"Auch bei den substrategischen Nuklearwaffen bleibt es unser Ziel, diese Waffen zu reduzieren"
Rede von Bundesaußenminister Fischer am 2. Mai 2005 auf der 7. Überprüfungskonferenz zum Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag in New York
Die 7. Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag (NPT: Non-Proliferation Treaty), die am 2. Mai 2005 in New York mit 188 Staaten begann, hatte auch innenpolitisch zu ein paar neuen Akzenten geführt. So haben plötzlich die etablierten Parteien - angefangen bei der FDP und den Grünen - ihr Herz für die atomare Abrüstung entdeckt und sich dafür ausgesprochen, dass die rund 150 auf deutschem Boden lagernden US-Atomwaffen abgezogen werden mögen. (Siehe hierzu: "US-Nuklearwaffen aus Deutschland abziehen"). Die Bundesregierung insgesamt verhielt sich etwas bedeckter, will sie doch ein neuerliches Zerwürfnis mit den USA nicht riskieren. So entfuhr dem deutschen Außenminister bei seiner Rede am Eröffnungstag der Konferenz lediglich ein gequälter Hinweis auf eine Debatte über die "substrategischen Nuklearwaffen" hier zun Lande: "In Deutschland gibt es dazu eine ernsthafte öffentliche Diskussion, die praktische Schritte fordert."
Im Folgenden dokumentieren wir die Fischer-Rede im vollen Wortlaut. Die Zwischenüberschriften haben wir der besseren Lesbarkeit wegen hinzugefügt.
New York, 2. Mai 2005
Herr Präsident,
Lassen Sie mich Ihnen herzlich zu Ihrer Wahl zum Vorsitzenden dieser
Überprüfungskonferenz gratulieren. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg für
Ihre wichtige Aufgabe, bei der Deutschland und die Europäische Union Sie
nach Kräften unterstützen werden. Mit dem Gemeinsamen Standpunkt der
Europäischen Union haben wir einen ersten wichtigen Beitrag zu einem
erfolgreichen Verlauf dieser Konferenz geleistet. Den Ausführungen der
luxemburgischen EU-Präsidentschaft schließe ich mich an.
In diesen Tagen jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 60. Mal.
Wir gedenken der furchtbaren Zerstörung und des unermesslichen Leids,
das dieser Krieg über so viele Menschen gebracht hat. Der Jahrestag des
Kriegsendes ist auch Anlass, uns noch einmal der Lehren bewusst zu
werden, die die internationale Staatengemeinschaft aus den Schrecken
dieses Krieges gezogen hat.
An zentraler Stelle steht dabei die Einsicht, dass wir einer
internationalen Ordnung bedürfen, um "künftige Geschlechter vor der
Geißel des Krieges zu bewahren", wie es die Gründer der Vereinten
Nationen in der Präambel der Charta formuliert haben.
Um Frieden und Sicherheit überall auf der Welt zu wahren, brauchen wir
eine effektive multilaterale Zusammenarbeit, die auf gemeinsamen Regeln
gründet und durchsetzungsfähig ist. Das gilt heute, nach dem Ende der
Blockkonfrontation des Kalten Kriegs und nach dem 11. September, mehr
denn je.
Denn täuschen wir uns nicht: Das Risiko eines nuklearen Krieges gehört
keineswegs der Vergangenheit an. Und wir haben in den letzten Jahren
viel zu oft die brutale, skrupellose Gewalt des internationalen
Terrorismus erfahren müssen. Welche verheerenden Konsequenzen nukleare
Waffen in den Händen terroristischer Gruppen haben könnten, möchte man
sich kaum ausmalen. Die Gefahr des Nuklearterrorismus ist jedoch
durchaus als real einzuschätzen.
Weil kein Staat diesen neuen Herausforderungen alleine und aus eigener
Kraft begegnen kann, brauchen wir ein wirksames internationales Regime,
um den Bedrohungen für unsere Sicherheit zu begegnen, die von
Nuklearwaffen und ihrer Weiterverbreitung ausgehen. Der Nukleare
Nichtverbreitungsvertrag spielt dabei eine ganz zentrale Rolle.
Wir dürfen deshalb nicht die Augen verschließen vor den Gefahren, denen
dieses Regelwerk ausgesetzt ist. Verletzungen der
Nichtverbreitungsverpflichtung erfüllen mich dabei ebenso mit Sorge wie
Anzeichen für eine wieder anwachsende Bedeutung nuklearer Waffen. Wir
müssen daher gemeinsam alles daran setzen, die Integrität des Nuklearen
Nichtverbreitungsvertrags zu wahren und seine Autorität noch weiter zu
stärken.
Dabei muss unser Augenmerk den zwei zentralen Anliegen dieses Vertrages
gleichermaßen gelten. Zum einen gilt es angesichts neuer und wachsender
Proliferationsgefahren sicherzustellen, dass die Verpflichtung zur
Nichtverbreitung eingehalten wird. Gleichzeitig brauchen wir eine neue
Dynamik in der nuklearen Abrüstung.
Vier Kernaufgaben
Lassen Sie mich mit dem ersten Aspekt, der Nichtverbreitung, beginnen.
Hier halte ich es für dringlich, dass wir uns vier Kernaufgaben zuwenden.
Erstens: Wir können Verletzungen des Nichtverbreitungsvertrags nur
wirksam begegnen, wenn wir von ihnen erfahren. Um Verstöße besser zu
entdecken, müssen die Verifikationsmöglichkeiten, die uns heute schon
zur Verfügung stehen, verbessert werden. Vor allem geht es darum, das
IAEO-Zusatzprotokoll zu universalisieren und es zum neuen
Verifikationsstandard für den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag zu machen.
Zweitens: Wir müssen verhindern, dass zivil genutzte Kernenergie für
militärische Zwecke missbraucht wird. Denn es kann kein Zweifel
bestehen: Wer den Brennstoffkreislauf beherrscht, hat immer auch die
Option auf ein Nuklearwaffenprogramm. Dies ist eine der ganz zentralen
Herausforderungen, der wir uns auf dieser Konferenz gemeinsam stellen
müssen.
Lassen Sie mich eines unmissverständlich klarstellen: Hier geht es nicht
darum, das Recht auf die zivile Nutzung der Kernenergie in Frage zu
stellen. Jedes Land trifft hier auf der Grundlage seiner vertraglichen
Verpflichtungen seine eigene Entscheidung. Und Deutschland hat sich für
den Ausstieg aus der Nutzung der Nuklearenergie entschieden. Gleichwohl
müssen wir gemeinsam eine Antwort auf ein objektives, die gesamte
Staatengemeinschaft betreffendes Proliferationsrisiko finden, das sich
aus dem Schließen des Brennstoffkreislaufs ergeben kann.
Drittens: Wir alle sind uns der beispiellosen Gefahren bewusst, die von
Atomwaffen in den Händen terroristischer Gruppen ausgehen könnten. Wir
müssen deshalb alles tun, um zu verhindern, dass diese Gruppen Zugriff
auf für Waffen nutzbare Nuklearmaterialien bekommen. Sicherheit und
physischer Schutz von Atomwaffen und Nuklearmaterialien müssen deshalb
noch weiter erhöht werden.
Viertens: Immer wieder sind wir mit Situationen konfrontiert, in denen
der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag nicht eingehalten wird. Wir
brauchen deshalb einen neuen strategischen Konsens im Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen, wie wir mit schwerwiegenden Verletzungen des
Vertrags umgehen und seine Durchsetzung stärken wollen.
Es ist erforderlich, die nukleare Nichtverbreitungsverpflichtung in
diesen vier wichtigen Punkten zu stärken. Aber das allein reicht nicht
aus. Wir müssen uns auch den regionalen Entwicklungen zuwenden, die uns
gegenwärtig mit Sorge erfüllen. Dabei müssen wir alle diplomatischen
Möglichkeiten nutzen, um tragfähige Lösungen zu erreichen und die
Besorgnisse der internationalen Staatengemeinschaft auszuräumen.
Nordkorea und Iran
Auf der koreanischen Halbinsel bieten die Sechs-Parteien-Gespräche die
Chance zur Lösung des nordkoreanischen Nuklearrisikos. Sie darf nicht
vertan werden. Ich fordere Nordkorea auf, unverzüglich zu den
Sechs-Parteien-Gespräche zurückzuzukehren.
Die internationale Staatengemeinschaft erwartet von der nordkoreanischen
Regierung, dass sie alle ihre Verpflichtungen aus dem
Nichtverbreitungsvertrag vollständig und verifizierbar erfüllt. Das ist
nicht nur unverzichtbar für die regionale Stabilität, sondern liegt auch
im ureigensten Interesse Nordkoreas, davon bin ich überzeugt. Das Ziel
bleibt eine nuklearwaffenfreie koreanische Halbinsel.
Erlauben Sie mir ein Wort zu Iran: Die aufgedeckten Verletzungen des
iranischen Sicherungsabkommens mit der IAEO haben das Vertrauen in die
Absichten erschüttert, die Iran mit seinem Nuklearprogramm verfolgt.
Großbritannien, Frankreich und Deutschland verhandeln, unterstützt durch
den Hohen Repräsentanten der Europäischen Union, intensiv mit Iran, um
die ernsthaften Besorgnisse der internationalen Staatengemeinschaft
auszuräumen.
Ein nuklearer Rüstungswettlauf im Nahen und Mittleren Osten hätte
unabsehbare Folgen für unsere Sicherheit, die über die Region weit
hinausgingen. Eine solche Entwicklung zu verhindern, ist unser Anliegen.
Der Verhandlungsprozess hat bereits Früchte getragen. Ich möchte hier
ausdrücklich die iranische Bereitschaft hervorheben, mit der IAEO bei
der Aufklärung der noch offenen Fragen zusammenzuarbeiten. Iran hat sich
außerdem verpflichtet, alle die Urananreicherung und die
Wiederaufarbeitung betreffenden Aktivitäten für die Dauer der
Verhandlungen zu suspendieren. Diese ersten Schritte haben einen
Fortgang der EU 3-Gespräche mit Iran ermöglicht. Der eingeschlagene Weg
muss entschlossen weiterverfolgt werden. Hierzu rufe ich Iran auf, seine
Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen und den einschlägigen
IAEO-Resolutionen vollständig einzuhalten.
Gemeinsam streben wir ein Langzeitabkommen mit Iran an. Im Mittelpunkt
steht dabei die Vereinbarung von "objektiven Garantien" – so haben wir
es mit Iran festgelegt. Sie sollen sicherstellen, dass Irans
Nuklearprogramm ausschließlich für friedliche Zwecke genutzt werden
kann. Dies ist das Zentrum des Problems. Wir müssen es gemeinsam
zufriedenstellend lösen. Gelingt dies, so würde eine Einigung auf den
dauerhaften Verzicht auf die Urananreicherung eine völlig neue
Perspektive für die Beziehungen zwischen Europa und Iran eröffnen.
Zum Stand der nuklearen Abrüstung
Wir müssen auch den Stand der nuklearen Abrüstung einer kritischen
Würdigung unterziehen.
Dabei befinden wir uns in einer historisch einmaligen Situation: Das
Ende des Ost-West-Gegensatzes hat ganz neue Chancen für die Abrüstung
eröffnet. Das Ende der strategischen Rivalität zwischen zwei
verfeindeten Blöcken ermöglicht es, die nuklearen Arsenale weiter zu
reduzieren. Wir sollten hier die vorhandenen Bestände an strategischen
und substrategischen Nuklearwaffen einer weiteren Überprüfung
unterziehen und sie energisch weiter abbauen.
Ich möchte daher mit aller Entschiedenheit dafür eintreten, diese
Dynamik nicht versanden zu lassen. Was wir jetzt brauchen, sind neue
Impulse in der nuklearen Abrüstung – und das auch, um der Gefahr der
Erosion des Nichtverbreitungsvertrags wirksam begegnen zu können.
Lassen Sie es mich ganz klar sagen: Eine Welt frei von der Bedrohung
durch atomare Waffen bleibt das Ziel deutscher Politik. Wir sind uns
dabei bewusst, dass die vollständige Abschaffung von Kernwaffen nicht
von heute auf morgen erreichbar ist. Gerade deshalb brauchen wir aber
einen schrittweisen Ansatz, der unumkehrbar zu diesem Ziel der
vollständigen Abschaffung von Kernwaffen führt.
Dreizehn entscheidende Schritte benennt das Aktionsprogramm, das wir bei
der letzten Überprüfungskonferenz alle zusammen vereinbart haben. Für
den Erfolg der nuklearen Abrüstung sind diese dreizehn Schritte
Grundlage und Maßstab zugleich.
Die nächsten Aufgaben: Auch Nuklearstaaaten sollen abrüsten
Wir haben seit dem Ende des Kalten Kriegs in der nuklearen Abrüstung
bedeutende Fortschritte gemacht. Entscheidende Aufgaben liegen jedoch
noch vor uns.
So muss der Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen
(CTBT) endlich in Kraft treten. Dies bleibt ein Anliegen, dem wir uns
besonders verpflichtet fühlen. Wir erwarten, dass die
Nuklearwaffenstaaten ihre Nukleartestmoratorien bis dahin einhalten und
daran keinerlei Zweifel aufkommen lassen.
Dringend nötig ist auch, dass wir endlich den Stillstand der Genfer
Abrüstungskonferenz überwinden und Verhandlungen über ein Verbot der
Produktion von spaltbarem Material für Waffenzwecke aufnehmen. Die
Deblockierung der Abrüstungskonferenz wäre ein sichtbarer Beweis für die
Bereitschaft, die globalen Bemühungen um nukleare Abrüstung entschlossen
fortzusetzen.
Von besonderer Bedeutung ist auch, dass sich die Nuklearwaffenstaaten
erneut zu ihrer unzweideutigen Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung
bekennen und diese durch vertrauensbildende Schritte unterstreichen.
Auch bei den substrategischen Nuklearwaffen bleibt es unser Ziel, diese
Waffen zu reduzieren – bis hin zu ihrer vollständigen Abschaffung. In
Deutschland gibt es dazu eine ernsthafte öffentliche Diskussion, die
praktische Schritte fordert.
Diese Perspektive betont auch der Gemeinsame Standpunkt der Europäischen
Union zu dieser Überprüfungskonferenz. Die Europäische Union greift
darin einen schrittweisen Ansatz auf, der in einem Arbeitspapier
vorgeschlagen wird, das Deutschland im Vorbereitungsausschuss zu dieser
Konferenz vorgelegt hat.
Wir schlagen zum Beispiel als ersten Schritt die vollständige Umsetzung
der von den USA und Russland 1991/92 erklärten jeweiligen einseitigen
Verpflichtungen zur Reduzierung ihrer substrategischen Nuklearwaffen
vor. Es geht uns also darum, diese Waffen auf allen Seiten zu reduzieren
und zu eliminieren.
Wir denken weiterhin an eine Vereinbarung von Transparenzmaßnahmen zur
Erfassung dieser Waffen. Ein weiterer Schritt könnte dann die
Formalisierung und Verifikation der einseitigen Verpflichtungen sein.
Das wären wichtige Signale, um der Abschaffung substrategischer
Nuklearwaffen näher zu kommen.
Auch 35 Jahren nach seinem Inkrafttreten dürfen wir den
Nichtverbreitungsvertrag nicht als Selbstverständlichkeit betrachten.
Das wäre unverantwortlich und fahrlässig. Wir dürfen die Risiken nicht
unterschätzen, denen dieses Vertragsregime heute mehr denn je ausgesetzt
ist.
Deshalb müssen wir zusammen alles daran setzen, diese Konferenz
gemeinsam zu einem Erfolg zu machen. Wir haben dabei keinen Grund, von
ehrgeizigen Zielen Abstand zu nehmen. Deutschland wird sich deshalb mit
Nachdruck dafür einsetzen, dass am Ende dieser Konferenz ein
überzeugendes Schlussdokument mit weiterführenden Vereinbarungen und
Empfehlungen steht.
Wir stehen gemeinsam vor der Aufgabe, die Bedrohung der globalen
Sicherheit durch Nuklearwaffen und ihre Proliferation zu bekämpfen.
Diese Herausforderung können wir nur gemeinsam erfolgreich bewältigen,
wenn alle ihren Beitrag leisten: Die Kernwaffenstaaten sind aufgerufen,
ernst zu machen mit ihrer Verpflichtung weiter abzurüsten. Die
Nichtnuklearstaaten müssen ihr legitimes Recht auf friedliche Nutzung
der Kernenergie so ausüben, dass Sorgen vor Missbrauch und einer
militärischen Nuklearisierung nicht entstehen.
Wohl kaum eine andere Epoche in der Geschichte war so von
zerstörerischem Nationalismus, verheerenden Kriegen und bedrohlicher
Aufrüstung geprägt wie das 20. Jahrhundert. Es war im schlechtesten
Sinne ein "Zeitalter der Extreme", wie es der britische Historiker Eric
Hobsbawm einmal genannt hat.
Es ist an uns zu verhindern, dass das gerade angebrochene 21.
Jahrhundert von ebensolchen Extremen geprägt wird. Wir müssen vielmehr
alles daran setzen, dass das 21. Jahrhundert zum Zeitalter einer
effektiven multilateralen Ordnung wird.
Wenn es uns gelingt, den Nichtverbreitungsvertrag auf dieser Konferenz
zu wahren und zu stärken, kann er dabei eine zentrale Rolle spielen.
Lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten.
Vielen Dank.
erschienen: Montag 02.05.05
Quelle: Homepage des Außenministeriums:
www.auswaertiges-amt.de
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