marktöffnungspolitik
nicht weiterkommen. Er hat es vorhin explizit erwähnt;
das freut mich. Es gibt hier einen Lernprozess. Ich bin
gespannt, was wir da noch alles zu hören bekommen.
(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei
der SPD – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN]: Nun hör aber auf!)
Ich möchte auf die Interessen eingehen, die oft benannt
wurden und auch im Koalitionsvertrag stehen.
Dort wird im Zusammenhang mit Entwicklungspolitik
auf eine „engere Kooperation mit der deutschen Privatwirtschaft“
verwiesen. Ich frage mich: In welche Richtung
wird dies gehen? Wir haben das schon erlebt. Der
Bundesverband der Deutschen Industrie hat eine neue
Rohstoffstrategie entwickelt. Er spricht von einer
„Rohstoffdiplomatie“, die gemeinsam mit der Außen-,
Handels- und Entwicklungspolitik entwickelt werden
muss, um den Zugang zu Rohstoffen zu verbessern; wir
haben es heute von der Bundeskanzlerin gehört. Das
geht in unseren Augen in die völlig falsche Richtung.
Wir lehnen diese Form der „Rohstoffdiplomatie“ völlig
ab.
(Beifall bei der LINKEN)
Eine weitere Formulierung, die heute häufig bemüht
wurde, ist die Kontinuität der deutschen Außenpolitik.
Wenn ich mir die Realität der deutschen Außenpolitik
anschaue, kann man hinsichtlich der Kontinuität nicht
davon sprechen, dass sie ein Beitrag zu Frieden und Entwicklung
ist.
Ich fand es auch interessant, dass in der Regierungserklärung
von Angela Merkel kein einziges Mal das
Wort „Friedenspolitik“ vorkam. Im Koalitionsvertrag ist
auch nicht von ziviler Konfliktbearbeitung, ziviler Konfliktlösung
oder dem zivilen Friedensdienst die Rede.
Diese Einrichtungen kommen überhaupt nicht vor, obwohl
das eigentlich das Potenzial wäre, eine zivile Außenpolitik
gemeinsam mit den Menschen von unten zu
entwickeln. Das wäre für mich ein neuer Ansatz. Davon
ist in Ihrem Vertrag nichts zu lesen.
(Beifall bei der LINKEN)
Im Gegenteil: Sehr oft bemüht die Kanzlerin – auch
Herr Niebel hat es heute explizit angesprochen – den Begriff
der vernetzten Sicherheit, der auch im Weißbuch
der Bundeswehr auftaucht und in dem es unter anderem
– ich zitiere –
um eine … engere Integration politischer, militärischer,
entwicklungspolitischer, wirtschaftlicher, humanitärer,
polizeilicher … Konfliktverhütung
geht.
Hier werden die Grenzen zwischen Zivilem und Militärischem
völlig verwischt. Es gibt im Grunde genommen
nur noch einen einzigen Blick, und das ist der sicherheitspolitische
Blick für globale Probleme. Das
heißt, Migration und Klimawandel werden mittlerweile
unter sicherheitspolitischen Aspekten bewertet, obwohl
es eigentlich globale Probleme sind, die ökonomischer
und sozialer Natur sind. Das ist ganz klar ein Beitrag zur
Militarisierung der Außen- und Entwicklungspolitik.
Das werden wir wie bisher ablehnen.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir brauchen diese Militarisierung nicht. Sie ist katastrophal.
In Afghanistan erleben wir es in der zivilmilitärischen
Zusammenarbeit. Man kann sagen: Sie ist
der Totengräber der Entwicklungszusammenarbeit. Viele
Entwicklungsorganisationen beklagen sich, dass der zivil-
militärische Ansatz sie zur Zielscheibe von Angriffen
in Afghanistan gemacht hat und dass dieser Ansatz Entwicklung
unmöglich gemacht hat.
(Elke Hoff [FDP]: Es gibt auch andere
Meinungen!)
Das heißt, mehr Soldaten bedeuten eben nicht automatisch
mehr Sicherheit. In vielen Regionen bedeuten mehr
Soldaten mehr Unsicherheit für die Entwicklungsorganisationen.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN)
In unseren Augen ist es deshalb wichtig, nach acht
Jahren Krieg mit einer katastrophalen entwicklungspolitischen
Bilanz – Afghanistan ist nach wie vor das viertärmste
Land der Erde – von diesem Ansatz wegzukommen.
Der Abzug der Bundeswehr ist die Voraussetzung
für eine soziale und friedliche Entwicklung in diesem
Land.
In meinen Augen gibt es keine bessere Zeugin dafür
als Malalai Joya, eine mutige Parlamentarierin, die wir
mehrmals eingeladen haben. Sie hat ein neues Buch
geschrieben: Ich erhebe meine Stimme. Darin können Sie
lesen, wie die Lebensrealität der Menschen, insbesondere
der Frauen, vor Ort aussieht. Ich möchte dieses
Buch gerne dem neuen Außenminister, Herrn
Westerwelle, der leider gerade nicht zuhört, überreichen.
Es ist nämlich ein sehr interessantes Buch. Malalai Joya
schreibt darin über die Lebensrealität der Menschen. So
erfährt man mehr, als wenn man mit der Bundeswehr für
drei Tage in dieses Land fliegt. Daraus könnten wir einen
sehr guten Politikansatz entwickeln.
Ich bedanke mich.
(Beifall bei der LINKEN – Abg. Heike Hänsel
[DIE LINKE] übergibt Außenminister
Dr. Guido Westerwelle ein Buch – Hartwig
Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ist das mit
Widmung? – Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister:
Es fehlt die Widmung!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
die Kollegin Ute Koczy.
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Wohin geht die Entwicklungspolitik?
Diese Frage steht vor allem deswegen im Raum, weil
wir einen interessanten Minister haben.
(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das
hat ihm noch keiner gesagt!)
Herr Niebel, als Abwicklungsminister in aller Munde,
steht im Rampenlicht der Öffentlichkeit und hat ein Ministerium
vor sich, das er noch gar nicht kennt und das er
nicht einschätzen kann.
(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das geht anderen
auch so!)
– Das geht anderen auch so, Herr Ruck. Man sieht ja,
was daraus wird, wenn man nichts damit anfangen kann.
Wir wissen, dass es sich angesichts globaler Herausforderungen
wie Klimawandel, Hungersnöte, Finanzmarktkrisen
und Machtverschiebungen heutzutage kein
Politikfeld mehr leisten kann, auf Laisser-faire zu machen.
Wir können nicht so weitermachen wie bisher. Das
gilt auch für die Entwicklungspolitik.
(Beifall des Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP])
Es müssen Reformen auf den Tisch. Die Wirksamkeit
muss verbessert werden, und neue Allianzen müssen
geschmiedet werden. Für uns Grüne ist die Entwicklungszusammenarbeit
Teil einer internationalen Strukturpolitik.
Eine reformierte und innovative Entwicklungszusammenarbeit
ist ein wichtiges Instrument, um
die Globalisierung gerechter zu gestalten. Dieses Instrument
dürfen wir nicht aus der Hand geben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Dass die FDP das nicht so sieht, das war klar, aber
dass die CDU/CSU es versäumt hat, in der Personalpolitik
und bei der Gestaltung der Inhalte des Vertrages Präsenz
und Gewicht zu zeigen, das ist fatal. Denn wenn
Entwicklungspolitik eine Hauptsache ist, wie es Kanzlerin
Merkel heute gesagt hat, dann müssen dieser Aussage
auch Taten folgen. Doch da sehe ich schwarz und
gelb.
(Widerspruch bei der CDU/CSU)
Die schwarz-gelbe Koalition hatte die Chance, Entwicklungspolitik
zu einem partnerschaftlichen Instrument für
globale Gerechtigkeit zu machen. Aber mit diesem Vertrag
wurde diese Chance vertan. Es gibt keine echte
Strukturreform. Die Institutionenreform ist ein Klacks
gegenüber dem, was man haben wollen muss, wenn man
eine Entwicklungspolitik aus einem Guss möchte.
(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Können Sie
mal den Koalitionsvertrag lesen? Ich habe ihn
dabei! Ich könnte es Ihnen zeigen!)
Provinziell ist die Ansage: „Wir setzen auf Bilaterales“,
und die Tatsache, dass man die multilaterale Zusammenarbeit
kappt. Der Vertrag kennt nur ein Ziel, und
zwar, künftig die Interessen der deutschen Wirtschaft
stärker zu berücksichtigen.
(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Papperlapapp!)
Damit wird auch die Entwicklungspolitik instrumentalisiert
und den Interessen der Außenwirtschaftsförderung
untergeordnet.
(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: So ein
Quatsch!)
So dringend und wichtig die Stärkung der Wirtschaft gerade
in den Entwicklungsländern auch ist, mit dieser
Ausrichtung missachtet man den Kern der Entwicklungszusammenarbeit.
Es geht um die Parteinahme für
die Ärmsten und um den Erhalt der Lebensgrundlagen.
Wenn man das in der Form macht, wie Sie das vorhaben,
Herr Minister, dann ist auch das eine Art der Abwicklung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es kommt noch schlimmer: Schwarz-Gelb ebnet der
Wirtschaft ohne Einschränkungen den Weg. Eine Einhaltung
von ökologischen und sozialen Standards? Ethische
Anforderungen an Investitionen? Absolute Fehlanzeige
im Koalitionsvertrag, als seien die Probleme
Kinderarbeit, Ausbeuterlöhne, Gesundheitsschäden sowie
Verseuchung von Wasser und Böden keine Fragen
und schon gar kein Wertemaßstab für Wirtschaft, Handel
und Banken.
„Der Zugang zu Rohstoffen und deren verlässliche
Verfügbarkeit … für die deutsche Industrie“ – so der Koalitionsvertrag
– bedeuten im Klartext für die Entwicklungsländer
in Afrika, dass die Eliten weiterhin profitieren
und die Armen leer ausgehen.
(Hellmut Königshaus [FDP]: Das genaue Gegenteil!
– Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/
CSU]: Falsch! Das wissen Sie doch besser!)
Das bringe ich nicht überein mit den hehren Worten, die
hinten im Vertrag stehen, wobei aber nicht berücksichtigt
wird, dass sie der Außenwirtschaft untergeordnet
werden. Hier knallen die Widersprüche ungeklärt aufeinander.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Hellmut Königshaus [FDP]: So ein Quatsch!
Wo steht denn das?)
Mein letzter Punkt: die Brisanz des Klimawandels.
Man hätte erwartet, dass angesichts dieser Herausforderung
ein dicker Absatz oder eine ganze Seite im Koalitionsvertrag
dazu steht. Nichts davon! Klimapolitik ist
trotz der Brisanz gerade für die Entwicklungsländer eine
Nebensache geblieben. Dass die bisherigen Zusagen eingehalten
werden sollen, ist doch als Aussage absolut
unzureichend. Wir brauchen eine qualitative und quantitative
Aufwertung aller Klima- und Ressourcenprogramme.
Aber Schwarz-Gelb lässt diese Herausforderung
links liegen.
Danke.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Hartwig
Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ihr habt das
um 3 Prozent zurückgeführt! Sieben Jahre
Rot-Grün! – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]:
So ein Schmarrn, was sie erzählt hat!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Axel
Schäfer das Wort.
Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung
gesagt, dass der Lissabon-Vertrag besonders wichtig
für Europa ist.
(Beifall des Abg. Dr. Rainer Stinner (FDP)
Dem stimmt die SPD-Fraktion uneingeschränkt zu.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – und der
FDP)
Das ist der einzige Satz, dem wir zustimmen können;
denn sie hat in ihrer gesamten Regierungserklärung
sonst nichts zu Europa gesagt. Ich glaube, deshalb wird
es wichtig sein, darüber zu reden, welche Verantwortung
wir in Europa haben und was hier heute nicht zur Sprache
gekommen ist.
Ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin: „Europa, ruhiggestellt“,
beklagt die Welt am Sonntag, als Hauptschuldige
sieht sie „Angela Merkel mit ihrer geheimen
Kabinettspolitik und ihrem Postengekungel“. Sie wissen,
die Welt am Sonntag gehört zum Springer-Verlag – Frau
Springer war hier kürzlich noch Wahlfrau für die CDU –
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Was für eine Interpretation!)
und ist Ihnen sehr nahestehend. Das ist das Urteil über
Ihre Europapolitik.
Wir müssen uns jetzt einmal genau anschauen, was
diese Personalpolitik in der Praxis bedeutet. Als Erstes
wird ein Ministerpräsident in Europa mit dem Posten eines
Kommissars versorgt, indem er hier entsorgt wird.
Das ist die erste Personalentscheidung und stellt sicherlich
kein gutes Bild für die deutsche Vertretung in Europa
dar.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Als Zweites werden für die Christdemokraten in Europa
die wichtigsten Funktionen reklamiert.
Dann muss man natürlich auch darüber sprechen, wer
die Christdemokraten in Europa sind – das sind ja
nicht nur Sie –, auf die man sich stützen kann. Die wichtigste
Stütze ist Herr Berlusconi, ein Politiker Ihrer Parteifamilie,
über den ich sage: Keiner in diesem Haus
wird dessen politische, geschäftliche und sonstige Moral
teilen wollen. Wenn Sie anderer Meinung sind, widersprechen
Sie. Das ist Ihre wichtigste Stütze, die Sie in
Europa haben. Sie haben noch ein paar andere Stützen in
der EVP, die diese Politik ausmachen, und zwar die Vertreter
in Dänemark, in den Niederlanden und auch in
Österreich, die rechtspopulistische Parteien salonfähig
gemacht haben oder sich wie in Kopenhagen noch heute
von ausländerfeindlichen Parteien tragen lassen, um
überhaupt an der Regierung bleiben zu können. Auch
das sind Christdemokraten in Europa.
Das kann man auf die Konservativen ausdehnen.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Schauen Sie mal
nach Brandenburg! Da wird die Stasi an den
Kabinettstisch geholt!)
– Ja, sehr gut. – Schauen wir doch einmal auf die Christlich
Demokratische Internationale. Da gibt es zum Beispiel
einen Herrn Klaus, dem es Gott sei Dank nicht gelungen
ist, dieses Europa von Lissabon, das Sie gerade
gelobt haben, zu zerstören. Auch er gehört zu Ihrer Parteifamilie.
Dies reicht über andere bis zu Herrn Bush;
den Irakkrieg will ich nicht verschweigen. Auch das ist
ein Teil Ihrer europäischen Realität, zu der Sie nichts sagen.
Deshalb müssen wir als Opposition das hier benennen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Vom Außenminister angesprochen und von der Kanzlerin
beschwiegen wurde die zukünftige Entwicklung
Europas. Wir sind der Auffassung: Die Perspektive für
den westlichen Balkan ist die zentrale Aufgabe. Das haben
wir versprochen und in Europa in vielen Punkten so
festgelegt. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
haben die Haltung, dass diese Vereinbarungen
strikt eingehalten und konsequent angewandt werden
müssen. Die Haltung, die ich heute Morgen gehört habe
bzw. die aus Ihrem lauten Schweigen zu schließen ist,
heißt: Wir wollen bestimmte Entwicklungen konsequent
anhalten und bestimmten Entwicklungen strikt entgegentreten.
– Das ist in Bezug auf den Westbalkan Ihre
Position.
Wir stehen dagegen. Wir stehen nicht nur dagegen,
weil es nicht lediglich um die Frage geht, welche Perspektiven
die Länder haben – auch das ist wichtig –, sondern
wir stehen auch dagegen, weil demokratische Politiker
in dieser Region für die europäische Perspektive ihres
Landes ihren Kopf auf das Schafott gelegt haben, um
für die Demokratie zu kämpfen, und ermordet worden
sind – ich erinnere nur an Ministerpräsident Djindjic –
und weil wir gegenüber mutigen Präsidenten wie Tadić
auch die moralische Pflicht haben, die Zusagen einzuhalten
und ihnen die europäische Perspektive zu eröffnen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es ist zu Recht auf den 9. November hingewiesen
worden. Sehr richtig: ein bedeutender Tag in der deutschen
Geschichte. Das gilt sowohl für den 9. November
1989 als auch für den 9. November 1918. Am 9. November
1918 hat der sozialdemokratische Volksbeauftragte
und spätere Ministerpräsident Philipp Scheidemann auf
dem Balkon des Reichstages die parlamentarische Republik
ausgerufen; die Monarchie war zu Ende. Philipp
Scheidemann hat im Reichstag vor fast genau
100 Jahren gesagt, warum dieses gemeinsame Europa,
die Verständigung mit Frankreich und Großbritannien,
so wichtig ist und warum von Deutschland nie wieder
Krieg ausgehen soll. Dieses gemeinsame Europa ist der
Sozialdemokratischen Partei seit über 100 Jahren eine
Verpflichtung. Dieser Verpflichtung werden wir als
Fraktion auch in der Opposition nachkommen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Wenn das mit euch so weitergeht, aber nicht
mehr lange!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen für die
Unionsfraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Schäfer, Sie haben etwas despektierlich
über den deutschen Kandidaten für das Kommissarsamt
gesprochen.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Zu
Recht!)
Ich möchte Ihnen eine Garantie geben: Dieser deutsche
Kommissar wird mit Sicherheit erfolgreicher und einflussreicher
sein als sein deutscher Vorgänger.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Gewagte
These! – Christian Lange [Backnang]
[SPD]: Das glauben ja noch nicht einmal Ihre
eigenen Leute!)
Ich möchte auf einige grundsätzliche Dinge eingehen,
die die aktuelle und die künftige deutsche Europapolitik
betreffen. In dieser Legislaturperiode wird mit dem Inkrafttreten
des Lissabon-Vertrages am 1. Dezember
2009 in Europa eine neue Ära beginnen. Allerdings ist
der Prozess bis zum Inkrafttreten dieses Reformvertrages
eine unerwartet lange Ära in der Europäischen
Union gewesen. Er begann vor mehr als neun Jahren mit
der Einsetzung des Verfassungskonvents, der den Verfassungsvertrag
erarbeitete, der dann bei Volksabstimmungen
in Frankreich und in den Niederlanden zunächst
scheiterte.
Erst die letzte Bundesregierung unter Führung von
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diesen Prozess, der
seit Jahren brachlag, während der deutschen Ratspräsidentschaft
aktiviert. Wir kamen bis zum Lissabon-Vertrag,
der am irischen Referendum zunächst scheiterte.
Auch wir als Bundestag hatten noch im Juni dieses Jahres
die für uns überraschende Aufgabe, die Begleitgesetzgebung
über den Sommer neu zu fassen. Allerdings
finde ich es beeindruckend, dass wir das geschafft haben.
Denn dadurch sind die Begleitgesetzgebung und die
parlamentarische Kontrolle der künftigen Europapolitik
in der Tat deutlich verbessert worden. Beim Europäischen
Rat am 29./30. Oktober dieses Jahres konnten die
letzten Hürden überwunden werden, sodass dieser Vertrag
endlich in Kraft treten kann.
Manche mögen sagen, dass dieser Reformprozess zu
lange gedauert hat. Ich aber sage: Entscheidend ist am
Ende der Erfolg, dass dieser Vertrag in Kraft treten kann.
Mit dem Lissabon-Vertrag bekommt die Europäische
Union das institutionelle und vertragliche Rüstzeug, die
großen Probleme der Gegenwart und der Zukunft entschlossen
und erfolgreich anzugehen.
Deutschland war an diesem Reformprozess immer
führend beteiligt. Der Deutsche Bundestag hat diesen
Reformprozess immer offensiv unterstützt. Es liegt jetzt
an uns, und es ist jetzt unsere Aufgabe, unsere neuen
parlamentarischen Möglichkeiten auch auszunutzen. Mit
unserem künftig direkten Einfluss auf die europäische
Rechtsetzung wächst auch unsere Verantwortung für die
Ergebnisse der europäischen Politik.
Das heißt, wenn in Zukunft wieder einmal eine europäische
Rechtsetzung am Bundestag vorbeigeht und
kritisch bewertet wird, wenn sie erfolgt ist, können wir
nicht mehr sagen, wir hätten das nicht mitbekommen,
weil wir keine Chance gehabt hätten, das rechtzeitig in
Erfahrung zu bringen, nein, dann wird das bedeuten,
dass der Bundestag geschlafen hat. Das darf auf keinen
Fall passieren. Insofern kommt auf uns durch den Lissabon-
Vertrag und die Begleitgesetze eine Menge Mehrarbeit
zu.
Lassen Sie mich noch auf ein anderes aktuelles
Thema kurz eingehen. Wer in den letzten Tagen die
Nachrichten aufmerksam verfolgt hat, muss folgenden
Eindruck gewonnen haben – leider passiert das alle paar
Jahre wieder –: Die Europäische Kommission, obwohl
nur noch amtierend, versucht offensichtlich, bevor die
neue Europäische Kommission eingesetzt wird, für Entscheidungen,
die erst in ein bis zwei Jahren anstehen und
die erst nach intensiven Diskussionen getroffen werden
dürften, Vorwegfestlegungen zu organisieren. Ich meine
damit den mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen
Union ab 2014.
Obwohl die Europäische Kommission bisher keine
Analyse der Konsultationen zu ihren Reformvorschlägen
vorgelegt hat, ist sie jetzt schon der Überzeugung, die
EU brauche dringend eine direkte Einnahme durch Erhebung
einer eigenen Steuer, einschließlich der Möglichkeit,
Schulden aufzunehmen. Ulkigerweise begründet
die Europäische Kommission das damit, dass man nur so
die anhaltende Debatte über eine übermäßige Nettobelastung
einzelner Mitgliedstaaten überwinden könne.
Dies ist jedoch ein falscher Ansatz. Denn in Wirklichkeit
ist es so, dass gerade durch die vorhandenen Direkteinnahmen
der Europäischen Kommission – den Anteil
an der Mehrwertsteuer, die Zolleinnahmen, die Zuckerabgabe
und dergleichen; diese Einnahmen machen ungefähr
30 Prozent aus – das Problem, dass einzelne
Mitgliedsländer übermäßig belastet werden, größer geworden
ist. Deshalb gilt nicht nur für Deutschland, sondern
auch für Dänemark und Schweden bei der Abführung
der Mehrwertsteuer eine Ausnahmeregelung; sonst
würden wir im Verhältnis zu unserem Bruttonationalprodukt
übermäßig belastet.
Jetzt auf die Idee zu kommen, eine Steuer zu erheben,
ist mit Sicherheit der falsche Weg; denn dadurch würde
das Problem nicht nur verschärft, sondern, weil man die
Belastung dann nicht mehr auseinanderhalten könnte,
auch noch verschleiert.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Ich will für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion an dieser
Stelle klar sagen: Wir wollen – erstens – ein europäisches
Finanzsystem, das so transparent und effizient
wie möglich gestaltet ist; aber es muss auch gerecht sein.
(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Was ist
gerecht?)
Wir wollen – zweitens –, dass der 2005 eingeschlagene
Weg der Sparsamkeit beibehalten wird. Wir sollten uns
darauf einigen, dass die Obergrenze für die Ausgaben
bei maximal 1 Prozent des Bruttonationalprodukts liegen
soll. Die Einführung einer europäischen Steuer mit
eigenem Hebesatz sowie einer Möglichkeit für die EU,
Schulden zu machen, lehnen wir kategorisch ab.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Deutschland
wird auch in Zukunft, wie es unserer wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit entspricht, größter und wichtigster
Nettozahler in der Europäischen Union bleiben.
Die Menschen werden die Europäische Union aber nur
dauerhaft akzeptieren, wenn sie spüren, dass die Europäische
Union nicht nur solidarisch ist – das ist sie –,
sondern auch gerecht. Nach dieser Maßgabe muss der
neue europäische Finanzrahmen erarbeitet werden, und
dabei liegt noch viel Arbeit vor uns.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben
gestern den 20. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer
und der innerdeutschen Grenze gefeiert. Für mich begann
damals eine gewaltige Reise, zunächst mit meinem
Trabi nach München, der auf dem Weg dahin auch noch
kaputtging. Nächstes Jahr werden wir den 20. Jahrestag
der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes feiern. Für
mich ist unmissverständlich klar – und ich bin sicher,
dass das von der überwiegenden Mehrheit in diesem
Haus genauso gesehen wird –: Das Geschenk der deutschen
Wiedervereinigung ist für Deutschland ebenso ein
Glücksfall wie das Bestehen und die Entwicklung der
Europäischen Union.
Der Deutsche Bundestag hat es in den letzten Jahrzehnten
immer wieder geschafft, bei grundsätzlichen
europäischen Fragen über die Grenzen von Koalitionsund
Oppositionsfraktionen hinweg Einigung zu erzielen.
So sind wir stark in Europa, und so müssen wir stark
bleiben in Europa. Diese Art der Zusammenarbeit wünsche
ich mir auch für diese Legislaturperiode.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Herren Minister, wenn man Ihnen heute hier zugehört
hat und sich den außen- und sicherheitspolitischen
Teil der Koalitionsvereinbarung ansieht – auch ich
will hierzu am Anfang natürlich Stellung nehmen –,
dann muss man ganz klar sagen: Sie beschwören einerseits
die Kontinuität, andererseits werden aber sogenannte
westliche Werte und nationale Interessen zur zentralen
Leitlinie erklärt.
Dadurch werden gemeinsame Interessen und die kollektive
Friedenssicherung – ich glaube, vor allem im
Rahmen der Vereinten Nationen – in der Außen- und Sicherheitspolitik
an Bedeutung verlieren. Es wird diesbezüglich
ja eine erste Nagelprobe für die Koalition bei der
Verlängerung des UNIFIL-Einsatzes geben. Man darf
gespannt sein, wie die Koalition dann damit umgehen
wird.
Wenn nationale Interessen vor allem als wirtschaftliche
Interessen definiert werden, weil die Sicherung des
deutschen Exports – so steht es im Koalitionsvertrag –
Hauptaufgabe der Außenpolitik wird, dann muss man
aus unserer Sicht ganz klar sagen: Auch in der Außenund
Sicherheitspolitik macht die Koalition eine Rolle
rückwärts, ist sie alles andere als innovativ und wird vor
allem den neuen internationalen Herausforderungen wie
Klimawandel, Armut und Staatszerfall in keinster Weise
gerecht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir meinen ganz klar: Nur durch eine Stärkung multilateraler
Institutionen, vor allem der UNO und der Europäischen
Union, können wir diese neuen Herausforderungen
bewältigen.
Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Rede vor dem US-Kongress
zwar zu Recht die zentrale Bedeutung des
transatlantischen Verhältnisses zwischen der EU und den
USA hervorgehoben. Aber – das muss man an dieser
Stelle klar sagen – die Bewältigung der großen internationalen
Herausforderungen kann in der Praxis eben
nur dann gelingen, wenn auch die EU als internationaler
Akteur endlich eigene Strategien entwickelt, die man
dann mit den USA diskutieren kann. Wir erwarten, dass
sich die Bundesregierung dafür stark macht. Genau das
ist jedoch nicht der Fall – weder beim Klimaschutz noch
in Afghanistan noch in der Nahostpolitik.
Ich bleibe einmal beim Beispiel Klimaschutz. Vor
dem US-Kongress hat die Kanzlerin zu Recht, sage ich
wieder, die Vereinbarung verbindlicher Klimaschutzziele
in Kopenhagen eingefordert; aber einige Tage zuvor
auf dem Europäischen Rat in Brüssel
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja, das war es etwas anderes!)
hatten Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
Ihre Hausaufgaben nicht gemacht; denn
gerade eine verbindliche Finanzzusage an die Entwicklungs-
und Schwellenländer zur Bewältigung des Klimawandels
wurde nicht beschlossen. Das ist das Gegenteil
von konsequenter internationaler Klimapolitik.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zum Beispiel Afghanistan: Auch nach der heutigen
Rede der Bundeskanzlerin und Ihrer Rede, Herr Verteidigungsminister,
muss man klar sagen: Meiner Meinung
nach wird in den USA inzwischen offener über den notwendigen
Kurswechsel in Afghanistan diskutiert als hier
in Deutschland. Die Zeit drängt; denn die Sicherheitslage
verschärft sich und durch die Umstände der letzten
Wahlen droht das zarte Pflänzchen der Demokratie zu
vertrocknen. Deshalb finde ich – ich will das an dieser
Stelle noch einmal sagen –, es geht nicht, dass sich die
Frau Bundeskanzlerin heute Morgen hier hingestellt und
gesagt hat: Wir warten jetzt erst einmal ab; schauen wir
mal. Anfang 2010 gibt es ja die nächste Afghanistankonferenz.
Wir winken das Mandat im Dezember erst einmal
ohne Veränderung durch.
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Erzählen Sie
uns doch einmal, was Sie wollen!)
Ich meine, Sie müssen jetzt die Reformbereitschaft
der US-Regierung nutzen und deutlich machen, was unser
Beitrag zum Strategiewechsel ist.
Zum Beispiel Polizeiaufbau: Warum gibt es keine Initiative
auf europäischer Ebene,
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
2 000 Polizisten dorthin zu schicken, wobei Deutschland
einen Beitrag von 500 anbietet? Das ist es, was wir erwarten.
Abwarten und Teetrinken ist aus unserer Sicht
unverantwortlich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Im Nahen Osten fehlt es meiner Meinung nach ebenfalls
an einer klaren gemeinsamen Strategie. US-Präsident
Obama hatte in Kairo ja neue Grundlagen für eine
Friedensinitiative gelegt; aber Außenministerin Clinton
hat durch ihre plötzliche Abkehr von einem Siedlungsstopp
gegenüber Netanjahu ein verheerendes Signal gesendet.
Das hat Präsident Abbas geschwächt. Ich meine,
auch hier muss die EU selbst Verantwortung für eine
politische Regelung des Nahostkonflikts übernehmen.
Ein Wort zu der Debatte um die Besetzung des Rates
der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Voraussetzung
dafür, dass Europa international mit gewichtiger
Stimme mitreden kann, ist nicht nur ein neuer
Ratspräsident und ein neuer EU-Außenminister, sondern
auch die vertrauensvolle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten.
Sie selbst haben das deutsch-polnische Verhältnis
– ich finde das richtig – als Kernanliegen bezeichnet.
Sie haben in Polen zugesagt, keine Entscheidung zu treffen,
die dem Anliegen der Versöhnung entgegensteht.
Wir erwarten jetzt natürlich, dass es Ihnen im Hinblick
auf die wichtige Frage der Besetzung des Stiftungsrates
gelingt, eine Berufung von Frau Steinbach zu verhindern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
Ich möchte mich mit einigen Sätzen an Sie persönlich,
Frau Steinbach, wenden. Sie wissen, dass Sie in
Polen als Hindernis für die Versöhnung angesehen werden.
Ich sage klar, dass ich manche Töne und manche
Fotomontagen aus Polen für völlig überzogen und inakzeptabel
halte.
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das ist wohl
wahr!)
Wenn Ihnen aber das Verhältnis zu Polen und die Aussöhnung
wirklich wichtig sind, dann sollten Sie die politische
Klugheit und Größe besitzen, selber von einem
Sitz im Stiftungsrat Abstand zu nehmen. Das wäre politische
Verantwortung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Rolf
Mützenich das Wort.
Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Außenpolitik ist keine Bühne für parteipolitische Spielchen.
Wir Sozialdemokraten akzeptieren die Regeln,
Normen und Institutionen der deutschen Außenpolitik.
Wir haben diese Grundsätze mitgestaltet und erweitert.
Die Bürgerinnen und Bürger, unsere Partner und Nachbarn
können sich in den nächsten vier Jahren auf eine
konstruktive Rolle der SPD auch in der Opposition verlassen.
Herr Außenminister Westerwelle, im Gegenzug
bitten wir Sie herzlich, die Opposition dort einzubeziehen
und zu informieren, wo es angemessen und erforderlich
ist. Ich glaube, das gehört zum parlamentarischen
Verfahren dazu. Ich wünsche Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern eine gute Arbeit für unser
Land. Darin werden wir Sie bestärken. Dort aber, wo wir
Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten feststellen
oder Zweifel haben, werden wir diese in den nächsten
vier Jahren benennen und Alternativen vorschlagen.
Ich habe eine Anregung: Wir sollten überlegen, ob
wir am Anfang eines jeden Jahres eine zentrale Grundsatzdebatte
führen könnten, die sich mit den außen- und
sicherheitspolitischen Herausforderungen Deutschlands
in den nachfolgenden Monaten befasst. Ich glaube nämlich,
der Bundestag ist der zentrale Ort, um über diese
Fragen zu diskutieren und um von der Bundesregierung
Auskunft über die weiteren Schritte zu bekommen. Eine
solche parlamentarische Diskussion wäre angemessen
und könnte dem manchmal auftretenden öffentlichen
Desinteresse an der Außenpolitik entgegenwirken.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Ich will nur drei Punkte benennen, die mir im Koalitionsvertrag
aufgefallen sind. Die Frage des Völkerrechts
hat als zentrales Thema in der internationalen
Politik nicht die Würdigung erhalten, die ich mir gewünscht
hätte.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
In den letzten Jahren konnten wir in der internationalen
öffentlichen Debatte die Tendenz feststellen – gestern
hat Russland in diesem Zusammenhang etwas veröffentlicht,
was ich nicht gutheiße –, dass das Völkerrecht
nicht mehr in den Mittelpunkt gerückt wird. Manchmal
wird der internationale Terrorismus als Grund dafür genannt,
dass das Völkerrecht nicht eingehalten werden
kann. Ich halte das nicht nur für waghalsig, sondern auch
für einen Rückschritt in der internationalen Politik.
Wenn wir die Fortschritte im Völkerrecht, die nach 1945
erreicht wurden, endgültig über Bord werfen würden,
dann hätte der internationale Terrorismus gewonnen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Herr Minister, Abrüstung und Rüstungskontrolle
gehören zu den Grundpfeilern deutscher Außenpolitik.
Wir teilen mit Ihnen die Auffassung, dass sie Instrumente
der Vertrauensbildung und der gemeinsamen Sicherheit
sind. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts
sind diese Instrumente nicht überflüssig geworden. Ich
glaube, die Rüstungsexportkontrolle – das ist eben gesagt
worden – gehört genauso dazu. Deswegen brauchen
wir, glaube ich, eine politische Kultur der Abrüstung,
und wir unterstützen Sie in diesen Fragen.
Sie haben angedeutet – das ist auch im Koalitionsvertrag
niedergelegt –, dass Sie die konventionelle Abrüstung
und Rüstungskontrolle vorantreiben wollen. Ich
glaube, das ist gerade mit Blick auf Georgien eine besondere
Herausforderung. Deswegen biete ich vonseiten
der SPD-Fraktion an: Wir unterstützen Sie sofort bei der
Ratifizierung des angepassten KSE-Vertrages. Bringen
Sie ihn in den Deutschen Bundestag ein. Dann werden
wir als Opposition Sie an dieser Stelle unterstützen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Claudia Roth [Augsburg]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir auch!)
Herr Außenminister, Sie haben im Wahlkampf und
während Ihres USA-Besuchs erfreulicherweise die Bedeutung
der nuklearen Abrüstung hervorgehoben. Ich
habe gesagt, wir unterstützen das. Ich bedaure ein bisschen,
dass Sie in Washington leiser aufgetreten sind als
auf den deutschen Marktplätzen während des Wahlkampfs.
Aber ich glaube, dass es an dieser Stelle einen
breiten Konsens im Deutschen Bundestag gibt, die Abrüstung
und Rüstungskontrolle voranzutreiben.
Ich würde Sie nur gerne daran erinnern, dass es notwendig
wäre, gerade mit unseren Partnern in Europa in
den nächsten Wochen und Monaten über etwas zu diskutieren,
was Präsident Obama im Dezember vorlegen
wird, nämlich eine neue Nuklearstrategie der USA. Ich
glaube, sie wird in den europäischen Ländern ganz unterschiedlich
bewertet. Deswegen wäre es gut, wenn der
deutsche Außenminister im Vorhinein versuchte, einen
möglichen Dissens in Europa über die US-amerikanische
Nuklearstrategie zu verhindern.
Wenn ich am Anfang gesagt habe – ich komme zum
Schluss –
(Zuruf von der CDU/CSU: Genau! – Heiterkeit)
– diese Überheblichkeit geht mir gegen den Strich, aber
das ist ein anderer Punkt –
(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Wir
haben verstanden!)
– nein –, dass die deutsche Sozialdemokratie Sie auch in
der Opposition in den kommenden vier Jahren bei den
wichtigen Fragen der Außenpolitik unterstützt, so will
ich nur daran erinnern, dass das auch bei uns nicht immer
unumstritten war. Vor 50 Jahren hat Herbert Wehner
im Deutschen Bundestag eine wichtige außenpolitische
Rede gehalten und gesagt, dass die Sozialdemokratie die
Institutionen und die Verträge Deutschlands für die Außenpolitik
anerkennt. Das hat Handlungsspielraum eröffnet.
Ich würde mir wünschen, dass diejenigen, die heute
noch in der Außenpolitik abseitsstehen, sich möglicherweise
diese Erfahrungen zunutze machen und in den
nächsten vier Jahren dazulernen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Erika
Steinbach das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Erika Steinbach (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einige Sätze zu unserem sehr geschätzten
Nachbarland Polen: Glücklicherweise ist Warschau
nicht ganz Polen. Überall dort, wo die deutschen
Vertriebenen tagtäglich hinfahren – nicht mit der Faust
in der Tasche, sondern mit offenem Herzen –, gibt es ein
wunderbares deutsch-polnisches Miteinander.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dort, wo deutsche Politiker hinfahren, gibt es Aversionen
gegen diesen Teil der deutschen Bevölkerung. Das
muss man deutlich sagen.
(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Nein! Nicht
gegen Vertriebene gibt es Aversionen!)
Die Verantwortung dafür liegt in weiten Teilen bei Einzelpersonen
dieses Hauses.
(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Nicht gegen
Vertriebene gibt es Aversionen! – Hans-
Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Gegen Frau Steinbach!)
Gestern jährte sich der Fall der Mauer zum 20. Male.
Es ist schon wahr, was der Kollege Arnold Vaatz sagte,
nämlich dass aus den Reihen der Opposition dazu wenig
zu hören war. Ich weiß noch, wie erschrocken mancher
Sozialdemokrat vor 20 Jahren gewesen ist, weil die
Mauer gefallen war. Der Wunsch war bei vielen ein völlig
anderer.
(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Das ist ja
wirklich das Hinterletzte! – Claudia Roth
[Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das ist unglaublich!)
Zu den drei Ministerbereichen kann man heute deutlich
sagen: Alle drei haben mit Menschenrechten zu tun.
Deshalb war auch der gestrige Tag für mich sehr bemerkenswert.
Einige der farbenfrohen Dominosteine nämlich,
die aus diesem Anlass symbolisch zum Einsturz gebracht
wurden – symbolisch für das Eindrücken der
Mauer durch die Menschen in der DDR –, waren von
Schülern und Künstlern aus Südkorea und Zypern geschaffen
worden. Beides sind Länder, in denen es heute
noch Mauer und Stacheldraht gibt. Es ist auch ein Symbol,
dass sich diese Menschen die Einheit wünschen.
Der 9. November 1989 ist der Triumph der Freiheit
über die Knechtschaft in der DDR, eine Knechtschaft,
die die Menschen in diesem Teil Deutschlands seit 1933
in zwei unterschiedlichen Diktaturen in nahtloser Folge
erdulden mussten, von denen sie menschenfeindlich und
eisern beherrscht sowie ihrer Menschen- und Freiheitsrechte
beraubt worden sind. Der 9. November 1989 ist
aber auch ein Kontrapunkt zum 9. November 1938, wo
den Menschen in Deutschland und darüber hinaus drastisch
vor Augen geführt wurde, dass die Würde des
Menschen nicht unantastbar ist. Der eine 9. November
gibt Anlass zur Freude, der andere zu tiefer Trauer.
So war es für uns alle eine große Freude, dass gestern
Vertreter so vieler Länder anwesend waren und mit uns
diesen Freiheitstag gefeiert haben.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich fand die Bild-Zeitungszeile „Tränen der Freude“ so
anrührend, weil viele Tausend Menschen tapfer im strömenden
Regen ausgeharrt haben. Es ist ein Tag wiedergewonnener
Menschenrechte, der weit über Deutschland
hinausreicht. Dass die erste Generaldebatte am Tag nach
diesem wunderbaren Jubiläum stattfindet, ist eine, wie
ich meine, gute Fügung.
Ich freue mich, dass der Koalitionsvertrag sich ausdrücklich
zu den Menschenrechten bekennt und vieles
postuliert. Unter anderem steht darin:
Die Glaubwürdigkeit Deutschlands steht in direktem
Zusammenhang mit dem konsequenten Eintreten
für die Menschenrechte in der Außen- und Entwicklungspolitik.
Ihre Einhaltung ist das Fundament
für demokratische, wirtschaftliche und kulturelle
Entwicklung jedes Landes.
Die Bundeskanzlerin hat schon in den letzten vier
Jahren gezeigt, dass die Menschenrechte bei ihr einen
höheren Stellenwert haben als in den Jahren zuvor. Ich
freue mich, dass das ausdrücklich im Koalitionsvertrag
wieder niedergeschrieben ist.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Weiter heißt es im Koalitionsvertrag:
… Gedanken- und Meinungsfreiheit und die Freiheit
von Diskriminierung sind unveräußerliche
Prinzipien unserer Menschenrechtspolitik.
Menschenrechtspolitik ist darin aber nicht nur für
Deutschlands Politik nach außen formuliert, sondern auch
für unser deutsches Innenleben. Besonders begrüße ich
die Aussagen zu den Freiheitsrechten, die unter anderem
lauten:
Wir werden die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger
schützen und die Bürgerrechte stärken.
Weiter heißt es:
Wir wollen eine Gesellschaft mit Freiraum für
Selbstbestimmung, für Kreativität und für ein neues
Miteinander.
Auf dieses neue Miteinander freue ich mich nicht nur als
Bundestagsabgeordnete der Regierungskoalition, sondern auch als Präsidentin eines Opferverbandes in einem
Ehrenamt. Die Glaubwürdigkeit deutscher Menschenrechtspolitik
nach außen steht und fällt mit dem Handeln
in Deutschland selbst. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass
sich ein gutes Miteinander und Vertrauen zu anderen
Ländern durch menschenrechtswidrige Opfergaben zulasten
eigener Bürger und Organisationen erkaufen ließe.
Das lässt sich damit nicht erkaufen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Respekt lässt sich so nicht gewinnen.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Was heißt das denn?)
– Dann hören Sie einfach zu, Frau Roth.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ich habe zugehört!)
– Es geht weiter. Ich bin nicht fertig. Schließlich ist
meine Redezeit noch nicht zu Ende.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ich bin mal gespannt!)
Es ist die Aufgabe deutscher Politik – auch deutscher
Menschenrechts- und Außenpolitik –, die Traumata Millionen
deutscher Vertreibungsopfer, mit denen viele von
uns tagtäglich konfrontiert werden, in unseren Nachbarländern
zu erklären und verantwortungsvolles Handeln
gegenüber den Opfern in aller Welt anzumahnen, aber
auch selbst hier im Land zu praktizieren. Hertha Müller
hat am vorigen Sonntag in der Frankfurter Paulskirche
aus ihrem Buch Atemschaukel gelesen und geschildert,
wie die Menschen in den Lagern geknechtet wurden.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Steinbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck?
Erika Steinbach (CDU/CSU):
Nein, das möchte ich nicht. Danke schön. – Der
Goethe-Preisträger Raymond Aron hat in der Frankfurter
Paulskirche auch uns Deutschen ins Stammbuch geschrieben,
und zwar vor einem Auditorium, das ihm gut
zuhörte:
Der Charakter und die Selbstachtung einer Nation
zeigen sich darin, wie sie mit ihren Opfern der
Kriege und mit ihren Toten umgeht.
Raymond Aron hat recht. In dieser Frage gab es jahrelang
Defizite in der deutschen Politik. Bis heute hat noch
kein deutscher Außenminister – deshalb, Herr Außenminister,
ist es eine Aufgabe auch für Sie – an den Massengräbern
deutscher Zivil- und Lageropfer einen Kranz
niedergelegt, nicht bei den 2 116 Toten des Massengrabes
von Marienburg, nicht bei den Opfern der polnischen
Lager Lamsdorf oder Potulitz, nicht bei den Massengräbern
in der Tschechischen Republik oder in Ex-
Jugoslawien in Gakowa oder in Rudolfsknad. Deshalb
begrüße ich den Satz der Präambel des Koalitionsvertrages,
der da lautet:
Es heißt, aus den Fehlern zu lernen und ihre Wiederholung
zu verhindern.
Menschenrechte, meine lieben Freunde, sind unteilbar.
Unseren Nachbarländern zu vermitteln, dass sie
auch für deutsche Opfer gelten, ist unverzichtbarer Teil
einer ungeteilten Menschenrechtspolitik nach innen und
nach außen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Sascha Raabe.
Dr. Sascha Raabe (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aller guten Dinge sind drei. Das ist jetzt meine dritte Legislaturperiode;
ich bin seit 2002 dabei und war immer
im entwicklungspolitischen Ausschuss. Seitdem habe ich
schon an vielen Debatten zu diesem Thema teilgenommen.
Heute ist aber schon eine etwas skurrile Situation;
denn normalerweise hätte ich jetzt gar nicht zu einem
Entwicklungsminister sprechen können, sondern es hätten
hier nur Herr Westerwelle und der Verteidigungsminister
gesessen. Hinten hätten noch nicht einmal Mitarbeiter
des Entwicklungsministeriums Platz genommen,
sondern vielleicht ein Abteilungsleiter des Auswärtigen
Amts, der ein bisschen Zuständigkeit für Entwicklungsarbeit
gehabt hätte. Es kann doch nicht sein, dass ausgerechnet
die Partei, die in den Koalitionsverhandlungen
das Ministerium abschaffen wollte, nun den Entwicklungsminister
stellt. Das ist ein schlechter Witz, und das
werden wir in der Öffentlichkeit deutlich machen.
(Beifall bei der SPD)
Was die personelle Besetzung betrifft, Herr Niebel,
bei allem Respekt: Es gibt auch andere Minister, die in
ein Amt kommen – Sie selbst sagten es –, Anfänger sind
und sich dann bewähren. Aber ich hatte vorhin in der
Zwischenfrage schon gesagt, dass jemand, der die letzten
Monate damit verbracht hat, Stammtische zu bedienen
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das stimmt!)
und zum Beispiel Lehrer, die wir in Deutschland brauchen,
gegen Lehrer, die in Afrika genauso dringend gebraucht
werden, auszuspielen, und der immer wieder
sagt, dass Steuergelder verschwendet werden, wenn man
Geld nach Afrika gibt, sich aber heute als Minister als
Anwalt der Ärmsten der Armen darstellt, unglaubwürdig
ist. Das zeigt, wie wenig Ihnen in Wirklichkeit diese Arbeit
wert ist. Aber den Dienstwagen und den Posten
wollten Sie natürlich haben. Deshalb sind Sie Minister
geworden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/
CSU)
Ich sehe gerade den Kollegen Außenminister lächeln.
Ich erinnere mich, dass ich in den wenigen Jahren, die
ich diesem Hohen Hause angehöre, an Generaldebatten
über den Haushalt teilgenommen habe, in die Herr
Westerwelle als Fraktionsvorsitzender der FDP eingestiegen
ist und in denen er als allererstes zum Haushalt,
wohlgemerkt, gesagt hat, der Haushalt sei ganz schlimm,
weil Millionen an China und Indien verschwendet würden.
(Zuruf von der FDP: Das hat kein Mensch gesagt!)
Immer wieder kam das Argument, es würden Steuergelder
an Länder verschwendet, die es aber in Wirklichkeit
bitter nötig hatten. Man hat so getan, als würden wir der
Regierung Mittel geben, die diese unsinnig verwendet.
Es wurde aber gar nicht hingeschaut, dass es darum ging,
Klimaschutz, Umweltschutz und Energieeffizienz zu
verbessern. Wenn wir jetzt, kurz vor dem Gipfel in Kopenhagen,
nicht verstehen, dass wir auch darauf achten
müssen, dass wir in Ländern, die über 2 Milliarden Einwohner
haben, Anreize für Energieeffizienz und dafür
schaffen, dass dort mit Rohstoffen sparsam gehaushaltet
wird, dann können wir den Schutz des Weltklimas ganz
abschreiben.
Deswegen sage ich: Schluss mit dem Populismus!
Lassen Sie uns sowohl die Klimaprobleme als auch die
Probleme der Entwicklungszusammenarbeit endlich einmal
ernst nehmen. Dann können wir vielleicht irgendwann
zusammenkommen, Herr Entwicklungsminister.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Der Koalitionsvertrag – ich will ihn an einer Stelle
fair bewerten – hat einen entwicklungspolitischen Abschnitt,
der zum Teil sehr stark die Handschrift unseres
ehemaligen Koalitionspartners, der Union, trägt. Dieser
Abschnitt enthält durchaus Sätze, die wir, die SPD, und
unsere Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul mitgetragen
haben; allerdings steht im Abschnitt zur Außenwirtschaftspolitik
zum Teil das genaue Gegenteil davon. Da
ist es einfach unglaubwürdig, zu sagen, man wolle Entwicklungsländern
wirtschaftlich Hilfe zur Selbsthilfe
leisten; schließlich sorgt man gleichzeitig dafür, dass alle
Schutzzölle eingerissen werden, wodurch die Märkte mit
Agrarprodukten aus Europa und aus den USA überschwemmt
werden, ohne dass sich die Kleinbauern, die
jetzt schon größte Schwierigkeiten haben, ihre Produkte
zu verkaufen, dagegen schützen können.
Auf diesen Tagesordnungspunkt folgt die Landwirtschaftsdebatte;
Frau Ministerin Aigner ist schon da. Frau
Aigner, Sie haben in Europa nicht verhindert, dass zum
Beispiel für Milchpulver aus Europa Exportsubventionen
gezahlt werden. Ihre Politik ist nicht kohärent. Mit
Ihrer Handelspolitik reißen Sie das wieder ein, was wir
in vielen Jahren mühsam aufgebaut haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Ich möchte ferner ansprechen, dass wir, das deutsche
Parlament, den Menschen auf der Welt versprochen haben,
die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit bis
2010 auf 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens zu
steigern; bis 2015 sollen sie auf 0,7 Prozent gesteigert
werden.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Das hättet ihr doch mit Rot-Grün schon machen
können! Da habt ihr runtergefahren!)
Das ist in Europa gemeinsam vereinbart worden, und die
Kanzlerin hat zu diesem Ziel immer wieder gestanden.
Wir werden beim Haushalt 2010 genau hinschauen, ob
das seinen Niederschlag findet. Ich frage mich, wie Sie,
die FDP, das erreichen wollen, wenn Sie ankündigen,
von den CO2-Emissionserlösen solle nichts dafür verwendet
werden.
Dieses Versprechen haben Sie nicht nur 80 Millionen
Deutschen gegeben – viel mehr Deutsche, als Sie denken,
sind in kirchlichen Einrichtungen organisiert; sie arbeiten
ehrenamtlich in Eine-Welt-Läden; sie engagieren
sich in kleinen Hilfsorganisationen oder an Schulen für
arme Menschen –, sondern auch 3 Milliarden Menschen,
die von weniger als 2 Dollar pro Tag leben, und
1 Milliarde Menschen, die jeden Tag vom Hungertod bedroht
ist. Wenn Sie das Versprechen nicht einhalten, in
den Haushalt für das nächste Jahr 0,51 Prozent Mittel für
Entwicklungszusammenarbeit einzustellen, dann ist das
angesichts der Anzahl der Menschen, denen Sie es gegeben
haben, die größte Wahllüge, die es in der Geschichte
dieser Republik je gegeben hat.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Was
haben Sie vereinbart? Sie haben nichts gemacht
unter Rot-Grün!)
Wir werden genau hinschauen. In diesem Sinne werden
wir Ihnen eine feurig-kritische Opposition sein. Ich
glaube, das haben Sie auch nötig.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer für die
SPD-Fraktion.
Christoph Strässer (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Schluss dieser sehr intensiven Debatte steht noch
einmal das Thema Menschenrechte auf der Tagesordnung.
Ich möchte einfach darauf hinweisen, dass der
Deutsche Bundestag vor elf Jahren einen sehr richtungweisenden
Beschluss über das gefasst hat, was Menschenrechtsarbeit
ist, nämlich eine Arbeit, die kohärent
durch alle Politikfelder geht, die in allen Politikfeldern
zu betrachten ist. Ich meine, an dieser Tatsache sollten
wir den Koalitionsvertrag messen.
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das steht drin!)
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Neben den vielen
Dingen, die in diesem Koalitionsvertrag stehen und deren
Einhaltung wir überprüfen werden, ist für mich die
größte Enttäuschung, dass darin zu menschenrechtlichen
Themen, die auch in Deutschland relevant sind – angesichts
der kurzen Redezeit beziehe ich mich ausdrücklich
darauf –, so gut wie gar nichts steht. Das, was darin
steht, ist völlig unzureichend.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen.
Frau Steinbach hat – wie ich finde, zu Recht – diese
Diskussion eröffnet, indem sie gesagt hat: Menschenrechte
sind unteilbar; sie sind universell, und sie gelten
entsprechend Art. 1 des Grundgesetzes – „Die Würde
des Menschen ist unantastbar“ – für alle Menschen, die
in Deutschland leben. Darauf möchte ich jetzt noch einmal
hinweisen. Im Koalitionsvertrag steht eine ganze
Menge über Strategien im Ausland. Ich verweise nur
einmal auf das, was dort zu Afrika steht – das ist nur ein
kleiner Abschnitt; ich dachte eigentlich, der Kollege
Fischer hätte ein größeres Standing in seiner Fraktion;
mehr hat er aber nicht zustande gebracht –: Man muss
Afrika dabei unterstützen, sich selbsttragend mit Flüchtlingsströmen
auseinanderzusetzen und die damit verbundenen
Probleme zu lösen. Das ist richtig. Dagegen ist
überhaupt nichts einzuwenden. Aber, meine Damen und
Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt nun einmal
auch Menschen in Afrika, denen wir Unterstützung
geben müssen, weil sie in ihren Ländern – das haben wir
ein Stück weit mitzuverantworten – nicht mehr leben
können. Daran, wie wir mit diesen Menschen umgehen,
bemisst sich auch der Wert von Außenpolitik, von Sicherheitspolitik
und von Menschenrechtspolitik. Da
muss man sich dann auch Fragen stellen.
Wir haben – das finde ich gut – mit dem EU-Vertrag
auch eine Grundrechtecharta verabschiedet. Das heißt,
in allen Ländern der EU bis auf die Tschechische Republik,
Polen und Großbritannien gelten Grundrechte unmittelbar.
Das ist ein Riesenfortschritt. Dass das erreicht
worden ist, ist unter anderem ein Verdienst der vorherigen
Bundesregierung. Dafür auch noch einmal einen
ganz herzlichen Dank! Wenn man das aber ernst nimmt,
dann muss man sich schon einmal die Frage stellen: Wie
gehen eigentlich dieses Europa und insbesondere das
größte Land in diesem Europa damit um, dass Menschen
aus Afrika, denen vor Ort nicht geholfen werden kann,
Sicherheit für ihr Leben, für ihre Ernährung und für ihre
Gesundheit irgendwo anders suchen? Diesen Menschen
zu helfen ist, wie ich denke, auch eine Aufgabe deutscher
Menschenrechtspolitik. Ob es uns gelingt, ein vernünftiges
und faires Asylverfahren für alle einzuführen,
ist auch ein Punkt, an dem wir uns messen lassen müssen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Dabei geht es dann auch um die Frage, wie wir mit
den Leuten umgehen, die hier sind. Ich habe sehr wohl
gelesen – ich weiß, das fällt nicht in Ihr Ressort, aber es
ist doch sehr spannend –, dass man sich bemüht, eine
zeitnahe Lösung des sogenannten Bleiberechtsproblems
bei denjenigen, die unter die sogenannte Altfallregelung
fallen, herbeizuführen. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Union, das hätten Sie schon seit langem
haben können.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir lassen Menschen in Unsicherheit, in Angst und
Sorge um ihre Existenz, und Sie sagen jetzt: Wir kümmern
uns um eine zeitnahe Lösung. Sie können ganz sicher
sein: Sie werden von unserer Fraktion in absehbarer
Zeit eine klare Lösung vorgelegt bekommen. Dabei kann
man sich nicht darauf beschränken, die Stichtagsregelung
um ein Jahr zu verschieben. Ich weiß doch ganz genau:
In einem Jahr ist die Krise nicht beendet, in einem
Jahr sind die Probleme für diese Menschen auf dem Arbeitsmarkt
so, wie sie jetzt sind, vielleicht sogar noch
schlimmer. Deshalb brauchen wir eine Altfallregelung,
bei der im Gesetz Menschenrechtsaspekte berücksichtigt
werden und die damit diesen Namen auch verdient. Daran
werden wir Sie messen, aber wir werden selber auch
entsprechende Vorschläge einbringen. Wir sind sehr gespannt,
was dabei herauskommt. Gerade an dieser Stelle
muss sich unter dem Aspekt der Menschenwürde die
deutsche Menschenrechtspolitik messen lassen.
Wir haben viele internationale Vereinbarungen unterschrieben.
Wir sind dabei, noch weitere Vereinbarungen
zu unterschreiben. All das, was Sie, Herr Außenminister,
bezüglich nuklearer Abrüstung und zum Fortschaffen
von Atomwaffen von deutschem Boden gesagt haben, ist
zwar richtig, aber – ich bin dem Kollegen Nouripour
sehr dankbar, dass er das hier einmal klargemacht hat –
die wirklichen Risiken für Menschen in anderen Kontinenten
stellen kleine und leichte Waffen dar. Ich fordere
Sie auf, die Prüfung eines vernünftigen Abkommens
zur Verhinderung des Exports von kleinen und
leichten Waffen, die in den Vereinten Nationen gerade
läuft, ernst zu nehmen. Durch diese Waffen sterben Hunderttausende
von Menschen. Solche Abkommen muss
Deutschland mit auf den Weg bringen. Hierfür sollten
Sie sich in Kontinuität zur alten Bundesregierung einsetzen.
Das wäre meine herzliche Bitte an Sie.
Ein letzter Punkt liegt mir noch auf dem Herzen: Ich
war sehr froh darüber, dass im Koalitionsvertrag die Bemerkung
steht, dass man den Vorbehalt gegenüber der
Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen aufheben
will. Ich bin zunächst einmal sehr froh darüber,
dass Sie endlich akzeptieren, dass es einen solchen Vorbehalt
gibt. Ich kann mich noch an Debatten erinnern,
bei denen hier gesagt wurde, einen solchen Vorbehalt
gebe es überhaupt nicht. Jetzt wurde festgestellt, dass es
ihn gibt. Ich kann Ihnen nur sagen, auch daran werden
wir Sie messen. Sie werden noch in diesem Jahr einen
Antrag von uns auf den Tisch bekommen, in dem wir
fordern, die Vorbehalte zurückzunehmen. Dann können
Sie beweisen, dass Sie es an dieser Stelle ernst meinen.
Das wäre ein guter Fortschritt in der deutschen Menschenrechtspolitik,
insbesondere zugunsten von Kindern.
Danke schön.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen nicht vor.
* Quelle: Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 3. Sitzung, Berlin, Dienstag, den 10. November 2009 (Plenarprotokoll 17/3); www.bundestag.de/dokumente/protokolle/plenarprotokolle/17003.pdf
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