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Ein jugoslawisches Schicksal abwenden

Russlands Nuklearstreitmacht

Von Wolfgang Kötter*

Als Josef Stalin im Frühsommer 1945 von Präsident Truman über die ersten amerikanischen Kernwaffentests unterrichtet wurde, verzichtete er nach außen hin auf jede Reaktion. Er hoffe, die Amerikaner würden es verstehen, von der Waffen "einen guten Gebrauch zu machen" - mehr soll er nicht gesagt haben.

Hinter den Kulissen allerdings erhielt das Forscherkollektiv unter dem Kernphysiker Igor Kortschatow Order, das eigene Kernwaffenprogramm "maximal zu beschleunigen". Mit einem gigantischen Aufwand an Personal und Material wurde das Projekt in Arsamas-16, dem Geburtsort der sowjetischen Atombombe südlich von Nishni Nowgorod, vorangetrieben. Am 29. September 1949 meldete die Nachrichtenagentur TASS, ein Kernsprengsatz sei erfolgreich getestet worden. Verringerte sich danach dank der Entwicklung einer eigenen Wasserstoffbombe der Rückstand zu den USA schon erheblich, löste der Start des ersten sowjetischen Weltraumsatelliten 1957 nicht nur den so genannten "Sputnikschock" aus, sondern versorgte die Amerikaner auch mit der Gewissheit, dass die Sowjetunion in der Lage war, die Ostküste von Maine bis Florida mit Interkontinentalraketen zu erreichen. Was folgte, war ein ungebremstes Wettrüsten, das die beiden Supermächte mit der Fähigkeit zu gegenseitiger Vernichtung ausstattete.

Erst die Erfahrung, mit der Kuba-Krise von 1962 am Rande eines nuklearen Infernos gestanden zu haben, ließ die Erkenntnis reifen, es bedurfte unverzüglich eines für beide Seiten verbindlichen Reglements, um das Risiko einer thermonuklearen Konfrontation zu verringern. So sicherte fortan der "heiße Draht" eine direkte Kommunikation zwischen Washington und Moskau. Ein Teilteststoppvertrag, der die radioaktive Verseuchung der Atmosphäre verbot, wurde ebenso besiegelt wie ein Atomwaffensperrvertrag, der die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen eindämmte. Schließlich führten seit Ende der sechziger Jahre die Verhandlungen über strategische Waffen (Strategic Arms Limitation Talks) zu den SALT-Verträgen, mit denen Obergrenzen für die Nuklearpotenziale beider Staaten fixiert wurden. 20 Jahre später gelang es sogar, dank des INF-Vertrages mit den Mittelstreckenraketen eine ganze Kategorie von Nuklearwaffen zu beseitigen.

Der Schrecken ist geblieben

Als die UdSSR Ende 1991 zerbrach, fiel deren nukleares Erbe an die Russische Föderation, die derzeit noch über annähernd 17.000 Atomsprengköpfe verfügt, von denen etwa die Hälfte einsetzbar ist. Dabei bilden die 613 landgestützten Interkontinentalraketen das Rückgrat der Trägermittel (zirka 4.400 strategische Waffen mit einer Reichweite von über 5.500 Kilometern), hinzu kommen 232 Raketen auf 14 weltweit operierenden U-Booten und 78 Langstreckenbomber. Der Bestand an taktischen Atomwaffen (Reichweite unter 500 Kilometer) wird auf etwa 3.400 geschätzt. Dieser Nachlass bereitet keine geringen Sorgen - sie sind den desolaten Sicherheitsstandards und enormen Verschrottungskosten ebenso zu verdanken wie einem generellen Verschleiß aller Waffensysteme, die teilweise vor mehr als einem Jahrzehnt in Dienst gestellt wurden. "Das Gleichgewicht des Schreckens ist zerbrochen", konstatierte die Financial Times, "aber der Schrecken ist geblieben".

Geschätzte 200 Millionen Tonnen gering- bis hochaktiven Nuklearmaterials verseuchen heute weite Landstriche Russlands, mehr als die Hälfte aller Sicherheitsinstallationen gilt als unbrauchbar und müsste ersetzt werden. Bei den meisten Atomanlagen fehlen technische Detektoren, die den Schmuggel von radioaktivem Material anzeigen. Nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) lagern auf dem Gebiet einiger UdSSR-Nachfolgestaaten (neben Russland vorzugsweise in Belarus, Kasachstan und der Ukraine) zahlreiche Strahlungsquellen, die wegen inadäquater Kontrollen jederzeit Terroristen in die Hände fallen könnten. Ein IAEA-Aktionsprogramm ist eigens darauf gerichtet, auf dem einstigen sowjetischen Staatsgebiet verschollenes radioaktives Material wieder aufzufinden.

Immer wieder werden Fälle von versuchtem oder erfolgtem Nukleardiebstahl bekannt. Der kurzzeitige Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats, General Alexander Lebed, berichtete gar vom Verschwinden transportabler Atomwaffen, den so genannten "Rucksackbomben". Er wisse nicht, was mit diesen Waffen passiert sei oder wo sie sich befänden - vielleicht habe man sie ins Ausland verkauft.

Strategische Verluste kompensieren

Die heutige Generation der pragmatischen Patrioten um Präsident Putin verfolgt machtbewusst und zielorientiert eine Politik des "Russozentrismus", um vom Selbstverständnis, besonders aber vom globalen Aktionsradius her Großmacht zu bleiben. Deshalb ist Russland nach dem 11. September 2001 unverzüglich in George Bushs "Anti-Terror-Allianz" eingerückt, ohne damit etwa seinen Widerstand gegen eine raumgreifende Osterweiterung der NATO aufzugeben. Eine Kombination aus Machtwillen und Kooperationsbereitschaft soll die Rivalität mit dem Westen in kontrollierbaren Grenzen halten.

Dabei ist die folgende Episode symptomatisch für die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Im Frühjahr beobachtete Präsident Putin unmittelbar vor der Präsidentschaftswahl das Manöver "Sicherheit 2004" der Nordmeerflotte, um in der schneidigen Uniform eines Oberbefehlshabers das eigene Wahlvolk als wachsamer Hüter des Vaterlandes zu beeindrucken und zugleich dem Ausland die militärische Potenz Russlands zu demonstrieren. Doch der geplante Abschuss zweier Interkontinentalraketen von Bord des Atom-U-Boots Nowomoskowsk unterblieb. Die nachgeschobene Erklärung, die Starts sollten lediglich simuliert werden, konnte wenig überzeugen.

Es steht außer Zweifel, dass sich der Kreml erheblichen geostrategischen Brüchen ausgesetzt sieht, wenn das vormals feindliche NATO-Bündnis nicht nur um die ehemaligen Verbündeten Bulgarien, Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei aufgestockt wird, sondern auch die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen einsammelt. Zwar ist der Vorwurf des nationalistischen Politikers Schirinowski, es handele sich "um die Vorbereitung einer Okkupation", völlig überzogen, gleichwohl haben sich die USA mit ihrem "Anti-Terrorfeldzug" eine militärische Präsenz in den zentralasiatischen Staaten Georgien, Kirgisien, Tadschikistan und Usbekistan verschafft, wie sie noch vor einem Jahrzehnt undenkbar gewesen wäre. An eine Kompensation dieser strategischen Verluste durch ein modernisiertes und effizienteres russisches Kernwaffen-Arsenal ist bisher kaum zu denken. Einerseits müssen die strategischen Offensivwaffen wegen zu hoher Kosten und wachsender Funktionsunsicherheit drastisch verringert werden, andererseits sind möglichst wirkungsvolle Angriffsraketen nötig, um auf den US-Raketenabwehrschirm zu reagieren.

Der ersten Option dient der mit den USA im Mai 2002 abgeschlossene SORT-Vertrag (Strategic Offensive Reduction Treaty) - ein Umrüstungsabkommen, das es Russland gestattet, bei einer ohnehin gebotenen Raketenverschrottung das Gesicht zu wahren. Beide Seiten verpflichten sich bei SORT, ihre strategischen Kernwaffenpotenziale bis 2012 um zwei Drittel auf je 1.700 bis 2.200 Systeme zu verringern. Es gilt als politischer Punktgewinn für Putin, dass sich die USA letztlich zu einem rechtsverbindlichen Vertrag anstelle der ursprünglich favorisierten Absichtserklärung bereit fanden. Allerdings setzte sich - entgegen dem russischen Verlangen nach Vernichtung aller demontierten Sprengköpfe - das US-Militär damit durch, einen Großteil in Reserve zu halten.

Äußert schwer indes fällt die Antwort auf das US-Raketenabwehrsystem, das in Alaska bereits stationiert wird und für einen einseitigen Ausstieg der USA aus dem ABM-Vertrag zur Begrenzung der strategischen Abwehrsysteme geführt hat. Lediglich als optischen Gründen bemühte sich Moskau, seinen Protest gegen diesen Schritt in moderate Formen zu gießen. In Wirklichkeit erfuhr es einen Statusverlust von historischer Dimension: Russland gilt in den Augen der Amerikaner nicht mehr als nuklearstrategisch ebenbürtig, was für Jahrzehnte die Geschäftsgrundlage der Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR war.

Die Aufholjagd hat begonnen

Um so mehr ist die politische Elite in Moskau davon überzeugt, dass ohne ein glaubwürdiges und funktionstüchtiges Kernwaffenpotenzial jegliche Großmachtambitionen auf Dauer hinfällig sind. Exemplarisch für dieses Denken ist das Urteil des Politologen Igor Maximytschew: Demzufolge war nach dem Zerfall der Sowjetunion "nur der Besitz des mit dem amerikanischen Arsenal vergleichbaren Nuklearwaffenpotenzials die Garantie dafür, dass Russland nicht das Schicksal Jugoslawiens ereilte", gegen dessen serbisch-montenegrinischen Rest die NATO im Frühjahr 1999 zu massiven Luftschlägen ausholte. Der Raketenschirm, so Maximytschew, solle Amerika nun aber befähigen, ungestraft auch gegen Russland nach dem serbischen und irakischen Muster vorgehen zu können.

In der mehrfach modifizierten russischen Militärdoktrin wird demnach den Kernwaffen weiterhin die zentrale Bedeutung zuerkannt, um das Land verteidigen zu können. Entgegen früheren sowjetischen Verzichtsgarantien (Gorbatschow) gilt auch ein Ersteinsatz wieder als prinzipiell möglich. Moskau beanspruche das Recht auf den Einsatz aller verfügbaren Kräfte und Mittel, inklusive der Nuklearwaffen - so Verteidigungsminister Iwanow jüngst bei einem Vortrag vor dem Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS) - "wenn alle anderen Mittel zur Lösung der Krisensituation erschöpft sind oder sich als unwirksam erwiesen haben. Russland betrachtet die Kernwaffen und die nukleare Abschreckung als Grundlage der globalen Stabilität." Abschreckung wird allerdings angesichts begrenzter eigener Möglichkeiten nicht mehr als gesicherte Fähigkeit zur Zerstörung des Gegners definiert. Erforderlich seien lediglich die "garantierte Fähigkeit zum Gegenschlag" und "durchbruchsfähige" strategische Raketen. Die enorme Wertschätzung der Nuklearwaffen für das russische Selbstverständnis verkörpert auch der Präsident selbst als Herr über den Tschemodanschik, den kleinen Koffer mit den Geheimcodes zum atomaren Einsatzbefehl. "Kein anderes Land hat derartige Waffensysteme", so Putin, Russland werde eine der größten Nuklearraketenmächte bleiben.

Zehn bis fünfzehn Jahre brauche man, so russische Experten, um entstandene strategische Nachteile auszugleichen. Allem Anschein nach wird als Reaktion auf die US-Raketenabwehr mit dem Ausbau der strategischen Offensivwaffen begonnen. Bereits jetzt sieht sich Moskau nicht mehr an die im START-II-Vertrag enthaltene Limitierung für Mehrfachsprengköpfe gebunden. Eine mobile Version des modernen Raketentyps Topol-M ist im Bau - neue Interkontinentalraketen mit Hunderten von Sprengköpfen, die hoch manövrierfähig sind und so den Abfangraketen ausweichen könnten, sollen ab 2010 in Dienst gestellt werden. Auch wenn es die Weltöffentlichkeit bisher kaum wahrnimmt - eine neue Runde des nuklearen Wettrüstens hat längst begonnen.



Russlands Kernwaffenarsenal 2004
  • Landgestützte Raketen (SS-18 / SS-19 / SS-24 M1 / SS-25 / SS-27):
    Anzahl: 613
    Zeitraum der Stationierung: 1979 - 1997
    Zahl der Sprengköpfe: 2.480
  • Seegestützte Raketen (auf U-Booten: SS-N-18 M1/ SS-N-20 /SS-N-23):
    Anzahl: 232
    Zeitraum der Stationierung: 1978 - 1986
    Zahl der Sprengköpfe: 1.070
  • Luftgestützte Raketen (an Bord von Flugzeugen: Tu-95 MS6 / Tu-95 / Tu-160):
    Anzahl: 78
    Zeitraum der Stationierung: 1984 - 1987
    Zahl der Sprengköpfe: 850
  • Strategische Sprengköpfe: 4.400
  • Taktische Sprengköpfe: 3.400
  • Eingelagerte Sprengköpfe: 9.200
  • Gesamtzahl: 17.000
Quelle: Bulletin of the Atomic Scientists



* Aus: Freitag, 39, 17. September 2004

Die Wochenzeitung "Freitag" veröffentlichte im Juli/August/September eine Reihe von Beiträgen über die Atomwaffenarsenale und -politik der Kernwaffenstaaten. Es erschienen:

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