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Niebel: "Vernetzte Sicherheit bedeutet keine Militarisierung der Entwicklungspolitik" / Hänsel: "Nach neun Jahren Krieg kann von Fortschritt keine Rede sein"

Wortlaut: Afghanistan-Debatte im Deutschen Bundestag unter entwicklungspolitisachen Aspekten


Am 21. Januar 2011 debattierte der Deutsche Bundestag gleich zwei Mal über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. Das erste Mal - in der Vormittagssitzung - unter entwicklungspolitischen, das zweite Mal - am Nachmittag - unter außen- und sicherheitspolitischen Aspekten. (Die Nachmittagssitzung haben wir hier dokumentiert.)
Im Folgenden dokumentieren wir die entwicklungspolitische Debatte, die mit einer Regierungserklärung des Entwicklungsministers Dirk Niebel eröffnet wurde.
Die Redner/innen sprachen in dieser Reihenfolge: Wir folgen dabei dem vorläufigen Protokoll der nach § 117 GOBT autorisierten Fassung.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! (...)

Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 21 auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

zum zivilen Wiederaufbau in Afghanistan

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung erhält nun der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer heute an den Hindukusch kommt, der sieht: Die Kinder lassen wieder Drachen steigen. Ich glaube, es ist ein gutes Zeichen, dass diese Lebensfreude in Afghanistan wieder Fuß fasst.

An den Anfang der Debatte über den zivilen Wiederaufbau möchte ich den Dank an all jene stellen, die von deutscher Seite zu dieser Entwicklung beigetragen haben:

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

die Diplomaten und Polizisten, die Soldaten und Entwicklungsexperten. Sie arbeiten im Team. Ihr Einsatz nötigt uns Respekt ab, und ihre Opfer machen uns betroffen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES/90 DIE GRÜNEN)

Am Heiligen Abend wurde zum ersten Mal ein deutscher Mitarbeiter unserer staatlichen Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan ermordet. Ich war gestern bei der Trauerfeier. Unsere Gedanken sind bei seinen Angehörigen, aber auch bei seinem verwundeten afghanischen Kollegen. Ich wünsche ihm baldige, vollständige Genesung.

Opfer und Rückschläge bewirken, dass in der Öffentlichkeit Zweifel am Erfolg unseres Engagements in Afghanistan laut wurden. Unüberhörbar sind die Fragen ganz besonders der Angehörigen: Wie lange sollen wir noch Opfer bringen? Wird die Lage durch unseren Einsatz überhaupt besser? - Wir gewinnen nichts, wenn wir die Lage schöner reden, als sie ist. Das ist der Fehler, der früher oft gemacht worden ist. Aber wir gefährden alles, wenn wir die Lage schlechter reden, als sie ist. Das ist der Fehler, den wir in Zukunft nicht machen werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Sicherheitslage, liebe Kolleginnen und Kollegen, macht uns Sorge. Die Aufständischen töten wahllos. Sie zielen auf Zivilisten und Menschenrechte, auf Völkerrecht und Wiederaufbau. So konnte die medienwirksame Behauptung, nichts sei gut in Afghanistan, viel Widerhall erhalten. Schwarz-Weiß-Malerei spielt den Extremisten in die Hände. „Nirwanasätze“ sind immer falsch und gelegentlich unverantwortlich. Richtig ist: Vieles ist besser geworden in Afghanistan. Richtig ist: Deutschlands Rolle in Afghanistan verstehen wir nur, wenn wir den Vorrang des zivilen Wiederaufbaus vor dem militärischen Einsatz sehen. Vieles ist besser geworden, auch dank des Engagements vieler Afghaninnen und Afghanen. Wer zu ihrem Land nicht mehr zu sagen hat als Extremismus, Terrorismus oder „Nichts ist gut“, der versteht nicht, warum es so gut ist, dass heute wieder Drachen fliegen.

Mich hat bei meinen Besuchen der Aufbauwille der Afghanen beeindruckt. Der Fortschrittsbericht der Bundesregierung vom Dezember zeigt hier ein sehr differenziertes Bild der Situation. Wenn wir die Situation am Anfang des deutschen Engagements in Afghanistan mit der Lage in den letzten ein bis zwei Jahren vergleichen, stellen wir fest: Der Faktencheck für Afghanistan straft diejenigen Lügen, die mit schwarzmalerischer Rhetorik versuchen, den kompletten Einsatz Deutschlands zu diskreditieren. Jede vierte Frau erhält bei der Geburt medizinische Hilfe. Der Getreideertrag hat sich seit 2000 mehr als verdoppelt. 7 Millionen Schülerinnen und Schüler gehen zur Schule. Vor zehn Jahren waren es 1 Million. Die Kindersterblichkeit ist von 250 pro 1 000 Lebendgeburten auf 161 zurückgegangen. Die Zahl der Kinderheiraten ist um weit über 60 Prozent gesunken. Während 2001 kein einziges Mädchen zur Schule gehen konnte, liegt der Anteil der Mädchen in den Grundschulen heute bei knapp 40 Prozent. Frauen stellen im afghanischen Parlament 28 Prozent der Abgeordneten.

Mit Gesundheit, Menschenrechten und Bildung macht auch die Wirtschaft Fortschritte. Die Weltbank prognostiziert für das laufende Jahr ein Wirtschaftswachstum von 8,5 bis 9 Prozent. Die Staatseinnahmen haben sich seit 2002 verzehnfacht. So kann mittlerweile die afghanische Regierung mehr und mehr die Gehälter für Lehrer und Polizisten übernehmen. Das Bruttosozialprodukt hat sich fast vervierfacht. Immer mehr Menschen können ohne Hilfslieferungen leben. Diese Zahlen zeigen, dass es verantwortungslos ist, ohne Kenntnis der Situation vor Ort Erfolge schlechtzureden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Richtig ist, dass wir Familien, Frauen und Mädchen neue Lebenschancen geben konnten. Auch ich kann mir allerdings vieles besser vorstellen. Aber gerade weil vieles besser werden kann, ist Deutschlands Rolle jetzt nicht schlechtreden, sondern besser machen und Fortschritte sichern; denn noch sind die Fortschritte nicht unumkehrbar.

Leider, liebe Kolleginnen und Kollegen, wurden zu Beginn der Intervention 2001 von vielen Seiten überzogene Erwartungen an diesen Einsatz geweckt. Diese Erwartungen waren nicht realistisch. Grundlegende wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Veränderungen finden auch hier eher in Dekaden als in Monaten oder Jahren statt. Ich möchte das mit einem Beispiel belegen, das mir sehr eindringlich in Erinnerung geblieben ist. Als ich im letzten Jahr ein Teacher Training Center in Masar-i-Scharif eröffnet habe, wurde mir von dem Direktor beim Rundgang gesagt, dass ungefähr 30 Prozent der angehenden Lehrerinnen und Lehrer, die dort unterrichtet werden, erst einmal alphabetisiert werden müssen. Bevor die Bildungselite dieses Landes in die Lage versetzt wird, junge Menschen zu unterrichten, muss sie erst einmal Lesen und Schreiben lernen. Das zeigt ungefähr, von welcher Basis aus wir anfangen zu arbeiten.

Diese Bundesregierung hat den Strategiewechsel in Afghanistan vollzogen, hin zu einem sehr viel stärkeren zivilen Engagement. Wir haben das international auch durchgesetzt. Ohne den zivilen Erfolg ist unser Gesamtziel in Afghanistan nicht zu erreichen. Die zivilen Mittel der Bundesregierung zur Stabilisierung und Entwicklung des Landes haben wir massiv aufgestockt von weniger als 200 Millionen Euro 2008 auf rund 430 Millionen Euro 2010, davon allein 245 Millionen Euro aus dem Haushalt des BMZ. Dadurch hat sich unser Engagement vor allem im Norden ganz erheblich intensiviert.

Einige Beispiele für die Leistungen allein in den Jahren 2009 und 2010 belegen das. 85 000 Haushalte haben eine bessere Trinkwasserversorgung erhalten. 117 Kilometer Straßen sind repariert oder neu gebaut worden als Lebensadern für die Bevölkerung dieses Landes. 12 000 Menschen konnten sich beruflich fortbilden.

Solche konkreten Verbesserungen haben es möglich gemacht, dass die Privatwirtschaft in Afghanistan dynamisch gewachsen ist. Wir haben die First Microfinance Bank mit aufgebaut. Allein 2009 und 2010 gingen über 450 Kredite an kleine und mittlere Unternehmen. 42 000 Menschen haben von Mikrokrediten profitiert, darunter alleine 6 000 Frauen.

Mit BMZ-Hilfe ist die afghanische Investitionsförderagentur aufgebaut worden, bei der bis heute über 12 000 Unternehmen registriert sind mit einem Investitionsvolumen von ungefähr rund 4 Milliarden Euro. Deutschland ist mit der Aufstockung der zivilen Mittel in Afghanistan zum größten europäischen Geber geworden und ist nach Japan und den USA der drittgrößte Geber weltweit. Diese Ausgaben sind Investitionen in den Frieden.

Diese massive Aufstockung der Mittel hätte ohne Zweifel deutlich früher geschehen müssen. Erst die jetzige Bundesregierung engagiert sich in einer Größenordnung, die den Herausforderungen auch tatsächlich gerecht wird. Mit unserer Entwicklungsoffensive in Nordafghanistan kommen wir sichtbar und wirksam voran. Das BMZ hat seine eigenen Anstrengungen enorm gesteigert, und zwar nicht nur finanziell. Die gut 1 300 zivilen Mitarbeiter, die wir im März 2010 vor Ort hatten, werden wir auf 2 500 Mitarbeiter fast verdoppeln. Zurzeit sind es bereits 1 700 Mitarbeiter, darunter allein 260 internationale Experten.

Ich habe auch das Personal des BMZ, das die Entwicklungsarbeit vor Ort koordiniert, deutlich verstärkt. Ab dem 1. Februar stellt das BMZ die Entwicklungsdirektorin im RC North, die gleichzeitig die deutsche Entwicklungsbeauftragte für Afghanistan ist. Das deutsche Engagement in Afghanistan ist also weit mehr als bloß der Einsatz von Militär.

Wo kämen wir im Übrigen hin, wenn wir bei sehr komplexen Aufgaben wie in Afghanistan in der Kleinteiligkeit von Ressortzuständigkeiten denken würden? Das gemeinsame Vorgehen verstehen wir unter vernetzter Sicherheit. Die sehr deutschen, innerdeutschen kontroversen Diskussionen zu diesem Thema sind, wenn man sich die Praxis vor Ort anschaut, kaum verständlich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vernetzte Sicherheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, bedeutet keine Militarisierung der Entwicklungspolitik, keine „embedded“ Entwicklungshelfer, keine Soldaten neben Brunnenbohrlöchern.

(Zuruf der Abg. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - Zurufe von der SPD)

Der vernetzte Ansatz bedeutet die bessere Abstimmung im Sinne des gemeinsamen politischen Ziels. Wir wollen die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Erfolge Afghanistans stärken. Darum ist jetzt übrigens auch der Zeitpunkt gekommen, dass sich die deutsche Wirtschaft mehr in Afghanistan engagiert als bisher.

China hat längst das Potenzial Afghanistans erkannt. China investiert Milliarden in den dortigen Kupferbergbau. Zurzeit ist eine große Eisenerzmine ausgeschrieben. Wenn allein diese beiden Bergbauprojekte realisiert werden können, kann der afghanische Staat ab 2016 über 500 Millionen US-Dollar pro Jahr an zusätzlichen Einnahmen verbuchen, und ungefähr 100 000 Arbeitsplätze für afghanische Bürgerinnen und Bürger werden geschaffen.

(Zuruf der Abg. Kathrin Vogler (DIE LINKE))

- Sie können gern eine Zwischenfrage stellen.

Entscheidend bei der Frage der Rohstoffförderung in Afghanistan - hierbei hat Deutschland große Kompetenzen - ist die Frage der Transparenz, die Frage, ob diese Werte den Bürgerinnen und Bürgern des eigenen Landes zugutekommen. Ich glaube, wenn dieses breitenwirksame Wachstum dazu beiträgt, dass Afghanistan zusätzliche eigene Staatseinnahmen erzielen kann, und wenn Bürgerinnen und Bürger Berufschancen bekommen, dann ist es ein guter Weg, auch an diesen Bereich zu denken.

Afghanistan ist darüber hinaus voller Chancen. Übrigens ist die Qualität deutscher Produkte in Afghanistan bekannt, und deutsche Produkte genießen dort einen guten Ruf. Der Nachholbedarf Afghanistans kann auch als Potenzial für deutsche Unternehmen angesehen werden, zur Entwicklung des Landes beizutragen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ungeachtet der erfreulichen Fortschritte bleibt natürlich ein großer Berg von immensen Herausforderungen vor uns. Immer noch viel zu wenige Menschen haben die Gelegenheit, ihre Grundbedürfnisse zu decken. Dies gilt insbesondere für die ländlichen Regionen. Afghanistan bleibt nach wie vor ein sehr armes Land.

Der Schlüssel zur langfristigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Afghanistans liegt im politischen Bereich. Was gute Regierungsführung angeht, besteht auf allen Ebenen ein gravierendes Defizit. Zu den Kernproblemen gehören die weitverbreitete Korruption, mangelnde Leistungsfähigkeit staatlicher Instanzen und fehlende Rechtssicherheit.

Ich kann Ihnen versichern, dass diese Bundesregierung in ihren Gesprächen vor Ort, aber auch in den jährlichen Regierungsverhandlungen diese Punkte sehr klar und deutlich anspricht und klare Worte dafür findet. Auch wir befürchten einen Rollback bei den Menschenrechten in Afghanistan und stellen uns dem entgegen, weil es ein Kernbestand der wertegebundenen Politik dieser Bundesregierung ist, die Achtung der Menschenrechte einzufordern.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Allerdings sollte man nicht dem Irrglauben erliegen, dass die internationale Gemeinschaft die Karzai-Administration nach Belieben steuern könnte. Deshalb ist es so wichtig, dass wir gezielt die afghanischen Demokraten und Reformkräfte stärken. Sie müssen die Befähigung haben, in ihrem eigenen Land Menschenrechte und bessere Regierungsführung einzufordern.

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird vor diesem Hintergrund in diesem Jahr seine Zusage an die afghanische Regierung in zwei Tranchen aufteilen. Wir haben dadurch die Möglichkeit, den Fortgang der Reformen angemessen zu begleiten und auf den Fortschritt der Reformen angemessen zu reagieren. Entschlossene Reformen der afghanischen Regierung sind der Grundstein für eine nachhaltige wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung in diesem Land.

Erfolg in Afghanistan ist aber auch abhängig von einer Stabilisierung der ganzen Region. Das gilt insbesondere für so wichtige Partner wie Pakistan. Deshalb werden wir dort weiterhin die demokratische Stabilisierung und die Verbesserung der Lebensbedingungen unterstützen. Was unsere Partnerregierungen aber allein schaffen müssen, ist, das Vertrauen der eigenen Bürger wiederzugewinnen. Hier muss auch Pakistan Reformen durchführen, Ungerechtigkeiten abbauen und Wege aus der wirtschaftlichen Sackgasse aufzeigen.

Ein nachhaltiger Entwicklungsprozess in Afghanistan wird immer von einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitslage abhängen. Vergangenes Jahr hat die Freie Universität Berlin in einer Studie deutlich gemacht, dass ohne ein Minimum an Sicherheit keine effektive und wirksame Entwicklungsarbeit möglich ist. Sicherheit ist die Grundvoraussetzung, um wirksam arbeiten zu können.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In den meisten Distrikten im Norden können wir weiterhin unter relativ guten Bedingungen arbeiten. Die Sicherheitslage wirkte sich aber im vergangenen Jahr in einigen Regionen, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Baghlan, negativ auf die zivile Hilfe aus. Hier verfügen unsere zivilen Helfer teilweise nicht mehr über den notwendigen Bewegungsfreiraum, um die Projektumsetzung effizient zu begleiten. Die instabilen Gebiete müssen deshalb durch ISAF und vor allem durch die afghanischen Sicherheitskräfte gesichert werden, bevor die zivile Hilfe dort greifen kann. Langfristig können nur afghanische Sicherheitskräfte die nötige Sicherheit in der Fläche herstellen, die zwingende Voraussetzung für die afghanische Bevölkerung ist, damit zivile Helfer sie beim Aufbau ihres Landes begleiten können. Auch aus diesem Grund konzentriert sich ISAF auf die Befähigung der afghanischen Sicherheitskräfte. Bis 2014 wollen wir die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen erreichen. Das ist weit mehr als ein nur militärisch relevanter Vorgang.

Ich freue mich - das sage ich ganz ausdrücklich -, dass die Zusammenarbeit zwischen den vier Afghanistan-Ressorts, dem Auswärtigen Amt, dem Bundesministerium des Innern, dem Bundesministerium der Verteidigung und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, so viel besser läuft als früher.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Unsere Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan wird über die Übergabe der Sicherheitsverantwortung hinausreichen, und sie wird auf jeden Fall jenseits des Komplettabzugs von ISAF weiter notwendig sein. Die Menschen in Afghanistan zählen auf unsere Unterstützung. Ungefähr 50 Prozent der Menschen in Afghanistan sind jünger als 15 Jahre, also ideale Drachenläufer. Sie wollen ein anderes, ein besseres Leben als ihre Eltern. Wir können ihnen dabei helfen.

Das Schaffen von Perspektiven und Lebenschancen entspricht beidem: sowohl unseren eigenen Interessen als auch unseren gemeinsamen Werten. Deswegen bin ich froh und dankbar, dass die Bundesregierung sich entschieden hat, heute, noch im Vorfeld der Debatte über die Verlängerung des militärischen Mandats für Afghanistan, deutlich zu machen, welche zivilen Komponenten hier in der Vergangenheit wichtig waren und für die Zukunft wichtig sind und wo unsere Erfolge auch in diesem Bereich liegen. Die zivile Betrachtung fällt hinter der militärischen oftmals ab. Sie ist aber mindestens genauso wichtig, wenn man die Zukunft betrachtet, sogar wesentlich wichtiger als alles, was in militärischen Bereichen der Vergangenheit berichtet wurde. Ich möchte eins deutlich machen: Auch in Afghanistan gilt das Primat der Politik.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Dr. Gernot Erler für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vieles hat sich im vergangenen Jahr verändert. Unter dem Druck der problematischen, teilweise dramatischen Entwicklung vor Ort ist die Afghanistan-Politik in den Vereinigten Staaten, in der Gemeinschaft der 48 Länder, die sich vor Ort engagieren, und auch in Deutschland neu ausgerichtet worden. Meine Partei, die SPD, hat dazu wirksame Anstöße gegeben, nicht zuletzt durch zwei große Afghanistan-Konferenzen im Januar und im Dezember 2010. Im Zuge dieses Veränderungsprozesses, dieses Umdenkens, ist auch ein neuer Konsens entstanden, so darüber, dass ein militärischer Sieg über die Aufständischen in Afghanistan ausgeschlossen erscheint, dass deshalb nur eine politische Lösung möglich ist, die mit dem Abschied von einigen langgehegten Illusionen einhergeht, und dass sichtbare Erfolge und Fortschritte bei dem Wiederaufbau und der Entwicklung Afghanistans bei einer solchen politischen Lösung eine außerordentlich wichtige Rolle spielen.

Das war der Hintergrund für unsere Forderung vom Januar letzten Jahres, die eingesetzten Mittel für den zivilen Wiederaufbau Afghanistans zu verdoppeln. Wir begrüßen es, dass die Bundesregierung dieser Aufforderung gefolgt ist und die Mittel für den zivilen Aufbau für die Jahre 2010 bis 2013 auf 430 Millionen Euro jährlich angehoben und damit beinahe verdoppelt hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zugleich bedauern wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die Regierungskoalition nicht dazu entschließen konnte, den gesamten deutschen Afghanistan-Einsatz einer unabhängigen fachlichen Evaluierung zu unterziehen, unter Heranziehung nicht nur wissenschaftlicher Expertise, sondern auch der praktischen Erfahrungen von Entwicklungsexperten, von NGOs und Mittlerorganisationen, die vor Ort tätig sind, wie wir es vorgeschlagen haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Immerhin: Wir haben im Dezember einen „Fortschrittsbericht Afghanistan“ von 108 Seiten erhalten, der sich auf 20 Seiten auch dem Thema „Wiederaufbau und Entwicklung“ widmet. Dieser Fortschrittsbericht enthält zahlreiche Daten und Fakten, er geht auch auf Fehlentwicklungen und Defizite ein, und er stellt jede künftige Diskussion über unseren Einsatz in Afghanistan auf eine bessere Grundlage, was aktuelle Sachstände und Fakten angeht. Sehr gerne haben wir auch die ausdrückliche Kooperationsbereitschaft von Botschafter Michael Steiner, dem Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan, was Rückfragen und Auskünfte angeht, angenommen.

Aber trotzdem müssen wir feststellen, dass wir mit der Ausweitung und Aufwertung des zivilen Aufbaus noch längst nicht da sind, wo wir hinwollen und hinmüssen. Es sind gerade die Berichte der Entwicklungsexperten, der Nichtregierungsorganisationen und der Mittlerorganisationen von ihrer konkreten Arbeit vor Ort, die sich leider nicht in dem nötigen Ausmaß in dem Fortschrittsbericht wiederfinden - auch nicht in Ihrer Regierungserklärung, die Sie heute abgegeben haben -, die zum Teil zu völlig anderen Lageeinschätzungen führen und die einige dringend zu lösende Probleme benennen. Herr Minister, das ist nicht Schwarzmalerei, und das ist auch nicht das Schlechtreden von Erfolgen. Ich will das an zwei kurzen Beispielen hier zeigen.

Ein Thema, das in unseren Gesprächen mit den Entwicklungsorganisationen immer wieder angesprochen wurde, ist, Herr Minister, Ihre Doktrin von der sogenannten vernetzten Sicherheit, die bei den Betroffenen auf breite Ablehnung stößt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Nicht das ist unverständlich, wie Sie das hier gesagt haben, sondern Ihre Sturheit bei der Doktrin der vernetzten Sicherheit ist unverständlich. Ich fordere Sie, Herr Minister, in aller Deutlichkeit auf: Hören Sie auf, Druck auf NGOs zu machen, sich in voller Sichtbarkeit in den Dienst militärischer Ziele zu stellen!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Beenden Sie die damit verbundene Instrumentalisierung des zivilen Aufbaus! Erkennen Sie endlich an, dass der zivile Aufbau im Rahmen der veränderten Afghanistan-Strategie einen erweiterten Eigenwert hat! Akzeptieren Sie die jahrzehntelangen Erfahrungen dieser Entwicklungsorganisationen, und lassen Sie sie selbst entscheiden, wie sie ihre Arbeit machen wollen! Sie wissen am besten, wie sie das in größter Sicherheit tun können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Mehrere Organisationen haben uns versichert, Herr Minister, dass sie weder etwas gegen die Bundeswehr haben noch eine Kooperation ablehnen. Aber sie halten Ihre Doktrin für kontraproduktiv.

Sie ist es, nebenbei gesagt, auch für die Zukunft. Inzwischen gibt es ja den internationalen Konsens - Sie haben das angesprochen -, dass bis 2014 die Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände übergehen soll und dann keine Kampftruppen mehr vor Ort eingesetzt werden sollen. Zugleich versichern wir unseren afghanischen Freunden, dass unser Engagement vor Ort deswegen nicht endet, sondern dass der zivile Aufbau fortgesetzt werden soll. Mit anderen Worten: Dann ist die Bundeswehr weg, die Entwicklungsorganisationen sind aber noch da. Was ist dann mit Ihrer Doktrin von der vernetzten Sicherheit?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt noch ein zweites Feld dringenden Handlungsbedarfs. Wenn man dem Fortschrittsbericht folgt, dann sind allein zwischen 2002 und 2008 nicht weniger als 20 Milliarden Dollar an offizieller Entwicklungshilfe nach Afghanistan geflossen. In den letzten beiden Jahren sind die Jahresraten sogar gestiegen, auch durch die Verdoppelung des deutschen Anteils. Diese umfangreichen Leistungen schlagen sich aber nicht nieder in einem breiten Vertrauen der Menschen in ihre eigene Regierung, in die internationale Gebergemeinschaft und in ihre eigene Zukunft. Eigentlich sollte man das erwarten. Es ist aber nicht der Fall.

Der Hauptgrund dafür ist die ungezügelte Korruption. Ich wundere mich schon, Herr Niebel, dass dieser Begriff in Ihrem Bericht überhaupt nicht vorkommt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Korruption würgt alle Erfolge des zivilen Aufbaus ab wie ein gefährlicher Parasit. Das Bild von mit Geld prall gefüllten Koffern, die über den Kabuler Flughafen rollen, von niemandem an ihrer Reise gehindert, frisst sich in die Köpfe auch all derer, die sich eigentlich über den Bau einer neuen Schule in ihrem Dorf freuen könnten, aber es dann nicht mehr tun.

Wir müssen tatsächlich alles versuchen, um das endlich zu ändern. Wenn wir das nicht schaffen, werden auch alle künftigen Fortschrittsberichte zum zivilen Aufbau an den wahrgenommenen Realitäten vorbeischlittern. Das ist eine Aufgabe, ohne die ein Erfolg in diesem wichtigen, von uns als am wichtigsten betrachteten Bereich des zivilen Aufbaus nicht zu sichern ist.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Dr. Christian Ruck ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere vernetzte Mission in Afghanistan geht zurück auf den verheerenden Terrorangriff vom 11. September des Jahres 2001, der unser Land zu einer völligen und schmerzhaften Neuorientierung unserer Außenpolitik gezwungen hat, und zwar in zweierlei Hinsicht:

Erstens. Wir können und wollen nicht nur darauf hoffen, dass unsere Sicherheitskräfte Terroristen in Deutschland rechtzeitig vor Attentaten entdecken, sondern müssen den Terrorismus auch dort bekämpfen, wo er herkommt und entsteht. Unser Engagement ist deswegen ein Engagement vor allem auch für die Sicherheit unserer eigenen Bürger.

Zweitens geht es darum, dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen, bevor es zu einem Flächenbrand um den halben Globus kommt. Dieser Nährboden besteht aus fehlender staatlicher Ordnung, aus fehlender Rechtsstaatlichkeit, aus fehlenden Bildungschancen, aus fehlender Gesundheitsversorgung und aus fehlenden Perspektiven für die breite Bevölkerung und die gerade in diesen Ländern nachdrängende Jugend. Das gilt für viele Staaten - von Nordafrika über den Jemen bis Südostasien. Damit ist Entwicklungspolitik zum wesentlichen Bestandteil unserer Sicherheitspolitik geworden, und Afghanistan ist unsere größte entwicklungspolitische Baustelle.

30 Jahre Krieg und Bürgerkrieg haben Afghanistan vollkommen ruiniert. Aber nach fast zehn Jahren Aufbauhilfe sind die Fortschritte trotz eines immens schwierigen und oft gefährlichen Umfelds unübersehbar. Minister Niebel hat bereits einige Details aus den Bereichen Verkehr und Energie sowie aus dem Bereich Schulen und Universitäten genannt. Es gibt - ohne Berücksichtigung der Drogenwirtschaft - eine Vervierfachung des Pro-Kopf-Einkommens und eine rasante Zunahme der Zahl von Unternehmen und Beschäftigten.

Was wir auch nicht vergessen dürfen: Trotz des wackligen Ansehens mancher Institutionen haben wir es zusammen mit den Afghanen geschafft, demokratische Grundinstitutionen in freien Wahlen zu etablieren. Dazu haben unsere Soldaten, Aufbauhelfer und Polizisten unter vielen Opfern einen großartigen Beitrag geleistet. Die CDU/CSU-Fraktion bedankt sich ausdrücklich bei allen, die in den letzten Jahren an der zivilen Aufbauarbeit beteiligt waren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Kabul ist nicht ganz Afghanistan; das ist klar. Ich habe die Stadt trotz aller Unsicherheiten, trotz der üblichen Splitterweste bei meinem dritten Afghanistanbesuch in der letzten Woche, begleitet von den Kollegen Schockenhoff und Kiesewetter, kaum wiedererkannt. Kabul ist wieder ein einziger Basar. Was uns besonders beeindruckt hat, war die längste Straße mit Baumaterialien und Baumaschinen, an der ich jemals irgendwo in der Welt entlanggefahren bin. Afghanistan ist in der Tat eine riesige Baustelle.

Herr Erler, ich gebe Ihnen in dem Punkt vollkommen recht, dass wir auch zur Kenntnis nehmen müssen, was uns vom flachen Land an Rückschlägen berichtet wird. Es gibt da viele sich zum Teil widersprechende Meldungen. Wir dürfen uns nicht zu sehr in Sicherheit wiegen. Aber wir können auch froh über die Entwicklungen sein, die wir mit eigenen Augen sehen und deren erfolgreicher Abschluss zum Greifen nah ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Auch ich sehe - das wurde teilweise schon angesprochen - drei große Risikobereiche; diese gehen auch aus dem Fortschrittsbericht hervor, den Afghanistankenner übrigens als den aufrichtigsten Bericht der letzten zehn Jahre loben. Diese Risikobereiche sind erstens die prekäre Sicherheitslage, zweitens die Mängel bei der Regierungsführung und drittens die unruhige Nachbarschaft.

Zum Thema Sicherheit. Nirgendwo wird die gegenseitige Abhängigkeit von Entwicklung und Sicherheit so deutlich wie in Afghanistan. Es gibt keine Befriedung ohne Entwicklung. Aber es gibt auch keine Entwicklung ohne eine erfolgreiche Sicherheitspolitik. Es ist entscheidend, dass Bildung, Rechtsstaatlichkeit und ökonomische Perspektiven auch auf das flache Land, in die unruhigen Distrikte und in die Bergdörfer gelangen. Dort wird aber jeder Entwicklungsansatz zunichtegemacht, wenn beispielsweise die neu gebaute Schule von den Taliban gesprengt oder die ausgebildeten Lehrer ermordet werden, sobald die afghanischen Sicherheitskräfte oder die ISAF-Truppen abgezogen sind. Deswegen sind die beobachtbaren Fortschritte beim Aufbau einer funktionsfähigen und motivierten Polizei und Armee in afghanischer Hand unabdingbar für die Fortschritte bei der Entwicklung des flachen Landes. Auch wenn darüber immer wieder streitig diskutiert wird: Die Ansätze der vernetzten Sicherheit, die wir in der zivil-militärischen Zusammenarbeit gefunden haben, sind für die Entwicklung Afghanistans erfolgreich.

Als Hoffnungsträger erweist sich auch das von uns massiv unterstützte Programm zur Reintegration derjenigen Taliban, die der Gewalt abschwören. Nach zuverlässigen Augenzeugenberichten kommen tatsächlich inzwischen sehr viele zurück und gliedern sich in einer offiziellen Zeremonie in die Dorfgemeinschaften ein. Sie müssen allerdings vor der Rache der Taliban geschützt werden und brauchen durch Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen eine neue Perspektive.

Der Fortschritt im Bereich Sicherheit ist auch deswegen so wichtig für den zivilen Aufbau, weil die nach wie vor prekäre Sicherheitslage die Entwicklungspolitik bis zu 30 Prozent teurer macht als anderswo. Denn zum Schutz der Entwicklungsexperten, aber auch der allmählich anlaufenden Privatinvestitionen brauchen wir entsprechende Sicherheitsvorkehrungen. Das wirkt sich enorm auf die Aufbaukosten aus.

Auch das zweite Thema belastet den Aufbau enorm. Das ist das Thema gute Regierungsführung. Es ist doch vollkommen unbestritten, dass Korruption und Vetternwirtschaft, aber auch der Mangel an einer ausreichenden Zahl qualifizierter Bewerber gerade für wichtige Verwaltungsstellen zu den größten Entwicklungshindernissen gehören. Die Gebernationen müssen deshalb darauf bestehen, dass die Regierung Karzai ihre bereits vorgelegten Pläne für mehr Transparenz und für mehr Kontrolle umsetzt und auch die Täter aus dem Bereich der Spitzenkorruption dingfest macht. Dabei dürfen wir kein Auge zudrücken.

Die Korruption am unteren Ende der Einkommensskala allerdings, wo etwa Polizisten und Lehrer manchmal mit nicht einmal 100 Dollar im Monat eine Familie ernähren müssen, kann anständigerweise nur bekämpft werden, wenn diejenigen, die diese wichtigen Berufe ausüben, auch anständig bezahlt werden.

Auch wir als Geber müssen uns beim Thema Korruption an die eigene Nase fassen. Der afghanische Finanzminister hat sich beklagt, dass er bei den Finanzflüssen in seinem Land nicht für Transparenz sorgen kann, wenn große Gebernationen Aufträge in dreistelliger Millionenhöhe oder in Milliardenhöhe an der afghanischen Regierung vorbei und ohne Ausschreibung direkt an Unternehmen im eigenen Land vergeben. Es war und ist ein Manko, dass immer noch zu viele Geber unabgesprochen und unkoordiniert ihr eigenes Süppchen kochen.

Korruption hat immer zwei Seiten. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns und dass sich vor allem auch andere große Gebernationen an die Regel halten, dass wir die Ownership der afghanischen Regierung gewährleisten müssen. Das geht nur, wenn die Afghanen selber wissen, was in ihrem Land vorgeht.

Aber - auch das wurde schon angesprochen - es gibt gerade in puncto Governance große Fortschritte. Immer mehr wichtige Funktionsstellen in wichtigen Ministerien, wie zum Beispiel dem Finanzministerium, werden von gut ausgebildeten und qualifizierten Afghanen besetzt.

Aber lassen Sie mich noch etwas zum dritten entscheidenden Faktor sagen. Auch der wurde kurz angesprochen. Das ist die stabile oder stabilisierende Nachbarschaft. Dieser dritte entscheidende Faktor berührt vor allem auch Pakistan. Gerade die an Afghanistan angrenzenden Regionen Pakistans sind nämlich alles andere als stabilisierend. Die pakistanischen Sicherheitskräfte sind unter großen Opfern dabei, gegen Taliban und Dschihadisten die staatliche Kontrolle wiederherzustellen. Aber auch hier ist Entwicklung der entscheidende Schlüssel zu einer langfristigen Befriedung. Die Vorgänge um das Swat-Tal sind dafür typisch. Der pakistanische Staat konnte die Befriedigung der Grundbedürfnisse und vor allem auch Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit über einen langen Zeitraum nicht mehr garantieren und hat so den Taliban den Boden für die Einflussnahme bereitet.

Was für das Swat-Tal gilt, gilt für weite Teile Pakistans, auch für das Korruptionsunwesen in Pakistan. Deswegen muss die internationale Staatengemeinschaft, wenn sie in Afghanistan Erfolg haben will, auch von Pakistan eine bessere Regierungsführung einfordern. Wir müssen Pakistan auf diesem Weg stärker, zuverlässiger und koordinierter unterstützten als bisher.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege, Sie achten auf die Zeit, ja?

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):

Ich komme zum Schluss. - Der zivile Wiederaufbau Afghanistans findet in einem schwierigen Umfeld und mit großen Rückschlägen statt. Aber wir haben auch Erfolge und Hoffnungen, und die gemeinsame Absicht, die Verantwortung für die Sicherheit Schritt für Schritt ab Ende dieses Jahres in afghanische Hände zu legen, ist im Prinzip richtig. Aber gerade als Entwicklungspolitiker sage ich: Wir müssen den Zeitplan auch an den tatsächlichen Gegebenheiten ausrichten. Auch die sehr regierungskritische und militärkritische Menschenrechtlerin Frau Dr. Samar hat uns letzte Woche ins Stammbuch geschrieben: Ihr müsst eure Arbeit erfolgreich zu Ende führen. Das ist auch meine Meinung. Wir dürfen keine Entwicklungsruine hinterlassen, sonst waren alle Opfer des deutschen Steuerzahlers, alle Opfer unserer Soldaten und der Entwicklungshelfer umsonst.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Heike Hänsel ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Heike Hänsel (DIE LINKE):

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Niebel, Sie haben hier ein völlig beschönigendes Bild von der Situation in Afghanistan gezeichnet. - Wenn Sie mir einmal zuhören, können Sie einiges lernen.

(Beifall bei der LINKEN - Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Ich habe nicht das Gefühl, dass Sie in Afghanistan waren. Nach neun Jahren Krieg in Afghanistan - Sie müssen einmal überlegen, wie lange die internationale Gemeinschaft in diesem Land ist - kann von Fortschritt keine Rede sein.

Das Land liegt mit seiner Entwicklung nach wie vor auf dem vorletzten Platz bei den Vereinten Nationen. Insgesamt ist die soziale, wirtschaftliche und politische Situation in diesem Land katastrophal. Immer noch sind 80 Prozent der Frauen und 60 Prozent der Männer Analphabeten, und weniger als 19 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Laut Weltbank liegt die Säuglingssterblichkeit - das ist ein ganz wichtiger Indikator - bei 200 Kindern pro tausend Geburten. Das ist doppelt so hoch wie im Nachbarland Pakistan.

In Kabul haben trotz Entwicklungsgeldern in Milliardenhöhe bisher nur 30 Prozent der Bevölkerung Zugang zu sauberem Trinkwasser; ein Abwassersystem gibt es überhaupt nicht. Als ich Ende letzten Jahres mit dem Entwicklungsausschuss in Afghanistan war und mir Kabul angeschaut habe, war ich, ehrlich gesagt, schockiert, wie einem in dem Stadtbild die Armut buchstäblich ins Gesicht springt. Von wegen ein einziger lebender Basar! Kabul ist durch eine nach wie vor schlechte Infrastruktur und eine katastrophale Sicherheitslage gekennzeichnet und glich einer Festung. Die deutsche Botschaft ist hinter hohen Mauern eingebunkert.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist eine der Sicherheitsmaßnahmen!)

Die Arbeitskräfte der internationalen Gemeinschaft können sich dort nicht frei bewegen.

Im Bericht der Vereinten Nationen heißt es auch - das ist viel zu wenig angesprochen worden -, dass sich 2,8 Millionen Afghaninnen und Afghanen aufgrund des Krieges auf der Flucht befinden. Für diese Menschen ist die humanitäre Situation besonders schwierig. Ein Bericht der International Crisis Group kritisiert, dass der Krieg den Zugang der afghanischen Bevölkerung zur Gesundheitsversorgung, Bildung und zu anderen sozialen Dienstleistungen stark eingeschränkt hat. Entwicklungserfolge - es gibt natürlich auch gute Entwicklungsprojekte in Afghanistan, auch im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit - werden durch die anhaltenden und zunehmenden Kämpfe wieder zunichtegemacht.

Die Zahlen zeigen, dass die 6 Milliarden Euro, die die Bundesregierung seit 2002 für den Afghanistan-Einsatz ausgegeben hat, den Bemühungen um wirtschaftlichen Aufbau und eine soziale Entwicklung entgegenlaufen. Deshalb, Herr Niebel - ich weiß nicht, wo er jetzt sitzt und ob er zuhört -, wird auch bei der jetzt beschlossenen Verdoppelung der Mittel für den zivilen Aufbau die Wirkung der eingesetzten Mittel konterkariert, solange der Krieg geführt wird. Der Krieg in Afghanistan macht eine Entwicklung unmöglich.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie sagten, Sie wollten jetzt die zivile Entwicklung stärken und den Schwerpunkt auf zivile Entwicklung legen. Der Bundeswehreinsatz verschlingt mittlerweile über 1 Milliarde Euro im Jahr. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung beziffert die Kosten des Afghanistan-Einsatzes sogar weit höher als von der Bundesregierung angegeben und schätzt, dass der Krieg bis 2011 insgesamt bis zu 33 Milliarden Euro gekostet haben wird. Das ist vier- oder fünfmal so viel, wie für die zivile Entwicklung ausgegeben wird. Deshalb stimmt es nicht, dass Ihr Schwerpunkt auf ziviler Entwicklung liegt.

(Beifall bei der LINKEN)

Mittlerweile sind über 120 000 NATO-Soldaten in Afghanistan, und die Sicherheitslage ist schlechter denn je. Über die Zahl der verletzten und getöteten Zivilistinnen und Zivilisten spricht hier niemand. Sie steigt kontinuierlich, und sie erhöht sich auch dadurch, dass sich die ISAF militärisch in der Defensive befindet und immer schwerere Waffen einsetzt. Dazu kommen auch die gezielten Tötungen durch die NATO. Durch Anschläge und Kämpfe in Afghanistan sind im vergangenen Jahr wahrscheinlich über 10 000 Menschen getötet worden. Das ist eine tragische Entwicklung für die Menschen in Afghanistan, die deutlich zeigt, dass es bei der Militärintervention der NATO nicht um die afghanische Bevölkerung geht. Deshalb nimmt der Widerstand in der afghanischen Bevölkerung gegen die Besatzung ihres Landes zu.

Die deutsche Bevölkerung lehnt diesen Einsatz zu über 70 Prozent ab. Minister zu Guttenberg hat in einer Trauerrede anlässlich des Todes von Soldaten gesagt: In Afghanistan wird für unser Land, für dessen Menschen, also für jeden von uns, gekämpft und gestorben.

Das ist eine zynische, unerträgliche Kriegspropaganda.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich kann nur sagen - das möchte ich wiederholen -: In Afghanistan wird nicht in unserem Namen gekämpft.

(Beifall bei der LINKEN)

Zugleich wird die Bundeswehr zu einer Interventionsarmee umgebaut. Zu Guttenberg fordert ganz direkt den Einsatz der Bundeswehr zur Sicherstellung deutscher Wirtschaftsinteressen; er wünscht sich, dass endlich einmal ohne Verklemmungen darüber geredet wird. So sagte er in der Trauerrede: Tod und Verwundung sind Begleiter unserer Einsätze geworden. Und sie werden es auch in den nächsten Jahren sein, wohl nicht nur in Afghanistan. Bei dieser Kriegspolitik machen wir nicht mit.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Niebel, jetzt komme ich zur zivil-militärischen Zusammenarbeit. Der Großteil der staatlichen deutschen Entwicklungsprojekte wird im Norden durchgeführt. Warum? Weil dort die Bundeswehr stationiert ist. Es geht nicht um die Frage, wo die afghanische Bevölkerung Entwicklung braucht; wir konzentrieren uns darauf, wo die Bundeswehr stationiert ist. Diese Projekte werden über die Einbettung in sogenannte Wiederaufbauteams unmittelbarer Bestandteil des Bundeswehreinsatzes, dessen Operationsschwerpunkt seit Jahren in der Aufstandsbekämpfung liegt und immer deutlicher den Charakter einer offenen Kriegsführung annimmt. Humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit werden somit Teil der militärischen Strategie in Afghanistan; das ist die sogenannte zivil-militärische Zusammenarbeit. Ich kann nur sagen: Es ist ein völlig falscher Weg, ein katastrophaler Weg für die Entwicklungshelfer und Entwicklungshelferinnen - sie werden dadurch konkret gefährdet - und für die afghanische Zivilbevölkerung.

Sehr viele Entwicklungsorganisationen kritisieren dieses Vorgehen. Wir fordern ein Ende der zivil-militärischen Zusammenarbeit. Nur so können Entwicklungshelferinnen und -helfer geschützt werden.

(Beifall bei der LINKEN - Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Aber der Kommunismus ist auch in Afghanistan Vergangenheit!)

Über 29 in Afghanistan tätige Entwicklungsorganisationen fordern deswegen dazu auf, diese Art der Zusammenarbeit zu beenden. Auch VENRO, der große Dachverband deutscher Entwicklungsorganisationen, lehnt die zivil-militärische Zusammenarbeit ab. Herr Niebel, nachdem Sie angekündigt haben, dass Hilfsorganisationen nur Geld bekommen sollen, wenn sie mit der Bundeswehr kooperieren, hat Ihnen die Organisation Ärzte ohne Grenzen vorgeworfen, dass allein Ihre Ankündigung die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Organisation in Afghanistan gefährdet.

Es gibt aber auch andere Beispiele, etwa die Kinderhilfe Afghanistan, die eine Nähe zum Militär kategorisch ablehnt. Man kann Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan ohne Militär betreiben. Bei der Kinderhilfe sind über 2 000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, übrigens auch aus Afghanistan, aktiv. Bisher wurden sie nicht angegriffen. Es werden nicht Tausende von Experten für einige Wochen in das Land geschickt; es wird mit afghanischen Helfern gearbeitet. Dort funktioniert der Aufbau, weil die Bevölkerung aktiv einbezogen wird. Es gibt eine klare Trennung vom Militär, einen klaren Abstand. Das ist eine Voraussetzung für die Sicherheit der Mitarbeiter dort.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben überhaupt nicht angesprochen, welches korrupte System eigentlich die ISAF in Afghanistan stützt. Taliban und Warlords haben in vielen Provinzen die Macht errungen. Gouverneure dominieren ihre Region mit viel Blutvergießen durch ihre Privatmilizen. Wir haben gehört, dass selbst der Gouverneur in Masar-i-Scharif, Mohammed Atta, mit dem die Bundeswehr sehr gut kooperiert, ein „blutiges System“ von Privatmilizen aufgebaut hat. Dort gibt es keine Form von Opposition; er dominiert die ganze Region. Diese Politik wird von der NATO weiterhin unterstützt, weil die Karzai-Regierung ein Garant dafür ist, dass die Truppen in dem Land stationiert werden können, und die NATO gar keine Alternative hat.

Die Kanzlerin hat es selbst gesagt: Die Politik in Afghanistan ist ein Lackmustest für eine handlungsfähige NATO. Deswegen werden diese schlechten Zustände auch akzeptiert. Mit Afghanistan stehen und fallen die Kriegspolitik und die Existenz der NATO. Das ist der Hauptgrund, weswegen Sie hier auch die Augen zudrücken und ein korruptes Regime weiterhin unterstützen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir fordern dagegen - Sie haben es kurz angesprochen -, dass endlich die demokratischen Kräfte in Afghanistan unterstützt werden. Es gibt sie. Wir laden dazu ein. Es gibt ganz engagierte Männer und Frauen, die keine Unterstützung von Ihnen hier bekommen. Das andere Afghanistan an der Basis entwickelt sich.

(Zuruf von der CDU/CSU)

Es gibt Studierende, die auf die Straße gehen, die gegen die Besatzung und gegen die Taliban demonstrieren. Es gibt mutige Leute in diesem Land. Wir haben sie für die nächste Woche nach Berlin eingeladen. Wir machen eine Konferenz „Das andere Afghanistan“. Diese Leute zeigen Ansätze von unten für eine Friedenspolitik ohne Militär.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin!

Heike Hänsel (DIE LINKE):

Ich kann Sie nur einladen, Herr Niebel. Kommen Sie zu unserer Konferenz! Da können Sie sehr viel lernen.

(Lachen bei der FDP)

Da werden Sie vielleicht auch sehen, -

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin!

Heike Hänsel (DIE LINKE):

- dass es um das Primat der Bevölkerung geht,

(Otto Fricke (FDP): Wenn Sie da auch so lange reden, bestimmt nicht!)

die selbstbestimmt ihr Land entwickeln soll. Eine aktive Friedenspolitik ist für uns die beste Entwicklungspolitik.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Harald Leibrecht ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Harald Leibrecht (FDP):

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als ich letztes Jahr mit Bundesminister Niebel in Afghanistan war, wurde dieser Besuch von einem Anschlag auf die Bundeswehr, dem drei Soldaten zum Opfer fielen, überschattet. Auch ich bin zutiefst bestürzt über den Tod des Mitarbeiters der KfW vor wenigen Wochen.

Diese traurigen Ereignisse zeigen uns, dass die Sicherheitslage trotz hoffnungsvoller Entwicklungen beim zivilen Aufbau nach wie vor auch im Norden, dort, wo unsere Soldatinnen und Soldaten sind, sehr angespannt und gefährlich ist.

Gerade vor dem Hintergrund der Opfer, die dort zu beklagen sind, müssen wir uns die Entwicklungen allgemein und vor allem die des zivilen Aufbaus in Afghanistan ganz genau anschauen und bewerten. Dabei geht es neben vielen Entwicklungsprojekten, die im ganzen Land entstehen, in der Tat auch darum, dass der afghanische Staat und seine Regierung ihrer Verantwortung gerecht werden und sich voll und ganz zum Rechtsstaat, zu einer guten Regierungsführung und zu den Menschenrechten bekennen. Es geht auch darum, dass Präsident Karzai und seine Regierung die Korruption im Land ernsthaft bekämpfen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ein Staat muss seine Bürger schützen können. Solange der afghanische Staat dies nicht ausreichend kann, werden die Menschen dort kein Vertrauen in diesen haben, und so lange der Staat schwach ist, solange werden die Extremisten dort aktiv bleiben.

Natürlich würde auch ich mir wünschen, dass Wiederaufbau und Entwicklung in Afghanistan ohne internationale militärische Absicherung gelingen könnten. Aber die Sicherheitslage erlaubt dies nun mal nicht. - Liebe Frau Hänsel, das, was Sie über die deutschen Soldaten gesagt haben, die unter Einsatz ihres Lebens, unter großem Risiko einen guten Dienst in Afghanistan machen, war, wie ich finde, sehr beschämend.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD - Zuruf von der Linken: Sie haben gar nicht zugehört! - Heike Hänsel (DIE LINKE): Ich habe über Ihre Politik gesprochen und nicht über die Soldaten!)

Mit dem vernetzten Ansatz der Bundesregierung gelingt uns jetzt endlich das, was in den letzten Jahren nicht erreicht wurde, nämlich gleichzeitig die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte wie auch den zivilen Wiederaufbau voranzubringen. Beides sind doch Voraussetzungen für die Übergabe in Verantwortung und den Abzug unserer Truppen aus Afghanistan. Sicherheit und Wiederaufbau gehen Hand in Hand. Es wird eben keine Sicherheit ohne Wiederaufbau und Entwicklung geben, aber es gibt auch keinen Wiederaufbau und keine Entwicklung ohne Sicherheit.

Die Bundesregierung zeigt sich beim zivilen Wiederaufbau in Afghanistan äußert engagiert und setzt dabei wichtige Schwerpunkte. Unser Engagement im Bereich der Lehrerausbildung ist erfolgreich. Nur mit gut ausgebildeten Lehrern gibt es eine solide Schulbildung und somit auch eine echte Zukunft für die junge afghanische Bevölkerung.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Während unseres Besuchs in Afghanistan hat Minister Niebel in Masar-i-Scharif ein Bildungszentrum für Lehrer eröffnet; das hat er vorhin angesprochen. Dort werden inzwischen 2 000 Lehrer pro Jahr ausgebildet. Ich finde, das ist ein Fortschritt. Das hilft weiter. Die gezielte Förderung von Frauen hat zu einer Zunahme der Lehramtsstudentinnen von 5 Prozent vor fünf Jahren auf jetzt 40 Prozent geführt. Auch das ist ein Fortschritt. Das ist der richtige Ansatz: Wir bauen nicht nur Schulen, sondern wir versorgen sie auch mit Lehrern.

Mit deutscher Hilfe wurde die Einschulungsrate in Afghanistan in den letzten Jahren auf immerhin 52 Prozent erhöht. Die Alphabetisierungsrate bei den 15- bis 24-Jährigen ist auf beinahe 40 Prozent gestiegen. Das ist sicherlich bei weitem noch nicht genug. Diesbezüglich stimme ich der Opposition zu. Wir dürfen, wie Minister Niebel sagt, die Lage nicht schönreden. Aber wir müssen die positiven Entwicklungen anerkennen, die eines ganz deutlich machen: Unsere Hilfe kommt in Afghanistan an.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich konnte mich von vielen Projekten persönlich überzeugen, insbesondere im Bereich der Grundversorgung und der Infrastruktur: von der Trinkwasserversorgung über den Bau von Straßen und die medizinische Versorgung bis hin zur Vergabe von Mikrokrediten. Dirk Niebel kann hier zu Recht von einer Entwicklungsoffensive sprechen.

Dabei leisten neben der deutschen Durchführungsorganisation, der GIZ, gerade auch private Hilfsorganisationen einen großartigen Dienst, zum Beispiel der Verein Kinderberg International, der Krankenstationen auch in entlegenen Regionen betreibt. Liebe Frau Hänsel, die Kindersterblichkeit ist in den letzten Jahren um über 50 Prozent zurückgegangen. Die Zahl 250 ist eine alte Zahl.

(Heike Hänsel (DIE LINKE): Das ist die Säuglingssterblichkeit! Das ist etwas anderes!)

Wir sind inzwischen bei der Hälfte angekommen. Das ist immer noch zu viel - das gebe ich zu -, aber das ist trotz allem eine positive Entwicklung.

All diese Bereiche zeigen, dass es Fortschritte in Afghanistan gibt, und sie zeigen, wie wichtig es ist, diesen eingeschlagenen Weg weiter zu beschreiten. Unser ziviles Engagement in Afghanistan ist langfristig angelegt. Das BMZ und die Mitarbeiter der GIZ werden auch dann noch dort sein und ihre Arbeit fortführen, wenn deutsche Soldatinnen und Soldaten Afghanistan bereits wieder verlassen haben.

Die Entscheidung, dem zivilen Aufbau in Afghanistan Priorität einzuräumen, war richtig. Das ist der entscheidende Unterschied zur Vorgängerregierung. Ich bin meiner Fraktion dankbar dafür, dass sie das durchgesetzt hat. Diese Entscheidung trägt Früchte. Dadurch sind wir erfolgreich. Die Menschen in Afghanistan wissen unser Engagement zu schätzen. Sie freuen sich trotz der angespannten Sicherheitslage in vielen Regionen über die Verbesserungen der Lebensqualität vor Ort.

Mit der Verdoppelung der Mittel für den zivilen Aufbau in Afghanistan im letzten Jahr auf jetzt über 430 Millionen Euro wurden Wiederaufbau und Entwicklung signifikant gestärkt. Vielleicht wird Afghanistan mit seiner Stammesstruktur nie eine echte Westminster-Demokratie. Jeder, der das Land kennt, weiß, warum das schwierig ist. Deshalb dürfen wir das Land und seine Menschen aber nicht aufgeben. Wir müssen sie dabei unterstützen, Afghanistan in eine bessere Zukunft zu führen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Ute Koczy für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern erst war die Trauerfeier für den in Afghanistan getöteten Entwicklungshelfer. Er starb im Rahmen seines entwicklungspolitischen Auftrages durch ein gezieltes Attentat, bei dem auch ein afghanischer Mitarbeiter verletzt wurde. Ihm geht es zum Glück wieder besser. Doch der deutsche Helfer hat für seinen Einsatz in Afghanistan den höchsten Preis gezahlt, den es gibt. Er gehört damit zu den Opfern, die wir in unserer Debatte über den Sinn und Zweck dieses Einsatzes nicht vergessen dürfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Dieser Entwicklungshelfer - das ist mir auch in den Mails aus Afghanistan bestätigt worden - sagte Ja zu Afghanistan, sagte Ja zum Straßenbauprojekt zwischen Kholm und Kunduz, sagte Ja zum Leben in einer anderen Kultur. Ich durfte ihn als Delegationsleiterin der Ausschussreise nach Afghanistan im Oktober letzten Jahres kennenlernen, und ich war beeindruckt von seinen Engagement, von seiner Zuwendung für die Menschen in Afghanistan. Ihm gebühren Anerkennung und Respekt, genauso wie den vielen Helferinnen und Helfern, Soldatinnen und Soldaten, die sich in diesem ungewissen und oft, zu oft tödlichen Umfeld bewegen. Auch deswegen tragen wir Verantwortung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Die Frage stellt sich, wie es mit der Aufbauarbeit weitergehen kann, gerade auch vor dem Hintergrund dieses tödlichen Angriffs. Was tun wir eigentlich in Afghanistan? Die Antworten auf diese Frage sind vielfältig, und sie sind uneinheitlich. Schlimmer: Sie sind widersprüchlich. Geht es um entwicklungspolitischen Aufbau in einem komplett zerstörten Land, um den Einsatz für die Menschen-, die Frauenrechte? Geht es um die Sicherung des Friedens? Geht es um die Verteidigung am Hindukusch? Geht es um zentrale kollektive Sicherheitsinteressen? Geht es um den Kampf gegen Terrorismus, um Krieg?

Herr Minister Niebel, anders als die Bundeskanzlerin haben Sie unserer Fraktion, haben Sie der Opposition, haben Sie dem Parlament Ihre Regierungserklärung nicht zur Verfügung gestellt. Ich bedaure das. Aber das wäre auch nicht nötig gewesen; denn zu dieser Frage haben Sie nichts Wegweisendes gesagt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich habe erwartet, dass Sie in dieser Regierungserklärung Antwort auf die drängenden Fragen geben, und zwar für die Zeit, die jetzt kommt: für die Zeit bis 2014 und darüber hinaus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Was fehlt, ist eine Agenda für den Aufbau.

Das prinzipielle Problem, das wir haben, ist doch, dass der zivile Aufbau das oberste Ziel all unserer Anstrengungen ist. Wenn man in Afghanistan ist, dann hört man ja auch: Militärisch kann man in Afghanistan nicht gewinnen. Trotzdem wird nicht mit gelingenden entwicklungspolitischen Instrumenten eine Strategie für den Erfolg durchdacht, vorgegeben und durchexerziert. Die Regierung hat dazu nichts auf den Tisch gelegt. Diese Regierungserklärung ist es nicht wert, darüber zu debattieren.

(Holger Haibach (CDU/CSU): Hören Sie doch auf!)

Mein Vorwurf lautet: In allen Regierungskonstellationen im Deutschen Bundestag bis heute wurden die Gesetzmäßigkeiten entwicklungspolitischer Aufbauarbeit in der anderen Kultur von Afghanistan zu wenig bedacht, sie waren von kurzfristigem Denken durchzogen, wurden von Eigeninteressen torpediert, waren international schlecht abgestimmt und regional zu blind, wurden politisch nicht ernst genommen und für medial nicht attraktiv genug befunden. Schlimm ist, dass diese Analyse nicht neu ist. Sie ist Jahre alt.

(Harald Leibrecht (FDP): Eben!)

Schlimmer ist, dass auf diese Analyse so mangelhaft reagiert wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Bis heute stehen die Entwicklungszusammenarbeit und der zivile Aufbau nicht im Vordergrund; das wird auch heute nicht anders werden. Genauso wenig werden Konzeptionen entwickelt, um diesen Widerspruch endlich zu überwinden. Herr Minister, das ist Ihre Aufgabe. Sie haben jetzt die Chance. Aber in dieser Regierungserklärung war davon nichts zu hören. Sie vergeben damit eine Chance, die ganz wichtig ist. Wir müssen jetzt die Frage beantworten, worum wir eigentlich ringen: Sind wir in Afghanistan erfolgreich? Wie werden wir in Afghanistan erfolgreich? Wenn wirklich gewollt ist, dass die Entwicklungspolitik im Rahmen des zivilen Aufbaus zum Erfolg beiträgt, dann müssen die Weichen anders gestellt werden.

An drei Punkten will ich diese Kritik verdeutlichen.

Erstens: Qualität. Letztes Jahr wurden die Mittel für den zivilen Aufbau auf 430 Millionen Euro jährlich bis 2013 erhöht. Afghanistan ist damit der größte bilaterale Nehmer deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Die Aufstockung ist richtig. Aber es lässt sich immer noch nicht beurteilen, wie gut, wie wirkungsvoll das deutsche Engagement ist. Es fehlt eine unabhängige, externe Evaluation.

Ja, Afghanistan hat sich verändert; das müssen wir zugestehen. Ja, es gibt Zugänge zu Trinkwasser, zu Mobilität, zu Energie. Die Gesundheitsversorgung nimmt Fahrt auf. Die Bildungschancen für Mädchen steigen. Die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer wird vorangetrieben. Auch wir Grünen unterstreichen, dass gerade im Bildungsbereich, insbesondere in der Hochschulbildung, das Wissen und Know-how langfristig erarbeitet werden muss. Dazu haben wir auch einen Antrag gestellt. Darin sagen wir Ja zu all dem, was wir tun.

Aber uns fehlen die Grundlagen für die weitere Beurteilung. Da genügt der Fortschrittsbericht nicht, der mit vielen Annahmen, Thesen, unbewiesenen Statements operiert, der blinde Flecken aufweist, der noch nicht einmal Schlüsse aus zentralem Versagen der afghanischen Regierung zieht, wie zum Beispiel bei Fragen der Menschenrechte, der Frauenrechte und zur Korruption. Es muss doch darum gehen, die Qualität des deutschen Engagements sicherzustellen, wo nötig zu verbessern und funktionierende Maßnahmen zu verstärken. Aber dafür hätten wir eine unabhängige, externe Evaluation gebraucht. Die fehlt.

Herr Minister, Sie sagen doch, wir brauchen Wirkung, wir brauchen Effizienz. Warum steht davon nichts in Ihrem Bericht, warum lesen Sie das nicht aus Ihrer Regierungserklärung vor? Da ist nichts zu finden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wie nötig es ist, das Thema Korruption anzugehen, zeigt doch ein aktueller Fall: Die Enthüllungen der Neuen Osnabrücker Zeitung und des Norddeutschen Rundfunks über das Entwicklungshilfeunternehmen AGEF machen deutlich, dass wir auch vor der eigenen Tür kehren müssen. Bislang konnten die Vorwürfe gegen das Unternehmen nicht entkräftet werden. Ich will betonen, dass es keine Nichtregierungsorganisation im klassischen Sinne ist. Solange die Bundesregierung bei der Aufklärung ihre Verschleierungstaktik fortsetzt, bleiben die Verdachtsmomente doch im Raum. Die schwarz-gelbe Bundesregierung und auch die Vorgängerregierungen haben es versäumt, Kontrollmechanismen zu etablieren, die schon den Anschein von Korruption und Unterschlagung nicht zulassen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist doch offensichtlich, dass gerade hier eine rechtzeitige externe Evaluation notwendig gewesen wäre.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Leibrecht zu?

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Bitte.

Harald Leibrecht (FDP):

Frau Kollegin Koczy, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Entwicklungshilfeunternehmen AGEF bereits im Jahr 2002 tätig war? Da war bekanntermaßen Minister Niebel noch nicht für die Entwicklungszusammenarbeit zuständig. Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Herr Niebel bereits im November 2010 diesbezüglich eine Untersuchung durch einen Wirtschaftsprüfer angeordnet hat und dass das jetzt auch von einem unabhängigen Unternehmen überprüft wird? Insofern ist das eine Situation, die nicht unter dieser Regierung entstanden ist, und sie wird von dieser Regierung bereits überprüft.

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Kollege Leibrecht, sind Sie auch bereit anzuerkennen, dass die Reaktion des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit auch deswegen erfolgt, weil die Grünen dazu eine Kleine Anfrage gestellt haben, dass die Hinweise in der Presse veröffentlich wurden und dass sich jetzt gezeigt hat, dass das Ministerium nicht vorhat, jetzt die notwendigen externen Evaluationsmechanismen einzurichten? Sind Sie auch bereit, anzuerkennen, dass die Bundesregierung auf meine Kleine Anfrage sehr schwammig, sehr ausweichend reagiert hat, dass es sehr lange Zeit braucht, bis die Antworten kommen, dass das Wirtschaftsunternehmen, das die AGEF jetzt prüft, Vorlagen erstellt hat, und wir bis heute keine Klarheit darüber haben, ob das Ministerium bereit ist, lückenlos aufzuklären - in die eine oder in die andere Richtung?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der FDP: Was ist da unter Rot-Grün passiert?)

Ich verlange, dass das Ministerium hier mit maximaler Transparenz zur Aufklärung beiträgt. Bis heute haben wir dazu nicht gehört. Ich hatte erwartet, dass in dieser Regierungserklärung dazu einige Worte gesagt werden. Wir haben eine aktuelle Situation, darauf muss man jetzt in der Regierungserklärung auch reagieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweiter Punkt, die zivil-militärische Zusammenarbeit. Herr Minister Niebel, was treibt Sie eigentlich dazu, eine der Stärken der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit, nämlich die Neutralität, zu torpedieren? Warum meinen Sie, sich damit profilieren zu müssen, dass Sie die Nichtregierungsorganisationen dazu zwingen, sich einem Konzept von zivil-militärischer Zusammenarbeit unterzuordnen, einem Konzept, das keiner will, das niemand braucht, zu dem der Dachverband VENRO Nein sagt und dessen Konzeption niemandem bekannt ist? Ich sage, diese zivil-militärische Zusammenarbeit, die von Ihrem Haus ausgeht, ist überflüssig wie ein Kropf. Lassen Sie es bleiben!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und sie ist gefährlich!)

Herr Minister, stellen Sie die Neutralität der zivilen Aufbauarbeit wieder her, denn das macht sie ja gerade so wertvoll, und organisieren Sie die Bedingungen so, dass es eine Entwicklungszusammenarbeit auch dann noch geben wird, wenn die Kampftruppen abgezogen sind.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin, auch die Kollegin Hänsel würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Bitte.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich bitte aber, das knapp zu halten, weil sich die ohnehin mit Rederecht ausgestatteten Kolleginnen und Kollegen ihre Redezeiten verständlicherweise eigentlich nicht durch wechselseitige Zwischenfragen zusätzlich verlängern sollten. - Bitte schön.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Heike Hänsel (DIE LINKE):

Ja, aber ich denke, es ist mein gutes parlamentarisches Recht, eine Zwischenfrage zu stellen.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Deswegen gebe ich Ihnen dazu ja auch Gelegenheit.

Heike Hänsel (DIE LINKE):

Genau, danke schön. Ich denke, ohne Kommentierung ist das auch möglich. Danke schön, Herr Präsident.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich darf Sie der Vollständigkeit halber darauf aufmerksam machen, dass Kommentare zu sitzungsleitenden Entscheidungen des Präsidenten von den Mitgliedern des Hauses prinzipiell nicht kommentiert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Heike Hänsel (DIE LINKE):

Ja, gut. - Ich möchte jetzt zu den wichtigen Dingen kommen.

Liebe Kollegin Ute Koczy, Sie haben die zivil-militärische Zusammenarbeit angesprochen. Ich kann Ihnen meine Frage dazu jetzt natürlich nicht ersparen.

Die zivil-militärische Zusammenarbeit gab es schon im Kosovo nach dem Jugoslawienkrieg.

(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer hat sich denn mit Milosevic getroffen? Gysi!)

- Ihnen fällt nie etwas anderes ein, Frau Künast. Das ist sehr schwach. Sie lenken ab.

(Holger Haibach (CDU/CSU): Aber sie hat recht!)

Bereits 2002 wurde mit der zivil-militärischen Zusammenarbeit begonnen. Die Strukturen dafür wurden durch den Aufbau der Wiederaufbauteams geschaffen.

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Wo ist denn die Frage?)

In diesen dezentralen Teams haben Soldaten, Entwicklungshelfer und das Auswärtige Amt zusammengearbeitet. Das ist ein Projekt der rot-grünen Bundesregierung. Dazu hätte ich von Ihnen schon gerne ein paar Sätze gehört.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine Güte, arbeitet an euch selber! Wirklich wahr!)

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Liebe Kollegin Heike Hänsel, die Situation in Afghanistan ist leider nicht so, wie die Linke sie gerne hätte. Ohne die Soldatinnen und Soldaten und ohne den militärischen Schutz kann die Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan nicht geleistet werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die zivile Aufbauarbeit leisten, ist sehr wohl klar, dass sie aufgrund dessen, dass sie zivil arbeiten, in diesem schwierigen Umfeld keine Möglichkeit haben, bei terroristischen Attacken zu reagieren. Sie sind darauf angewiesen, dass es einen substanziellen Schutz gibt.

Die Umsetzung Ihrer Forderung, diese militärische Unterstützung sofort zu beenden, würde bedeuten, dass wir diese entwicklungspolitische Aufbauarbeit, die wir gerne leisten und die wir den Menschen in Afghanistan versprochen haben, umgehend beenden müssten. Wenn wir diesem Vorschlag folgen würden, hätten wir unser Versprechen gegenüber dem afghanischen Volk, es bei der Bildung, bei der Trinkwasserversorgung und bei allen anderen organisatorisch wichtigen entwicklungspolitischen Leistungen zu unterstützen, komplett gebrochen. Deswegen muss man differenzieren. So einfach, wie Sie es in Ihrer Argumentation sagen,

(Heike Hänsel (DIE LINKE): Nach zivil-militärisch habe ich gefragt!)

ist das Land Afghanistan nicht zu retten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP - Heike Hänsel (DIE LINKE): Das war keine Antwort! - Gegenruf der Abg. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Natürlich ist die Frage beantwortet! - Gegenruf des Abg. Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Setzen! - Heike Hänsel (DIE LINKE): Nach zivil-militärisch habe ich gefragt! Darauf hat sie nicht geantwortet! - Gegenruf der Abg. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Regen Sie sich doch einmal ab, Frau Hänsel! Hier ist Demokratie! Sie kann antworten, wie sie Lust hat, und nicht, wie Sie es meinen!)

Drittens. Weil die Situation in Afghanistan so schwierig ist, brauchen wir einen Plan, eine Strategie und eine Agenda; denn die Debatte über den Abzug findet statt. Für die Zivilisten, für die Bundeswehr und für die internationalen Truppen war das Jahr 2010 das bisher verlustreichste, und es ist zweifelhaft, ob die USA mit ihrer veränderten Strategie, der gezielten Aufstandsbekämpfung, ihr Ziel erreicht.

Was heißt das für die Entwicklungszusammenarbeit? Was heißt das für die Zeit bis zum Abzug? Was heißt das für die Zeit darüber hinaus? Ein einfaches „Weiter so!“ kann es nicht geben. Deswegen lautet unsere Forderung: Wir brauchen eine Agenda für den Aufbau bis 2014 und danach, damit wir unserer Verantwortung gerecht werden. Das ist die letzte Chance, die wir haben, für die entwicklungspolitische Zusammenarbeit Pflöcke einzurammen und zusammen mit den umliegenden Staaten, was ganz, ganz wichtig ist - ich nenne hier Pakistan und die zentralasiatischen Staaten -, zu einem anständigen Erfolg zu kommen, durch den es uns ermöglicht wird, in Afghanistan tatsächlich zu einer Verbesserung der Situation zu kommen. Dafür setzen wir uns ein.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Holger Haibach für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Holger Haibach (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Hänsel, ich habe zwei Probleme mit Ihrer Rede.

(Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Nur zwei?)

Das erste Problem ist: Offensichtlich haben Sie Ihre Rede lange vorbereitet, waren aber aufgrund der Kürze der Zeit oder aus welchen Gründen auch immer nicht mehr in der Lage, sich auf das, was der Minister gesagt hat, einzustellen. Sie haben gesagt, der Minister hätte alles nur beschönigt und nicht auf die Probleme in Afghanistan hingewiesen. Das hat er sehr wohl getan. Nun kommt das zweite Problem hinzu, und das ist Ihre ideologische Weltsicht. Sie können nur schwarz-weiß sehen. Ich finde, Herr Niebel hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Schwarz-weiß-Sehen das Schlechteste ist, was man in Afghanistan machen kann. Dafür gibt es drei Gründe.

Erstens. Sie diskreditieren die Arbeit derer, die sich hier im Parlament seit Jahren mit Afghanistan beschäftigen. Das trifft nicht nur die Regierungskoalitionen, sondern auch andere Fraktionen hier im Hause, und es trifft die Bundesregierung. Damit könnte man notfalls noch leben, das gehört bis zu einem gewissen Grade zum parlamentarischen Gebrauch dazu. Zweitens. Sie diskreditieren damit auch die Erfolge, die besonders deutsche Entwicklungshelfer und deutsche Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan erreicht haben. Das kann man nicht einfach so stehen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Drittens, und das finde ich das Schlimmste: Sie diskreditieren damit auch das, was viele Afghaninnen und Afghanen zum Teil unter Einsatz ihres Lebens in all den Jahren seit 2001 in Afghanistan erreicht haben. Ich finde, das kann man am allerwenigsten stehen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin sehr dankbar, dass ich von anderen Rednern, auch von Oppositionsseite, sehr sachliche Beiträge gehört habe. In diesem Zusammenhang möchte ich eine Bemerkung zu Ute Koczy machen. Ich schätze deine Arbeit sehr, aber das Problem ist: Wenn man sagt, dies hat nicht funktioniert und da fehlt uns etwas, dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Bundesregierung in dieser Zusammensetzung erst seit anderthalb Jahren im Amt ist. Das Afghanistan-Engagement - das ist deutlich geworden - ist von Regierungen getragen worden, die von vier Fraktionen dieses Hauses gestellt wurden bzw. werden. Insofern gilt das alte Sprichwort: Wenn man mit dem Finger auf jemanden zeigt, dann zeigen immer drei Finger auf einen zurück. Ich finde, ein bisschen Zurückhaltung wäre an dieser Stelle durchaus angebracht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Nichtsdestoweniger glaube ich, dass die Debatte ein relativ differenziertes Bild zur Situation in Afghanistan zeichnet. Im Übrigen ist auch der Fortschrittsbericht - Christian Ruck hat darauf hingewiesen - von Kennern als das ehrlichste Dokument und die ehrlichste Bestandsaufnahme über die Situation in Afghanistan seit Beginn des Einsatzes gelobt worden. Ich glaube, darin wird deutlich, worin die Herausforderung eigentlich besteht. Die Herausforderung besteht zum einen darin, die Situation in Afghanistan kritisch, realistisch und nüchtern in den Blick zu nehmen, zum anderen besteht sie darin, zu überlegen, was eigentlich die Zielsetzung ist.

In den letzten anderthalb Jahren ist sehr viel davon gesprochen worden, dass es notwendig ist, die gesetzten Ziele vielleicht wieder neu zu justieren. Das Ziel, innerhalb kürzester Zeit eine Demokratie nach westlichem Muster einzurichten, ist vielleicht zu ambitioniert gewesen. Es kann sein, dass wir das eine oder andere Ziel nicht erreichen werden, aber es gehört zu unserem Selbstverständnis als deutsche Parlamentarier und im Besonderen als deutsche Bundesregierung dazu, darauf hinzuwirken, dass rote Linien nicht überschritten werden dürfen, selbst wenn man die Ziele neu justiert. Rote Linien, das bedeutet Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Entwicklungschancen für alle Menschen in Afghanistan. Das ist schwierig.

All diejenigen, die sagen, dazu habe die gegenwärtige Bundesregierung kein Konzept, liegen aus meiner Sicht fatal falsch, und zwar deshalb, weil das Afghanistan-Konzept der Bundesregierung aus dem letzten Jahr meines Erachtens eine gute Arbeitsgrundlage bietet, um zu schauen, wie wir das erreichen können, was wir erreichen wollen. Über das, was wir erreichen wollen, gibt es Konsens, ich denke, auch in diesem Haus, und zwar die Übergabe in Verantwortung. Wenn man die Verantwortung übergeben will, dann muss man sich überlegen, was man dafür braucht.

Auf der einen Seite brauchen wir ein gesichertes Umfeld. Dieser Aufgabe geht von unserer Seite die Bundeswehr sehr intensiv nach. Auf der anderen Seite brauchen wir auf afghanischer Seite Menschen, die in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen und auch die nötigen Kapazitäten haben, Verantwortung zu übernehmen, und die entsprechende Infrastruktur. Deswegen sieht das Konzept meines Erachtens zu Recht vor, die Infrastruktur im Sinne von Straßen, Gesundheit, Verwaltung usw. aufzubauen, aber auch die Menschen zu befähigen, Verantwortung zu übernehmen.

Gerade Deutschland hat mit dem Konzept des Provincial Development Fund, wie ich finde, ein wirklich gutes Mittel gefunden, um Afghaninnen und Afghanen möglichst früh an Entscheidungsfindungen zu beteiligen und sie in die Lage zu versetzen, Entscheidungen zu fällen. Darüber hinaus wissen wir seitdem auch wesentlich besser, was von der Bevölkerung vor Ort gewünscht wird. Das ist aus meiner Sicht ein wichtiger Punkt. Es ist ein Baustein dafür, dass wir dort erfolgreich sein können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Es ist mir auch wichtig, auf das schwierige Thema zivil-militärische Zusammenarbeit zu kommen, weil es gerade in diesem Zusammenhang eine große Rolle spielt. Auch hierzu waren sehr einseitige Äußerungen zu hören. Die Wahrheit ist auch in der deutschen Nichtregierungsorganisationsszene ein bisschen komplizierter.

Es gibt Organisationen wie Kinderberg, für die die Zusammenarbeit mit der Bundeswehr selbstverständlich ist. Andere machen das nicht. Das ist genauso richtig. Es wird auch keiner dazu gezwungen, wie es in der Debatte gesagt worden ist.

Ich will auf eines hinweisen: Der Fonds, den Bundesminister Niebel im Rahmen des Wiederaufbaus in Afghanistan mit 10 Millionen Euro für das letzte Haushaltsjahr aufgelegt hat,

(Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und für 2011 auch!)

ist ausgeschöpft. Die Mittel sind komplett gebunden. Wir werden sicherlich irgendwann erfahren, welche Organisationen Mittel aus diesem Topf bekommen haben. Ich bin ganz sicher, dass sie nicht allein an Kinderberg geflossen sind. Das wird sicherlich eine interessante Debatte, weil wir dann feststellen werden, wer diejenigen sind, die den großen Kampf gegen die zivil-militärische Zusammenarbeit führen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich glaube, dass wir - das gilt für alle, die im Bereich des zivilen Aufbaus tätig sind - eine Sache genau im Blick behalten müssen, nämlich dass die Entwicklungszusammenarbeit ein langfristig angelegtes Instrument ist. Christian Ruck hat darauf hingewiesen. Wir werden lange nach 2014 mit deutscher Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan tätig sein.

Es ist einerseits gut; andererseits gibt es dabei Herausforderungen. Eine Herausforderung ist die Frage, wer nach 2014 Sicherheit garantiert. Das ist zweifelsohne eine wichtige Frage. Aber wir haben immer gesagt: Der Abzug setzt selbsttragende Sicherheitsstrukturen in Afghanistan voraus. Insofern ist es zumindest aus meiner Sicht völlig klar, dass ein verantwortungsvoller Abzug nur dann stattfinden kann, wenn selbsttragende Sicherheitsstrukturen vorhanden sind, die auch in der Lage sind, Aufbauhelfer zu schützen. Ohne das eine kann es das andere nicht geben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wenn ich einen Schlussstrich unter die Debatte ziehe und berücksichtige, was im Fortschrittsbericht und im Afghanistan-Konzept enthalten ist, dann sind, denke ich, drei Punkte wichtig:

Der erste Punkt ist schon angesprochen worden. 49 Prozent der afghanischen Bevölkerung ist unter 15 Jahre alt. Das ist eine unglaubliche Chance mit einem unglaublichen Potenzial. Darin liegt aber auch eine unglaubliche Herausforderung. Denn diese Menschen werden durch das geprägt, was sich jetzt in den kommenden Jahren abspielt. Die Frage, ob wir in Afghanistan erfolgreich sind, wird auch ihr Denken über uns bestimmen. Deswegen ist es so wichtig, dass wir dort erfolgreich arbeiten. Unser Einsatz dort ist wichtig und richtig.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Zweitens. Die Weltbank hat vor einigen Tagen veröffentlicht - ich bin beim Spiegel-Lesen darauf aufmerksam geworden -, dass China im Jahr 2010 110 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe ausgezahlt hat. Das sind 10 Milliarden Dollar mehr, als die Weltbank im selben Zeitraum ausgezahlt hat. Wer sich fragt, wem die Kupferbergwerke in Afghanistan gehören, stellt fest, dass sie in chinesischem Besitz sind. Ein Blick auf das chinesische Engagement in Afrika macht deutlich, dass uns dort ein neuer Player, ein neuer Partner, vielleicht auch ein neuer Rivale erwachsen ist. Es geht mir nicht um einen Clash der Zivilisationen, den Zusammenprall der Kulturen. Im Gegenteil: Wir sollten sehen, wo wir kooperieren können. Aber auch deshalb ist es in Zukunft wichtig, zu schauen, wer eigentlich in Afghanistan ein gutes Ansehen hat und wer eigentlich in Afghanistan zur Entwicklung beiträgt. Wir werden nicht nur dort, sondern auch anderswo sehen, dass das ein ganz wichtiger Punkt ist.

Ich will zum Schluss noch eine dritte Bemerkung machen. Entwicklungspolitik ist ein langfristiges Instrument. Entwicklungspolitik ist nicht auf kurzfristigen Erfolg ausgerichtet. Deswegen sollten und müssen wir aufpassen, dass Entwicklungspolitik nicht sozusagen in Geiselhaft für alles, was in anderen Bereichen des Engagements nicht funktioniert, genommen wird. Entwicklungspolitik wird nur dann erfolgreich sein, wenn wir über das Jahr 2014 hinaus mit den entsprechenden finanziellen Mitteln, aber auch an der einen oder anderen Stelle mit der notwendigen Härte, zum Beispiel wenn es um Korruptionsbekämpfung geht, vorgehen. Dabei sollten wir alle mithelfen.

Danke sehr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Nächster Redner ist der Kollege Burkhard Lischka für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Burkhard Lischka (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wenn sich jetzt allmählich die Regierungsbank anscheinend wieder füllt, muss ich sagen, dass ich enttäuscht bin, dass die Regierungsbank lange Zeit während der Debatte ziemlich verwaist gewesen ist. Vor allem hat - mit Ausnahme der ersten fünf Minuten - ein Minister gefehlt, den ich sonst jeden Tag im Fernsehen sehe. Das zeigt, wo hier anscheinend die Prioritäten liegen und wo nicht.

(Otto Fricke (FDP): Der Tod von Soldaten hat auch gewisse Prioritäten!)

Ich finde das bedauerlich.

(Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist Ihre Fraktionsführung? Wo ist Herr Steinmeier? Wo ist Herr Gabriel?)

Es gibt in Afghanistan ein Sprichwort, mit dem sich die Menschen immer dann gegenseitig Mut machen, wenn sie vor scheinbar unlösbaren Problemen stehen. Dieses Sprichwort besagt, dass selbst zum Gipfel des höchsten Berges ein Weg führt. Um in diesem Bild zu bleiben: Nach über neun Jahren Einsatz in Afghanistan stehen nicht nur die Afghanen, sondern auch wir mitten in einer riesigen Gebirgslandschaft zahlreicher und nach wie vor ungelöster Probleme. Der Berggipfel ist nicht immer erkennbar. Obwohl vieles in der Vergangenheit in bester Absicht unternommen wurde, haben sich doch manche Wege im Nachhinein als falsch erwiesen. Viele Hoffnungen haben sich zerschlagen. Niemand von uns weiß mit Sicherheit, welch ein Afghanistan wir auf Dauer zurücklassen, wenn wir uns in den nächsten Jahren militärisch zurückziehen.

Eine Erkenntnis zieht sich inzwischen durch jeden Debattenbeitrag, wenn wir über die Zukunft Afghanistans sprechen. Mit militärischen Mitteln allein werden wir einen dauerhaften Frieden und Stabilität in Afghanistan nicht hinbekommen. Ich kann an dieser Stelle nur das wiederholen, was wir Sozialdemokraten seit vielen Jahren immer wieder fordern und im Rahmen des Strategiewechsels unterstützen, nämlich dass wir von einer reinen Dominanz militärischer Ziele weg müssen, hin zu einer dauerhaften und nachhaltigen Hilfsstrategie, die sich vor allen Dingen dem Aufbau staatlicher Institutionen widmet, zivilgesellschaftliche Strukturen stärkt und die Lebenssituation der Menschen ganz praktisch verbessert.

Kurz gesagt: Jetzt ist Entwicklungspolitik gefordert. Jetzt sind Sie als zuständiger Minister gefordert, Herr Niebel. Nur, Herr Niebel, der Verantwortung, die damit verbunden ist, wird man doch nicht dadurch gerecht, dass man zuallererst damit beginnt - das ist jedenfalls Ihre Absicht -, denjenigen Hilfsorganisationen, die nicht bereit sind, mit dem Militär in Afghanistan zu kooperieren, die Gelder zu streichen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese törichte Vorgabe, die Sie eben wieder verteidigt haben, zeigt doch nur, dass Sie bis heute nicht die Grundidee guter Entwicklungspolitik verstanden haben. Entwicklungspolitik muss immer und zuallererst nach den Bedürfnissen der Menschen fragen und nicht danach, was militärisch nützlich erscheint. Eine Entwicklungspolitik, die sich stattdessen möglicherweise zu einem verlängerten Arm militärischer Interessen macht, ist - dafür gibt es unzählige Beispiele - zum Scheitern verurteilt. Konsequent zu Ende gedacht, nimmt eine solche Politik sogar billigend in Kauf, dass viele Hilfsorganisationen, die sich zum Teil seit Jahrzehnten in Afghanistan engagieren, ihre Arbeit einstellen bzw. einstellen müssen und sich aus Afghanistan zurückziehen. Wenn aber die Helfer Afghanistan verlassen, Herr Niebel, dann ist dieses Land verloren. Deshalb sage ich Ihnen deutlich: Korrigieren Sie diese Politik. Sie ist falsch und stellt einen fatalen Irrweg dar.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir Sozialdemokraten gerade in diesen Tagen und Wochen immer wieder darauf drängen, in diesem Jahr mit dem Truppenabzug zu beginnen, dann ist das vor allen Dingen von der Erkenntnis getragen, dass für Sicherheit und Stabilität in Afghanistan nur ein funktionsfähiger und legitimer Staat sorgen kann und dass solche Staatlichkeit, jedenfalls nicht auf Dauer, durch ausländische Militärkräfte ersetzt und erzwungen werden kann.

Es wird nicht gelingen, Afghanistan eine Chance für eine bessere Zukunft zu geben, wenn die Regierung Karzai nicht erhebliche und energische Anstrengungen unternimmt. Die Hauptaufgabe der afghanischen Regierung besteht jetzt darin, zwischen 2011 und 2014, wie verabredet, Stück für Stück die Sicherheitsverantwortung in Afghanistan zu übernehmen.

Mit der Ausbildung von inzwischen 150 000 afghanischen Soldaten und 113 000 Polizisten hat die internationale Staatengemeinschaft bis dato ihren Teil der Verabredung eingehalten und den Grundstein dafür gelegt, dass wir in diesem Jahr auch tatsächlich mit dem Übergabeprozess beginnen können. Wer aber diesen Übergabeprozess gleich zu Beginn schon wieder infrage stellt, indem er darüber nachdenkt, mit dem Truppenabzug auch später zu beginnen, der findet sich irgendwann möglicherweise im Chaos wieder, der läuft Gefahr, dass er einen unkoordinierten und überstürzten Abzug vornehmen muss. Denn eines steht aus meiner Sicht fest: 2014 werden sich die Kampfverbände der internationalen Staaten aus Afghanistan verabschieden.

Deshalb habe ich überhaupt kein Verständnis für das Hickhack und die Kakofonie hinsichtlich des Abzugsbeginns, die wir in den vergangenen Wochen innerhalb dieser Bundesregierung zwischen Außen- und Verteidigungsminister erlebt haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese Bundesregierung stand und steht nach wie vor in der Pflicht, deutlich zu sagen, wie sie Sicherheitsverantwortung an die Afghanen übergeben und in welcher Form sie mit dem Abzug der deutschen Truppen am Hindukusch beginnen will. Talkshows zur Selbstinszenierung vermeintlicher Kanzlerkandidaten können ein solches klares Wort übrigens nicht ersetzen.

(Beifall bei der SPD)

Solche Inszenierungen helfen auch Afghanistan keinen Schritt weiter. Sie lösen nicht eines der dortigen Probleme. Sie verbessern nicht die Lebensumstände auch nur eines einzigen Afghanen. Sie bringen nicht einen deutschen Soldaten sicher nach Hause. Kurz gesagt: Solche Selbstinszenierungen sind überflüssig wie ein Kropf.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Deshalb zum Schluss noch ein Dank an Sie, Herr Niebel. Als Sie von der Frankfurter Rundschau vor einigen Wochen gefragt wurden, ob auch Sie ähnliche Inszenierungen planen, haben Sie schlicht und einfach geantwortet:

Ich habe nicht vor, meine Frau nach Afghanistan mitzunehmen. - Ich hatte nach Ihren Einsätzen mit Militärkäppi und verspiegelter Sonnenbrille schon Schlimmeres befürchtet. Zumindest für diese Aussage dann doch recht herzlichen Dank, Herr Niebel.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Helga Daub ist die nächste Rednerin für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Helga Daub (FDP):

Herr Präsident! Liebe Kollegen! liebe Kolleginnen! Vor einem Jahr war es gerade Deutschland, das auf der Konferenz in London auf dem Konzept der vernetzten Sicherheit und der Übergabe in Verantwortung in Afghanistan bestanden hat. Dass es schon in diesem Jahr möglich sein wird, einzelne Regionen in die Verantwortung der Afghanen zurückzugeben, ist bei allen Rückschlägen, die es leider gegeben hat und die es möglicherweise auch noch geben wird, ein großer Erfolg.

Wir sind sehr betroffen und trauern um die gefallenen Bundeswehrsoldaten und um den getöteten zivilen Mitarbeiter. Unser Beileid gilt natürlich den Angehörigen.

Ja, es bleibt nach zehn Jahren Einsatz die Erkenntnis, dass es einen Königsweg, am besten noch nach westlichem Vorbild, so nicht geben wird, weder allein militärisch noch mit Aufbauhilfe. Deshalb braucht es die Koordinierung von beidem, vor allem aber Aufbauhilfe, insbesondere zum Aufbau der Infrastruktur. Zu lange sollten Soldatinnen und Soldaten quasi Entwicklungshelfer in Uniform sein, was außer in der heimischen Berichterstattung so schon lange nicht mehr funktioniert hat.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Auch oder gerade deshalb ist es so verkehrt, wenn Kritiker immer wieder - auch hier klang es wieder an - die angebliche Militarisierung der Entwicklungshilfe anprangern. Das Gegenteil ist der Fall: Diese Regierung will, dass die Beteiligten das machen, was sie am besten können - die Herstellung von Sicherheit die einen, den Aufbau die anderen. Hier kommt dann die Entwicklungshilfe ins Spiel.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir, eine Delegation des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, konnten Infrastrukturprojekte in Afghanistan in Augenschein nehmen, zum Beispiel ein Trainingscenter für die Lehrerausbildung, Schulen, neugebaute Straßen, ein Kraftwerk und Handwerksbetriebe, aber auch die Projekte zur Ausbildung der Polizei in Kabul und in Masar-i-Scharif.

Liebe Kollegen und Kolleginnen, sicher geht es Ihnen ähnlich wie mir: Ich werde immer wieder angesprochen und gefragt: „Glauben Sie wirklich an einen Erfolg in Afghanistan“?

(Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Natürlich!)

Glauben möchte ich daran gerne aus voller Überzeugung. Dass wir es am Ende wirklich schaffen, kann aber wohl niemand behaupten. Wir haben allerdings die besten Möglichkeiten; wir haben Chancen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Eine Garantie kann es nicht geben. Wenn es jedoch gelingt, in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung Sicherheit und Infrastruktur in nennenswertem Umfang herzustellen, wird es für die Taliban schwerer, die Menschen wieder für sich zu gewinnen. Das ist unsere große Chance. Wir sollten sie nutzen. Es ist vielleicht die einzige Chance.

Vor allem aber müssen wir die Herzen und Köpfe der jungen Menschen - daraus schöpfe ich besonders viel Zuversicht - gewinnen. Ich glaube, dazu haben wir die besten Voraussetzungen. Die Kinder und die Jugendlichen, insbesondere die Mädchen - das gilt es ganz besonders hervorzuheben - gehen offensichtlich gerne zur Schule; wir konnten uns davon überzeugen. Sie sind froh, wieder einen sicheren Schulweg zu haben, wieder ein Schulgebäude zu haben, sodass auch im Winter Unterricht stattfinden kann, was zuvor nicht immer der Fall war.

Die Kinder und die Jugendlichen haben uns auch von ihren Zukunftsplänen berichtet. Das hörte sich alles sehr positiv an. Sie sind die Zukunft des Landes. Gut ausgebildete und aufgeklärte Menschen lassen sich von den Taliban nicht ins Mittelalter zurückdrängen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie sehen ihre Zukunft aber auch nicht als Schaf- und Ziegenhirten - ich möchte diesem Berufsstand nicht zu nahe treten - oder aber als Landflüchtlinge in dem ohnehin schon überbevölkerten Kabul. Vor allen Dingen deshalb müssen wir in die Infrastruktur des Landes investieren. Dann gibt es genügend Möglichkeiten des beruflichen Fortkommens. Ansonsten werden diese jungen Leute ins Ausland gehen und ihre Fähigkeiten nicht dem eigenen Land zugute kommen lassen.

Die Herzen und Köpfe der Menschen gewinnen wir aber auch mit einem weiteren Aspekt, der in der Öffentlichkeit eher selten wahrgenommen wird: Ich meine die Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Es gibt noch sehr viel zu tun - das wissen wir alle -, um vor allen Dingen die Infrastruktur der ärztlichen Versorgung weiter zu verbessern. Es fehlt unter anderem zwar noch an qualifizierten Krankenschwestern und Hebammen; aber die Fortschritte werden von der Bevölkerung wahrgenommen. Sie kommen ihr unmittelbar zugute, sie sind sichtbar und führen zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität der Menschen, im Übrigen auch der Akzeptanz der Helfer dort. Das sollte uns Anlass zu Hoffnung geben und Ansporn zum Weitermachen sein.

Mütter- und Kindersterblichkeit konnten gesenkt werden. Frau Hänsel, Ihre Zahlen sind nicht mehr ganz aktuell. Im Human Development Index wird beispielsweise festgestellt, dass die Kindersterblichkeit in Afghanistan sinkt und von jedem Geburtenjahrgang fast 130 000 Kinder den fünften Geburtstag erleben. Wenn das kein Erfolg ist!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Impfraten - das betrifft Diphterie, Keuchhusten und Tetanus - sind enorm gestiegen. Ein Thema liegt mir sehr am Herzen, nämlich der Kampf gegen die Tuberkulose. Wir haben das im Unterausschuss „Gesundheit in Entwicklungsländern“ öfter behandelt. Mittlerweile konnten fast zwei Drittel der afghanischen Kinder gegen Tuberkulose geimpft werden.

Unsere Anstrengungen bei der Unterstützung des zivilen Aufbaus werden also wahrgenommen. Wie gesagt, es gibt noch Defizite. An deren Beseitigung müssen wir alle gemeinsam weiter arbeiten. Diese Regierung hat allerdings die Gelder für den Wiederaufbau verdoppelt, nämlich die Gelder, die direkt in Projekte und nicht in den Haushalt der Regierung fließen, was angesichts der vorhandenen Korruption auch eher kontraproduktiv wäre. Wir bleiben dran. Der zivile Aufbau ist uns wichtig.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin.

Helga Daub (FDP):

Ich komme zum Ende. - Ein Land, das Hoffnung hat, das Chancen eröffnet, entzieht dem Terrorismus den Nährboden. Das bedeutet auch mehr Sicherheit für uns hier.

Danke.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile nun der Kollegin Sibylle Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU):

Herr Präsident! „Wir müssen den zivilen Wiederaufbau Afghanistans stärken“ - das ist eigentlich seit Jahren, liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Mantra hier im Deutschen Bundestag, und zwar seit der Zeit, als nach den ersten militärischen Rückschlägen in Afghanistan der Ruf nach einem Strategiewechsel, nach einem umfassenden zivilen Ansatz laut wurde.

In der Debatte um Afghanistan habe ich schon viele Strategiewechsel miterlebt, aber nicht jeder, der so bezeichnet wurde, war auch einer. Aber dann kam Anfang letzten Jahres die Konferenz in London. Das Ergebnis dieser Konferenz kann man zweifelsohne als echten Strategiewechsel bezeichnen. Die internationale Gemeinschaft hat sich dazu verpflichtet, in Afghanistan massiv in den zivilen Sektor zu investieren. Allein Deutschland wird bis 2013 jedes Jahr bis zu 430 Millionen Euro bereitstellen, eine gewaltige Summe, die, wie ich finde, zeigt, dass wir es ernst meinen.

Doch auch die Afghanen müssen es ernst meinen und Verantwortung für die Zukunft ihres Landes übernehmen. Ich weiß: Darüber zu sprechen, war eine ganze Weile lang verpönt. Aber die Regierung Karzai muss ihre Zusagen genauso einhalten wie wir und am Aufbau eines funktionierenden, selbsttragenden Staatswesens intensiv mitarbeiten. Wir haben oft genug bemängelt, dass Karzais Regierung und Verwaltung anfällig für Korruption, Misswirtschaft und Missmanagement sind. Wenn die afghanische Regierung selbst nicht die Kraft zu passabler Regierungsführung hat, müssen wir den Druck erhöhen und mehr Unterstützung leisten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Abg. Dr. Sascha Raabe (SPD) meldet sich zu einer Zwischenfrage)

- Hören Sie erst einmal zu; vielleicht kommt es noch.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich sehe, dass es Einvernehmen gibt, dass der Kollege Raabe eine Zwischenfrage stellen darf. Bitte schön.

Dr. Sascha Raabe (SPD):

Frau Kollegin Pfeiffer, Sie sagten gerade, wie wichtig es ist, dass die Regierung Karzai und ihre Verwaltung frei von Korruption, also von Günstlings- und Vetternwirtschaft, ist. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir zustimmen, dass es auch ganz wichtig ist, dass das zuständige Ministerium mit gutem Beispiel vorangeht. Es gibt nun zum wiederholten Male den Fall, dass ein FDP-Parteifunktionär einen unbefristeten Vertrag mit Versorgungsgarantie im BMZ bekommt, obwohl er bereits eine Geschäftsführerposition in der GIZ, der neugegründeten Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, innehat. Der Personalrat hat das auf das Schärfste bemängelt, weil hier wiederholt das offizielle Bewerbungsverfahren umgangen wurde, um Parteimitglieder zu versorgen.

Würden Sie mir auch zustimmen, dass, wenn in Afghanistan eine Partei nach der Übernahme der Regierung zum Beispiel einer Wirtschaftsbranche einen großen steuerlichen Vorteil gewährt und daraufhin diese Branche der Regierungspartei eine Spende in Millionenhöhe gibt,

(Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Das ist ja peinlich!)

dieses in die Nähe einer schlechten Regierungsführung zu rücken wäre?

Glauben Sie nicht, dass man vor diesem Hintergrund auch im Ministerium von Herrn Niebel mit gutem Beispiel vorangehen sollte?

(Heinz-Peter Haustein (FDP): Fangt mal bei euch an!)

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU):

Lieber Kollege Raabe, wenn Sie mir sagen, was dieses Thema mit der Afghanistan-Debatte zu tun hat, die wir hier zurzeit führen, dann gebe ich Ihnen nach der Debatte eine Antwort darauf.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Good Governance, Frau Kollegin! - Christian Lange (Backnang) (SPD): Good Governance in Germany!)

Ich fahre dann fort. - Wenn wir mit den Afghanen eng zusammenarbeiten wollen, muss es um eine Partnerschaft auf Augenhöhe gehen. Das heißt aber auch: Jede Seite muss die Versprechen der jeweils anderen Seite ernst nehmen. Dazu gehört für mich - ich hoffe, auch für den einen oder anderen, vielleicht irgendwann für das ganze Haus - unter Umständen eine gewisse Konditionalisierung. Zu Recht wird vereinzelt geäußert, wir seien unseren finanziellen Verpflichtungen nicht nachgekommen. Wir halten uns daran, auch wenn es nicht immer leichtfällt. Wenn aber die andere Seite ihre Verpflichtungen nicht einhält, muss das Konsequenzen haben. Zusagen und Versprechen müssen eingehalten werden, und zwar von beiden Seiten. Zu oft sind wir schon enttäuscht worden.

Ich finde es richtig, dass bei Projekten eine Konditionalisierung stattfindet und im Übrigen auch konsequent angewendet wird. Nach der ersten Phase eines Projekts wird überprüft, ob die afghanische Regierung ihren Teil der Vereinbarung eingehalten hat. Nur im Erfolgsfall werden die Mittel für die zweite Projektphase freigegeben. So werden der Wille zu verantwortungsvoller Arbeit gefördert und der Erfolg der Projekte vergrößert. Umgekehrt müssen Gelder auch zurückgehalten werden, wenn die erste Projektphase nicht erfolgreich abgeschlossen wurde.

Ich gehe davon aus, dass das ganze Haus diesen neuen Ansatz unterstützt; denn er setzt erstens Anreize zu einer besseren Regierungsführung, fördert zweitens ein dringend notwendiges Umdenken in der Regierung Karzai und sichert darüber hinaus drittens, liebe Freunde, eine vernünftige Verwendung deutscher Steuergelder.

Damit einher geht allerdings auch etwas anderes. Ich möchte schon heute eine Warnung aussprechen. Sollten wir mit gutem Gewissen einmal Mittel für eine zweite Projektphase nicht ausschütten können, bedeutet dies, dass unter Umständen die 430 Millionen Euro, die uns zur Verfügung stehen, nicht ausgegeben werden. Das liegt dann nicht an uns, sondern am Missmanagement der afghanischen Seite. Darüber müssen wir offen reden. Was wir dann allerdings nicht brauchen können, sind Anfeindungen der Opposition, polemische Vorwürfe, von welcher Seite auch immer, sei es gar von den NGOs oder der Gebergemeinschaft. Von Vorwürfen, dass wir unsere Verpflichtungen nicht eingehalten haben, weil wir es unter den oben geschilderten Umständen eben nicht konnten, hat übrigens auch das afghanische Volk nichts; denn ohne diese Form der Erfolgs- und Projektkontrolle würden Korruption und Missmanagement unterstützt werden und würde Afghanistan in seiner eigenen Entwicklung behindert werden. Von Korruption und Missmanagement hat Afghanistan tatsächlich genug.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

All das können und dürfen wir nicht mehr länger hinnehmen; denn unsere Verantwortung gilt vor allen Dingen der jungen Generation - Frau Daub hat es gesagt -: Sie hat es verdient, eine Chance zu bekommen. Diese junge Generation müssen wir erreichen. Ihr müssen wir den Weg zu einer eigenen Lebensperspektive eröffnen. Die Hälfte der afghanischen Bevölkerung ist unter 16 Jahre. Sie kennt kaum noch die Schreckensherrschaft der Taliban oder gar die Kämpfe ihres Volkes gegen die Sowjetarmee. Daher ist es gut und richtig, dass wir in der Vergangenheit so intensiv in die Schulbildung der heranwachsenden Jugend investiert haben.

Aber das allein reicht nicht aus. Die Jugend braucht Perspektiven, die es ihr ermöglichen, einen Beruf zu ergreifen und sich selbst und ihre Familie zu ernähren. Wir müssen daher noch mehr als bisher in Aus- und Fortbildung, vor allem in Handwerksberufen, investieren und den Aufbau kleiner Betriebe fördern. Nur so können wir der jungen Generation zu Arbeitsplätzen verhelfen und ein Leben in einer stabilen und prosperierenden Gesellschaft ermöglichen, die keinen Nährboden für Terror und Fundamentalismus bietet.

Das alles, liebe Kolleginnen und Kollegen, braucht unsere langfristige Unterstützung. Doch wenn wir es mit dem Ansatz „Hilfe zur Selbsthilfe“ ernst meinen, so müssen wir auch bei der Verwaltung in Afghanistan ansetzen, die das alles koordinieren soll. Capacity Building ist zu einem wichtigen Schwerpunkt in der Entwicklungspolitik geworden. Die afghanische Regierung und ihre Verwaltung sind offensichtlich bis heute noch nicht in der Lage, die immensen Hilfsmittel, die ihr zur Verfügung stehen, sinnvoll zu verplanen. Mehr noch: Es mangelt an der „Bereitschaft und Fähigkeit, eine von politischen und individuellen Einflüssen unabhängige Verwaltung und Justiz aufzubauen“. Ich finde, das ist eine erfrischend klare und deutliche Aussage im Fortschrittsbericht der Bundesregierung; nachzulesen auf der Seite 41.

Im Umkehrschluss heißt das, dass man auch zehn Jahre nach Schaffung der staatlichen Institutionen noch immer viele Beispiele für willkürliche Entscheidungsprozesse, für unzureichende personelle Kapazitäten, für Korruption und damit fehlende Akzeptanz und Legitimität der Regierung Karzai gegenüber dem afghanischen Volk vorfindet. Verantwortlich dafür sind nicht nur die Geber, im Gegenteil. Zuallererst liegt das an den Verantwortungsträgern in der afghanischen Regierung.

Daher müssen wir gerade die Generation, die jetzt heranwächst, in den Aufbau der Verwaltungen mit einbeziehen und ihnen alle möglichen Bildungs- und Aufstiegschancen aufzeigen, die wir ihnen von außen nur ermöglichen können. Denn mit ihrem Zugang zu anderen Kulturen und ihren Erwartungen an die eigene Zukunft können sie ein Gegengewicht zur konservativen Gesellschaft ihrer Väter bilden und den Teufelskreislauf von Korruption und Machtmissbrauch durchbrechen.

Die internationale Gemeinschaft ist bis zur Grenze dessen gegangen, was ihr möglich war, um Erfolge und Fortschritte zu erzielen. Das ist ihr in einigen Bereichen auch sehr gut gelungen und kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Doch wenn Afghanistan diesen Weg weitergehen und als Land insgesamt erfolgreich sein will, muss die afghanische Regierung anfangen, ihre eigenen Hausaufgaben besser zu machen als bisher.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Nun liegt es an ihr, ob sie die langfristige Unterstützung und Hilfe der internationalen Gemeinschaft sinnvoll zum Wohl der ganzen afghanischen Gesellschaft nutzt oder ihr System der Abhängigkeiten und Korruption weiter am Leben erhalten will.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Karin Roth, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Karin Roth (Esslingen) (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr froh, dass wir heute diese Debatte vor der Beschlussfassung des Bundestages über den Antrag der Bundesregierung zur weiteren Mandatierung des Militäreinsatzes haben. Damit machen wir deutlich - das war ja offensichtlich auch die Strategie der Bundesregierung -, dass es im Bereich des zivilen Aufbaus und der Entwicklungspolitik eine eigenständige Strategie geben muss. Herr Minister Niebel, es ist deshalb gut und richtig, dass wir heute ein wenig Bilanz über die letzten zehn Jahre ziehen und aufzeigen, welche Veränderungen in den nächsten Jahren notwendig sind.

Zuallererst will ich deutlich machen, dass es von Anfang an ein Irrtum von Ihrer Seite war, den Einsatz der Entwicklungsorganisationen in Afghanistan mit der Aufforderung, mit dem Militär zusammenzuarbeiten, zu verbinden. Das war nicht notwendig und sogar schädlich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben von Anfang an eine Konfrontation in Kauf genommen. Man muss heute aber auch feststellen, dass Sie letztlich kapituliert haben.

(Heinz-Peter Haustein (FDP): Quatsch!)

Die Entwicklungsorganisationen haben Sie in die Schranken gewiesen; denn Sie sind auf die Arbeit dieser Organisationen angewiesen. Insofern täte uns ein bisschen weniger Doktrin und ein bisschen mehr Pragmatismus bei der Zusammenarbeit mit den Entwicklungsorganisationen gut.

Im Übrigen will ich darauf hinweisen, dass die erfolgreiche Bilanz über zehn Jahre Aufbauarbeit in Afghanistan - auch wir sehen die Erfolge - nicht allein Ihre Bilanz ist; Sie sind ja erst seit gut einem Jahr im Amt. Davor haben Rot-Grün und die Große Koalition die Weichen für die Entwicklungsarbeit gestellt. An dieser Arbeit sind also die meisten - nicht alle - in diesem Parlament beteiligt.

Ich will auch noch darauf hinweisen, dass die Sozialdemokraten immer gesagt haben: Eine gute Regierungsführung ist der Schlüssel für den Erfolg in Afghanistan. - Wir haben daher die Demokratisierungsprozesse sowohl auf Ebene der Zentralregierung als auch in den Regionen und Distrikten von Anfang an unterstützt. Man kann natürlich sagen, dass diese Unterstützung nicht ausreichend war und nicht schnell genug erfolgt ist. Aber im Fokus unserer Politik stand und steht immer noch die gute Regierungsführung; denn sie ist die Voraussetzung für die Bekämpfung von Korruption. Alles andere funktioniert nämlich nicht.

(Beifall bei der SPD)

Insofern sind damals wie heute - daran möchte ich erinnern - die Leitlinien richtig, nach denen die Eigenverantwortung der Afghanen zu fördern ist, die Rahmenbedingungen, zum Beispiel für Frauen und Gleichberechtigung, besonders zu verbessern sind und die Demokratisierung auf allen Ebenen mit Projekten der Zivilgesellschaft voranzubringen sind. Die Zivilgesellschaft muss doch zur Trägerin der ganzen Demokratisierung werden.

Insofern ist es auch gut - das möchte ich deutlich sagen -, dass jetzt mehr Geld für diesen Bereich in den nächsten Jahre zur Verfügung steht. Es sind übrigens keine 430 Millionen Euro, sondern nur 415 Millionen Euro, aber das ist immerhin auch gut. Es ist aber auch wichtig, dass das zuverlässig weitergeht.

Ganz klar ist auch - das möchte ich besonders erwähnen - all denjenigen zu danken, die in dieser schwierigen Sicherheitslage unter Einsatz ihres Lebens - wir haben heute Morgen ja des KfW-Mitarbeiters gedacht, der zu Tode gekommen ist - bereit waren, all das auf sich zu nehmen und bei der Umsetzung dieser ganzen Initiativen zu helfen. Ohne die engagierten Männer und Frauen der Nichtregierungsorganisationen, aber auch der staatlichen Durchführungsorganisationen, der KfW und der GIZ, könnten wir keinerlei Erfolge hier im Parlament diskutieren. Deshalb meine ich: Ihnen allen sei heute zuallererst gedankt und Respekt und Anerkennung gezollt. Das ist genauso notwendig wie der Dank an die Soldatinnen und Soldaten und die Polizeikräfte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Die positive Bilanz dieser Arbeit ist sichtbar. Während unter den bildungsfeindlichen Taliban zahlreiche Schulen zerstört und Mädchen und Frauen vom Besuch der Bildungseinrichtungen ausgeschlossen wurden, ist jetzt eine erfreuliche Trendwende festzustellen. Die Einschulungsrate liegt bei über 50 Prozent, und sie wird dank unserer Hilfe steigen. Besonders wichtig ist, dass der Anteil der Schülerinnen seit 2001 - damals lag er bei 0 Prozent - auf jetzt über 40 Prozent gestiegen ist. Das ist auch ein Erfolg unserer Arbeit, nicht nur des letzten Jahres, sondern der vergangenen Jahre.

Ganz klar ist für uns das Thema Bildung ein Schlüsselthema, nicht nur hinsichtlich einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung, sondern Bildung ist eben auch die Voraussetzung dafür, dass sich Männer und Frauen in den politischen Beteiligungsprozess einbringen können. Unsere Bemühungen in diesem Bereich müssen also fortgesetzt werden.

An dieser Stelle will ich sagen, dass mir die Rolle der Frauen in Afghanistan noch große Sorgen macht. Auch wenn wir einiges erreicht haben und der Frauenanteil im Parlament bei 28 Prozent liegt, wissen wir, dass die Frauen eine noch größere Rolle spielen könnten, wenn wir sie entsprechend unterstützen würden. Nach wie vor sind Frauen eher geduldet und kein gleichberechtigter Teil jener Gesellschaft. Frauenorganisationen - das muss man wirklich zur Kenntnis nehmen - werden noch belächelt. Manchmal erinnert man sich daran, dass das bei uns auch einmal so war. Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist schreckliche Normalität.

Die Frauenministerin - das ist besonders interessant - weiß noch nicht einmal, wie viel Geld die internationale Gemeinschaft der Regierung Karzai für Frauenprojekte zur Verfügung gestellt hat. Das muss sich ändern. Es kann nicht sein, dass ein Alibi-Ministerium für Frauen eingerichtet wird, das in Wirklichkeit nur dazu dient, Gelder der Gebergemeinschaft zu akquirieren.

(Beifall bei der SPD)

Die Bundesregierung muss daher darauf bestehen, dass das Frauenministerium und die Frauenministerin bei den Regierungsverhandlungen am Tisch sitzt, damit sie in Zukunft weiß, welche Projekte gefördert werden. So kann ihre Politik vonseiten der Bundesregierung unterstützt werden. Das ist konkrete Aufbauarbeit und konkrete Unterstützung der Frauen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin, Sie kommen bitte auch zum Schluss.

Karin Roth (Esslingen) (SPD):

Ja, gleich.

(Heiterkeit)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Gemeint war sofort, und das ist völlig in Ordnung.

Karin Roth (Esslingen) (SPD):

So viel Zeit muss sein. - Das Gleiche gilt natürlich auch für den Bereich der Frauen- und Müttersterblichkeit. Auch hier, denke ich, müssen wir ein bisschen zulegen, auch wenn die Zahlen besser geworden sind. Ebenso gilt das - das will ich besonders betonen - für die Korruptionsbekämpfung. Ich weiß, wie schwierig das ist. Ich weiß, wie kompliziert die Kontrollmaßnahmen sind. Aber ich weiß auch, dass die Menschen in unserem Land eher bereit wären, Afghanistan noch mehr zu unterstützen, wenn es uns gelänge, an dem zentralen Punkt der Korruption Erfolge nachzuweisen. Nicht nur für uns, sondern vor allen Dingen für die Menschen in Afghanistan ist die Korruption die Geißel der Entwicklung. Wir müssen alles dafür tun, dass sich das endlich ändert. Die Regierung Karzai muss die Karten auf den Tisch legen und transparente Regierungspolitik organisieren.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Jürgen Klimke für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Jürgen Klimke (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Übergabe in Verantwortung kann es nur geben, wenn wenigstens ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Teilhabe der gesamten Bevölkerung gegeben ist. Neben der heutigen sicherheitspolitischen und außenpolitischen Diskussion darf auch der Bereich der Menschenrechte nicht unbetont bleiben.

Fakt ist, dass sich die Menschenrechtslage in Afghanistan seit dem Sturz der Taliban 2001 verbessert hat. Frau Hänsel, wenn Sie sagen, 2,8 Millionen Menschen seien in Afghanistan auf der Flucht - ich kann diese Zahl nicht verifizieren -, dann darf ich Ihnen eine andere Zahl entgegenhalten: 5 Millionen Menschen sind in den letzten Jahren aus den Nachbarländern nach Afghanistan zurückgekehrt, weil sie eine Zukunft im Lande sehen, weil sie glauben, dass das Land eine Chance hat. Auch dies ist auf die Verbesserung der Menschenrechtssituation zurückzuführen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Menschenrechte sind in der afghanischen Verfassung verankert. Bei der Umsetzung gibt es Fortschritte in allen menschenrechtsrelevanten Bereichen, insbesondere aber, Frau Roth, im Hinblick auf die Situation der Frauen und Mädchen. Eine Bischöfin aus Hannover hat einmal gesagt, nichts sei gut in Afghanistan. Insbesondere auf die Frage der Menschenrechte bezogen ist diese Äußerung grundlegend falsch. Die westliche Gemeinschaft hat es geschafft, einen Wertekanon in dem muslimischen Land zu etablieren.

Schauen wir zurück, wie es vor 2001 in Afghanistan zum Beispiel mit den Frauen war: Ärztinnen, Rechtsanwältinnen, Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, Dozentinnen, Übersetzerinnen waren gezwungen, ihre Arbeit aufzugeben. Sie wurden gezwungen, zu Hause zu bleiben. Wohnungen, in denen Frauen lebten, mussten undurchsichtige Fenster haben, sodass die Frauen von außen nicht gesehen werden konnten. Frauen mussten Schuhe tragen, die keine Geräusche machten, sodass sie nicht gehört werden konnten. Die Frauen lebten in einer ständigen Angst um ihr Leben, das sie wegen jeder kleinen Missachtung von Gesetzen verlieren konnten. Frauen, die keine männlichen Verwandten hatten, mussten betteln oder verhungern, weil sie nicht arbeiten durften. Mädchen hatten keinerlei Chance auf Bildung. Sie wurden zwangsverheiratet und waren willkürlichen Vergewaltigungen ausgesetzt.

Wie ist die Lage der Frauen heute? Vor etwas mehr als einem Jahr hat das afghanische Parlament ein Gesetz zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen verabschiedet. Nun wird auch an der Umsetzung in den Provinzen gearbeitet. Vor diesem Hintergrund wurde eine Konferenz zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen in Faizabad durchgeführt. Initiator war das Amt für Frauenangelegenheiten in Badakhshan. Wir haben gehört, dass die Situation der Frauen im Parlament mit 28 Prozent eigentlich vergleichsweise gut ist. Die Burka ist nicht mehr alltägliche Zwangskleidung. Mädchen gehen in gut ausgestattete Mädchenschulen und können ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen. Viel wichtiger ist jedoch, dass die Frauen in den Stämmen wieder in ihrer Rolle anerkannt und gefördert werden. Die Bundesregierung hat mit ihren Instrumenten, angesiedelt im BMZ und im Auswärtigen Amt, gerade auch zu dieser positiven Entwicklung beigetragen. - So viel zur Begrifflichkeit „Kriegsführung“, Frau Hänsel!

Trotzdem gibt es immer wieder Kritik an dieser positiven Entwicklung, auch aus der Ecke der Grünen. Der Kollege Tom Koenigs, Menschenrechtsausschussvorsitzender - er ist nicht mehr da -, hat der Bundesregierung mangelnden Einsatz für die Menschenrechte in Afghanistan vorgeworfen. Seiner Meinung nach bietet Deutschland zu wenig Unterstützung beim Aufbau von Strukturen an Schulen und Universitäten, die eine liberale, demokratische und an Menschenrechten orientierte Staatsauffassung vertreten. Anscheinend hat sich der Kollege Koenigs, der eigentlich ein pragmatischer Politiker ist, von der gesamten Antihaltung seiner Partei, den Grünen, mitreißen lassen. Ich empfehle ihm, aber auch allen anderen Kolleginnen und Kollegen einen Blick in den Menschenrechtsbericht der Bundesregierung; darin wird die Arbeit in Afghanistan sehr ausführlich beschrieben. Zugleich wird hier deutlich gemacht, welche Herausforderungen noch bestehen; ich werde sie gleich ansprechen.

Grundlegend für die Menschenrechte in Afghanistan ist, dass die Afghanistan Independent Human Rights Commission dem neuen Verfassungsrang, den sie innehat, gerecht wird. Es wird eine der Aufgaben vor allen Dingen der Bundesregierung sein, dem sogenannten Islamvorbehalt, also dem Vorrang der Scharia vor den internationalen Menschenrechtskonventionen, aktiv entgegenzutreten.

In diesem Zusammenhang möchte ich die Rolle des Staatspräsidenten Karzai in der Frage des Gesetzes zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen besonders hervorheben. Ihm ist es zu verdanken - auch wenn über ihn viel Negatives gesagt wird -, dass das Gesetz ausdrücklich Vorrang vor allen entgegenstehenden Normen besitzt, also auch vor der Scharia. Klar ist: Auf diesem Wege ist es möglich, die universellen Menschenrechte mit Vorrang vor der Scharia zu verankern; das ist gut so.

Ich möchte im Besonderen auf den Aktionsplan der Bundesregierung hinweisen, der im Rahmen einer Arbeitseinheit für Menschenrechte im afghanischen Justizministerium umgesetzt wird. Mit der damit einhergehenden strukturellen Einbindung von Nichtregierungsorganisationen setzt die Bundesregierung inhaltliche Maßstäbe im Rahmen der Durchsetzung der Menschenrechte. Dieser Ansatz zeigt, dass die Kritik unter anderem der Grünen ins Leere läuft. Die Bundesregierung hat einen Plan, bei dem die Menschenrechte in Afghanistan nicht hintenanstehen.

Um Erfolg zu erzielen, ist eine langfristige, gemeinsame Anstrengung in der Partnerschaft mit der Regierung und dem Volk von Afghanistan nötig. Wir haben heute darüber diskutiert, dass sich Afghanistan immer noch erheblichen Herausforderungen in den Bereichen Sicherheit, Politik, Wirtschaft und Entwicklung gegenübersieht. Wir haben aber auch feststellen können, dass es eine neue gemeinsame Dynamik gibt.

Auf der Grundlage der Fortschritte, die wir erzielt haben, treten die ISAF und die Regierung von Afghanistan in eine neue Phase der gemeinsamen Anstrengungen ein. Dies erlaubt es uns, in der nächsten Woche dem neuen Mandat zuzustimmen, ausdrücklich zum Wohle der Menschenrechte in Afghanistan.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:

Ich schließe die Aussprache.

Quelle: Deutscher Bundestag: Stenografischer Bericht, 85. Sitzung, Berlin, 21. Januar 2011, Vorläufiges Protokoll; www.bundestag.de


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