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Konfrontative Kooperation

Die deutsche Rußland-Politik verfolgt traditionell zwei Strategien: Gegen den Kreml bei der Ostexpansion und mit ihm zur Durchsetzung bestimmter ökonomischer und politischer Interessen

Von Jörg Kronauer *

So darf es nicht weitergehen, meint Ewald Böhlke. Die deutsch-russischen Beziehungen »leiden unter einer eigentümlichen Schieflage«, bemängelt der Rußland-Experte am 12. Februar: Einerseits gebe es eine außerordentlich enge Kooperation zwischen den beiden Ländern auf gesellschaftlicher und vor allem auf wirtschaftlicher Ebene; andererseits müsse man konstatieren, daß seit geraumer Zeit die Spannungen erheblich zunähmen, angetrieben durch die »plakativen medialen Debatten«, die man gegenwärtig erlebe. Böhlke hält offenkundig nichts von der deutschen Medienkampagne gegen die russische Regierung, die anläßlich der Olympischen Spiele in Sotschi neue Kapriolen geschlagen hat. Das sei »eine echte Belastung für die deutsch-russischen Beziehungen«, erklärt er und fordert: »Beide Seiten müssen sich nun dringend wieder der Sacharbeit zuwenden und sich dazu aufraffen, sinnvolle Veränderungen gemeinsam voranzubringen – beginnend auf der politischen Ebene«. Böhlkes Wort hat Gewicht. Der studierte Philosoph, der 1989 seinen Abschluß an der Berliner Humboldt-Universität machte, arbeitete von 1995 bis 2012 in der »Zukunftsforschung« der Daimler AG; zu seinen thematischen Schwerpunkten gehörte dort die strategische Analyse von Kooperationsprojekten zwischen europäischen und russischen Unternehmen. Seit Januar 2013 leitet er nun das Berthold-Beitz-Zentrum der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), das sich mit Rußland, der Ukraine, Belarus und Zentralasien befaßt.

Die aggressiven Versuche des Westens, den russischen Einfluß in der Ukraine zu schwächen und das Land der eigenen Hegemonialsphäre einzuverleiben, haben es in Verbindung mit der begleitenden Medienkampagne gegen Rußland und die russische Staatsspitze beinahe vergessen lassen, daß die deutsche Rußland-Politik traditionell zwei verschiedenen Strategien folgt. Da gibt es einerseits das Bestreben, nach Osten zu expandieren und alle Mächte, die dort Einfluß haben und ihn auch gegen die deutsche Expansion behaupten wollen, zu bekämpfen. Andererseits hat sich die Kooperation mit Rußland aus unterschiedlichen Gründen stets als hilfreich erwiesen, um deutsche Interessen ökonomischer oder politischer Art durchzusetzen. Beide Strategien sind alt; sie werden seit 1945 immer wieder überlagert von bündnispolitischen Verpflichtungen, die sich aus dem transatlantischen Pakt ergeben. Ewald Böhlkes Intervention zeigt dabei exemplarisch, daß sogar in Zeiten scharfer Konfrontation die Kräfte im deutschen Establishment, die auf Kooperation setzen, nicht verstummen.

Ressourcenhunger

Zu den Motiven zählt zunächst das Interesse an den russischen Ressourcen. Rußland besitzt die mit beträchtlichem Abstand größten Erdgasvorkommen überhaupt sowie ansehnliche Erdöllagerstätten. Deutschland bezieht rund 40 Prozent seines Erdgases und etwa 30 Prozent seines Erdöls von dort. Dank jahrzehntelanger enger Zusammenarbeit haben deutsche Energiekonzerne, vor allem E.on und die BASF-Tochtergesellschaft Wintershall, ein festes Standbein in der russischen Erdgasbranche. Das verschafft sicheren Zugriff auf den Rohstoff und bringt gleichzeitig Profit. Rußland besitzt noch viel mehr, Metalle und Industriemineralien zum Beispiel. »Das Land ist größter Nickelexporteur«, berichtete 2012 die Außenwirtschaftsagentur »Germany Trade & Invest« (gtai): »Zu seinen wichtigsten Abnehmern gehört Deutschland.« In »Förderung, Verarbeitung und den Transport seiner Bodenschätze« werde es bis 2030 »Hunderte Milliarden Dollar« investieren, hieß es weiter bei der gtai, die damals eine detaillierte Studie hatte erstellen lassen, um bei deutschen Unternehmen um Aufmerksamkeit für die russischen Ressourcen zu werben. Der Titel lautete ganz unzweideutig: »Rohstoffgigant Rußland«.

Auch als Absatzmarkt hat Rußland steigende Bedeutung für die deutsche Industrie. Wegen der Rohstoffimporte übersteigt der Wert der Einfuhren nach Deutschland zwar noch den Wert der Ausfuhren, doch gehört Rußland prinzipiell »zu den großen Hoffnungsträgern der deutschen Exportwirtschaft«, wie es der Ost-Ausschuß der Deutschen Wirtschaft im Februar 2013 formulierte: »Während die gesamten deutschen Ausfuhren 2012 insgesamt um 3,4 Prozent zulegten, nahmen die Exporte nach Rußland um 10,4 Prozent« zu. »Mit einem Gesamtvolumen von über 80 Milliarden Euro« habe der deutsch-russische Handel 2012 »einen historischen Rekord« erreicht. Jüngst brach der Warenaustausch zwar ein wenig ein, doch gilt das Land nach wie vor prinzipiell als dankbarer Abnehmer deutscher Produkte. »Wir erwarten von der neuen Bundesregierung, daß sie den deutsch-russischen Beziehungen neue Impulse gibt«, teilte der Ost-Ausschuß-Vorsitzende Eckhard Cordes, Exchef des Handelskonzerns Metro, Mitte Oktober nach einem dreitägigen Arbeitstreffen von 36 zum Teil prominenten Managern und Politikern, darunter Horst Teltschik und Edmund Stoiber, ultimativ mit. Cordes hatte das Treffen gemeinsam mit dem stellvertretenden Gasprom-Vorstandsvorsitzenden Waleri Golubjew geleitet. Wichtige Forderungen, die man dort formuliert habe, seien im neuen Koalitionsvertrag zu finden, triumphierte er Ende November.

Rohstoffe und Absatzmarkt – die ökonomischen Interessen an einer Kooperation mit Rußland sind alt. Als Ersatz für den Verlust der außereuropäischen Kolonien habe die deutsche Wirtschaft gegen Ende des Ersten Weltkriegs »die Eroberung des kontinentalen Marktes« im Osten, insbesondere in Rußland angestrebt, hielt der Historiker Fritz Fischer 1961 in seinem epochalen Band »Griff nach der Weltmacht« fest. Nebenbei: Damals befürchteten deutsche Industrielle, wie Fischer schildert, »daß die Westmächte sie sogar aus Rußland, das sie als den natürlichen Absatzmarkt Deutschlands für die Zukunft betrachteten, verdrängen könnten«, und verlangten von der Reichsregierung Gegenmaßnahmen. Es kam wegen der Kriegsniederlage dann alles etwas anders als gedacht. Die bundesdeutsche Wirtschaft hat es bereits drei Jahre nach Gründung der BRD – am 17. Dezember 1952 – für nötig gehalten, den Ost-Ausschuß der Deutschen Wirtschaft ins Leben zu rufen, um die Geschäfte mit der Sowjetunion wieder zu beleben; sie erzielte ihre ersten großen Erfolge Ende der 1960er Jahre mit dem legendären Erdgas-Röhren-Geschäft. Dieses hat, wenn man so will, die Grundlagen für die heutigen deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen geschaffen: Die BRD erhielt bereits damals den begehrten Rohstoff und durfte zudem Industrieprodukte – zunächst vor allem Röhren – in der Sowjetunion verkaufen. Profitabel finanziert wurde das Ganze von der auch heute umfassend in Rußland tätigen Deutschen Bank.

Kooperation aus Tradition

Nicht nur die ökonomischen, auch die politischen Interessen an einer Kooperation mit Rußland – gegen den Westen! – haben Tradition. Als Vorbild deutsch-russischer Bündnisse gilt manchen die Konvention von Tauroggen vom 30. Dezember 1812: Preußen, bis dahin an die dominierende westliche Macht Frankreich gebunden, scherte aus, paktierte mit Rußland und erreichte letztlich Napoleons Sturz sowie den eigenen Aufstieg. Ohne russische Rückendeckung wäre die Gründung des Deutschen Reichs 1871 aus dem Krieg gegen Frankreich heraus kaum möglich gewesen. Der Vertrag von Rapallo aus dem Jahr 1922 und der Berliner Vertrag von 1926 sowie die damalige geheime deutsch-sowjetische Militärkooperation ermöglichten es Deutschland, sich neue Eigenständigkeit gegenüber den westlichen Mächten zu sichern. In ähnlicher Weise verschafften die Beziehungen zur Sowjetunion, die mit dem Erdgas-Röhren-Geschäft und der »Neuen Ostpolitik« intensiver wurden, der Bundesrepublik neue Spielräume gegenüber den westlichen Verbündeten. Nicht zuletzt 1990 profitierte Bonn von seinen Moskau-Kontakten: Aus der zerfallenden UdSSR kamen keinerlei Einwände gegen ein vergrößertes Deutschland, das seine gewachsene Macht seither auch gegenüber seinen westlichen Verbündeten ausspielen kann.

Dabei spielt Berlin auch seit 1990 immer wieder mit dem Gedanken, durch eine engere Kooperation mit Moskau ein Gegengewicht zum transatlantischen Westen zu schaffen – nach Art traditioneller Schaukelpolitik. Ein Beispiel? Ende September 2001, keine drei Wochen nach den Terroranschlägen vom 11. September, erklärte der damalige deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping in der Süddeutschen Zeitung, man müsse endlich zur »strategischen Kooperation« mit dem »strategischen Partner« Rußland übergehen. Berlin könne so daran mitwirken, eine »neue Weltordnung« zu schaffen, die »multipolar« sei. Die Äußerung, die auf eine Aufwertung Deutschlands gegenüber den USA hinauslief, fiel zu einer Zeit, da die Regierung Schröder die wirtschaftliche Kooperation mit Rußland verstärkte, Pläne für die Ostseepipeline vorantrieb und 2003 dann mit der Weigerung, sich umfassend am Irak-Krieg zu beteiligen, erstmals offen in einer zentralen Angelegenheit gegen Washington Stellung bezog. Zum 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion erklärten die Außenminister Deutschlands und Rußlands gemeinsam in einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.6.2011), »die deutsch-russischen Beziehungen« ruhten »auf dem erprobten Fundament einer ausgebauten strategischen Partnerschaft«. Auch in Zukunft wolle man die Kooperation »weiterhin fördern«. Und als die Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD) 2013 vier Szenarien zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen Berlin und Moskau durchspielte, da zog sie immerhin noch eine dauerhafte »strategische Partnerschaft« in Betracht: Sollte die EU zerbrechen und der deutsche Bündnisblock sich auf ein »Kerneuropa« reduzieren, dann könne eine Fortführung der Kooperation mit Rußland sich als nützlich erweisen, um die eigene Macht in der Weltpolitik zu stabilisieren, hieß es in einem Papier der Stiftung.

Als die Ebert-Stiftung ihre Szenarien für die Rußland-Politik vorstellte, da war die Phase enger deutsch-russischer Kooperation, die vor allem während der Amtszeit von Kanzler Gerhard Schröder und Vizekanzler Joseph Fischer eine Blüte erlebte, freilich längst vorüber und in eine Phase stärkerer Konfrontation übergegangen. Derartige Wechsel hat es in der Geschichte der deutschen Rußland-Politik immer wieder gegeben. Zweimal ist Berlin ja sogar mit kriegerischer Gewalt gen Osten gezogen und hat dabei ab 1941 einen massenmörderischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion geführt. 1991 unterstützte Bonn die Spaltung des Landes in insgesamt zwölf neue Länder. Das Ziel, das alte Zarenreich zu zerschlagen, hatte man schon im Ersten Weltkrieg verfolgt. Die machtpolitische Ursache ist simpel: So hilfreich die Kooperation mit Rußland aus ökonomischen und politischen Gründen sein mag – größeren Profit kann man eben aus Geschäften mit einem schwächeren Partner herausschlagen, der schlechtere Chancen hat, sich gegen deutsche Forderungen zur Wehr zu setzen.

Rückkehr zur Konfrontation

Daß Berlin in den letzten Jahren erneut in eine Phase stärkerer Konfrontation übergegangen ist, das liegt an den Fortschritten der ökonomischen und politischen deutschen Ostexpansion. Seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus in Osteuropa gelang es der Bundesrepublik recht rasch, dort zur Wirtschaftsmacht Nummer eins aufzusteigen. Es folgte die politische Eingliederung der Staaten Osteuropas in den deutschen Hegemonialblock, die EU, die mit massivem Druck gegen Einwände unter anderem aus Frankreich durchgesetzt wurde: Als es mal wieder Widerstände gegen die EU-Osterweiterung gab, da veröffentlichte der freundliche Herr Schäuble, dem man nun wirklich kein mangelndes Gespür für politische Symbolik nachsagen kann, am 55. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen ein Strategiepapier, in dem es hieß, Deutschland könne bei einem Ausbleiben der Aufnahme osteuropäischer Staaten in die EU »aufgefordert werden oder aus eigenen Sicherheitszwängen versucht sein, die Stabilisierung des östlichen Europa alleine und in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen«. Nach erfolgreicher EU-Osterweiterung ging es bald weiter voran. Anschließend an erste Vorbereitungen im Jahr 2008 wurde 2009 die »Östliche Partnerschaft« ausgerufen – der Versuch, den nächsten Ring von insgesamt sechs Staaten per Abkommen unumkehrbar mit der EU zu assoziieren. Weil es sich bei diesen sechs Staaten um Länder handelt, die zum unmittelbaren russischen Interessengebiet gehören und teilweise eminente strategische Bedeutung für Rußland haben, ist von Anfang an klargewesen, daß ihre Anbindung an die EU ohne Konfrontation kaum möglich sein würde. Diese zu führen obliegt aber, da die Wirtschaft ja weiterhin auf Kooperation angewiesen ist, vor allem den zuständigen staatlichen Stellen.

Die Phase stärkerer Konfrontation, in die die deutsch-russischen Beziehungen daher übergegangen sind, wird freilich überlagert von einem weiteren Faktor: von transatlantischen Bündnisinteressen. In den zwei Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus in Osteuropa sind die Vereinigten Staaten bestrebt gewesen, die – absehbar nicht dauerhafte – Ära ihrer singulären Hegemonie zu nutzen, um ihre Stellung in geostrategisch wichtigen Ländern und Regionen zu festigen und Gegner, soweit möglich, zu schwächen. Dazu gehörte auch der Versuch, die Phase der eigenen Stärke zu nutzen, um den Einfluß Rußlands zurückzudrängen. Vorrangig transatlantisch orientierte Milieus der deutschen Außenpolitik unterstützten dies prinzipiell und beteiligten sich unter anderem an der Förderung der Umstürze und Umsturzversuche (»Bunte Revolutionen«) in mehreren Ex-Sowjetrepubliken, die in Georgien 2003 und in der Ukraine 2004 prowestliche Kräfte an die Regierung brachten. Gelegentlich hat dies zu Differenzen in Berlin geführt, vor allem über die Frage, ob eine Beteiligung an antirussischen US-Aktivitäten nicht die Kooperationsinteressen der deutschen Industrie zu stark beschädige. Ungeachtet transatlantischer Bindungen hat die Bundesregierung jedoch in einer Hinsicht immer eine klare Linie verfolgt: Sie hat den NATO-Beitritt Georgiens und der Ukraine auf dem Bukarester Gipfeltreffen des westlichen Kriegsbündnisses im April 2008 verhindert. Beide Länder gelten in Berlin als exklusives deutsches Einflußgebiet, das per Assoziierung an die EU angebunden und von allzu starkem US-Einfluß freigehalten werden soll.

Zwei Ansatzpunkte der gegenwärtigen Berliner Konfrontationspolitik zeigten sich bei der jüngsten PR-Kampagne gegen Rußland anläßlich der Olympischen Winterspiele in Sotschi. Die erste betrifft die diversen Unruhegebiete im Nordkaukasus. Weil Moskau die dortigen Unruhen und insbesondere den Terror nicht in den Griff bekomme, müßten die Spiele nun »in einem Belagerungszustand« stattfinden, beschwerte sich in der laufenden Wettkampfphase der »Kaukasus-Experte« Uwe Halbach von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einem Interview. Im Nordkaukasus stelle sich »die Frage, wie gefestigt die ›Vielvölkerzivilisation‹ Rußland ist«, hatte er schon voriges Jahr behauptet. Welches Schicksal Ländern droht, die aus deutscher Sicht ungefestigte »Vielvölkerstaaten« sind, das weiß man seit der Zerschlagung Jugoslawiens. Dabei hat die Bundesrepublik durchaus dazu beigetragen, den Nordkaukasus zu destabilisieren. Bereits Mitte der 1990er Jahre habe der BND über seine Residentur in Moskau Kontakte zu tschetschenischen Separatisten unterhalten – weil Bonn, wie der Geheimdienst-Experte Erich Schmidt-Eenboom berichtet, »trotz der engen Bindung an Rußland tschetschenische Karten für den zukünftigen Machtpoker im Kaukasus in der Hand haben« wollte. Mehrere kampferprobte tschetschenische Separatistenführer hielten sich Ende der 1990er und in den frühen 2000er Jahren in der Bundesrepublik auf, um – auch in Gesprächen mit einflußreichen Außenpolitikern aus dem Bundestag – ihre gegen Rußland gerichteten Sezessionsanliegen vorzutragen. Ihr damaliges Wirken schwächt Moskau noch heute.

Mittelschicht nutzbar machen

Im Bestreben, die Regierung Putin zu schwächen, hat Berlin inzwischen einen zweiten Ansatzpunkt ausgemacht: die aufstrebenden russischen Mittelschichten. Beobachter sind sich einig, daß diese die Moskauer Protestdemonstrationen der Jahre 2011 und 2012 maßgeblich getragen haben. Wirtschaftlich klar im Aufstieg begriffen, fordern sie nun stärkere politische Mitsprache ein. Deutschland müsse »ganz neu« über die Adressaten seiner Rußland-Politik nachdenken, hieß es im September 2013 in der DGAP-Zeitschrift Internationale Politik. Zwar könne man von der »notwendigen Kommunikation mit den Entscheidungsträgern« nicht absehen, doch müsse man sie durch einen »Austausch mit gesellschaftlichen Gruppen« ausbalancieren. Als Partner biete sich »die wachsende junge städtische Mittelschicht« an, »die Ende 2011 und im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2012 auf die Straße gegangen ist«. Die erwähnten Mittelschichten gehören traditionell zu den Kooperationspartnern der deutschen Kulturinstitute und vor allem der parteinahen Stiftungen im Ausland. Ihr Aktivist Alexej Nawalny etwa, ein krasser Nationalist, der bei Aufmärschen gemeinsam mit Faschisten marschiert und Menschen aus dem Kaukasus als »Kakerlaken« beschimpft, wurde, als Gerichtsprozesse gegen ihn seine politischen Aktivitäten in Frage stellten, publizistisch unter anderem von der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt. In diesen Tagen wird Nawaly in deutschen Medien oft als »Antikorrup­tionsexperte« gefeiert: Er kritisiert mutmaßliche Korruption im Umfeld der Olympischen Spiele in Sotschi und wendet sich damit einmal mehr gegen die russische Staatsspitze.

Wie weit die parteinahen deutschen Stiftungen bei der Unterstützung oppositioneller Kräfte gehen, das zeigte jüngst die Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU): Ihr Zögling Witali Klitschko rief in Kiew zum Sturz der Regierung und zur Bildung von »Bürgerwehren« auf. Mit dieser Form politischer Intervention hat es zu tun, daß die russische Regierung im Mai 2012 Maßnahmen zur Kontrolle tatsächlicher oder angeblicher Nichtregierungsorganisationen aus dem Ausland in die Wege geleitet hat; diese müssen sich als »ausländische Agenten« registrieren lassen. Wenn ein Zögling einer staatsfinanzierten russischen Vereinigung auf dem Pariser Platz in Berlin oder auf der Place de la Concorde in Paris inmitten von Massendemonstrationen zum Sturz der Regierung und zur Übergabe der Macht an prorussische Kräfte aufriefe, ist nur schwer vorstellbar, daß die Bundesregierung dann nicht um einiges schärfer reagierte.

Bei alledem muß eines freilich vermieden werden: Daß man die Konfrontation unkontrolliert überspannt und die russische Regierung endgültig verprellt oder gar fest an die Seite Chinas treibt. Denn schließlich will ja die deutsche Wirtschaft ihren Zugang zu den russischen Rohstoffen und zum russischen Absatzmarkt keinesfalls verlieren. »Beide Seiten müssen sich nun dringend wieder der Sacharbeit zuwenden«, fordert Ewald Böhlke, und so hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) letzte Woche nach den Gesprächen mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow erklärt, man dürfe »die Beziehungen nicht allein auf die Unterschiede reduzieren«, sondern müsse »Gemeinsamkeiten herausstellen und an einer deutsch-russischen Positivagenda arbeiten«. Im Interview mit der russischen Zeitung Kommersant erklärte Steinmeier: »Uns verbinden vielfältige gemeinsame Interessen – verläßliche vertragliche Beziehungen, nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum, langfristige politische Stabilität.« Ist das nicht doch ein Bekenntnis zum Aufbau eines dauerhaften deutsch-russischen Bündnisses? Wohl kaum – vielmehr ein Hinweis darauf, daß man den Nutzen der Kooperation gerne weiterhin genießen würde, auch wenn man sich im Moment nach Kräften bemüht, den Kooperationspartner ein wenig zu schwächen; das macht ihn folgsamer und besser handhabbar.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 6. März 2014


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