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Arme werden ärmer

Florierende Rohstoffexporte verschärfen Abhängigkeit wenig entwickelter Länder. UN-Konferenz fordert mehr Technologietransfer und neue Entschuldungsprogramme

Von Isolda Agazzi/IPS *

Den am wenigsten entwickelten Ländern (Least Developed Countries – LDC) ist es nicht gelungen, während des jüngsten Rohstoffexportbooms auch für andere Produkte neue Absatzmärkte zu finden. Wie die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) in der vergangenen Woche feststellte, hat sich die Abhängigkeit der ärmsten Staaten von Nahrungsmitteleinfuhren in den vergangenen Jahren sogar noch vergrößert.

Im Zeitraum 2002 bis 2007 hätten diese Länder beim Bruttoinlandsprodukt immerhin jährliche Zuwachsraten von durchschnittlich sieben Prozent verzeichnet, sagte UNCTAD-Generalsekretär Supachai Panitchpakdi, der in Genf den Jahresbericht 2010 zur Lage der LDC vorstellte. Die zeitweilig höheren Preise, vor allem für Erdöl und -gas, hätten allerdings keine Lösung für das Problem der Preisschwankungen gebracht. Die LDC seien weiterhin in erster Linie auf die Ausfuhr von Rohstoffen angewiesen. Dieses Wachstumsmodell sei offensichtlich alles andere als nachhaltig.

Zu diesem Schluß kam auch Zeljka Kozul-Wright, die die LDC-Abteilung der UNCTAD leitet. »Die Globalisierung hat nicht alle gleich behandelt«, erklärte sie bei der Vorstellung des Berichtes. Die ärmsten Länder seien aufgrund ihrer Abhängigkeit von Rohstoffexporten die Verlierer. Während der Boomjahre sei der verarbeitende Sektor dort schwächer geworden«, stellte sie fest. Die Reindustrialisierung müsse deshalb zum zentralen Thema der kommenden Jahre werden.

Nach Einschätzung von Panitchpakdi hat sich die wirtschaftliche Lage der LDC vor allem wegen ihrer zu raschen Marktöffnung verschlechtert. »Um Vorteile aus einer umfassenden Handelsliberalisierung ziehen zu können, müssen die Regierungen neue Regelungen für die Industrie in Kraft setzen«, erklärte der UNCTAD-Chef. Afrikanische Staaten, in denen sogenannte Struktur­anpassungsprogram­me des IWF durchgeführt würden, hätten diese Möglichkeit allerdings nicht. In Sambia beispielsweise sei die Textilindustrie inzwischen vollständig am Boden, da der Markt mit asiatischen Billigimporten überschwemmt werde.

Anders als in Afrika ist die ökonomische Diversifikation in den meisten Staaten Asiens wesentlich Asien weiter fortgeschritten. Kozul-Wright hob hervor, daß die asiatischen LDC ihre Exportwirtschaft vor allem im arbeitsintensiven Fertigungsbereich weiter entwickelt hätten. Allerdings stießen diese Sektoren mittlerweile an Wachstumsgrenzen. Die Armut in den LDC hat infolgedessen deutlich zugenommen. Laut dem Report mit dem Titel ›Towards a New International Development Architecture for LDCs‹ ist die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen in den Exportboomjahren um jährlich drei Millionen gestiegen. 2007 seien schätzungsweise 421 Millionen Menschen vom Elend betroffen gewesen – doppelt so viele wie 1980. Dies entspricht 53 Prozent der Gesamtbevölkerung aller LDC, die bis 2017 wahrscheinlich auf eine Milliarde anwachsen wird.

Die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten sei inzwischen verheerend, sagte Panitchpakdi. Die Kosten dafür hätten sich zwischen 2002 und 2008 von neun Milliarden auf 24 Milliarden US-Dollar fast verdreifacht. Da auf den Märkten für Lebensmittelrohstoffe eine neue Spekulationswelle im Anrollen begriffen ist, könnte sich diese Entwicklung sogar noch beschleunigen. Der UNCTAD-Generalsekretär schlug als Alternative eine »neue internationale Wirtschaftsarchitektur« vor, die über die Entwicklungshilfe und die bisherigen Handelsmodelle hinausgehe. Auch die Technologieentwicklung und die Folgen des Klimawandels müßten dabei berücksichtigt werden.

Im Finanzsektor kritisierte die UNCTAD den Wegfall von jährlich 23 Milliarden Dollar an offizieller Entwicklungshilfe und sprach sich für eine ausgewogene Verteilung von Hilfen für soziale Zwecke und zur wirtschaftlichen Förderung aus. Das Organ der UN-Vollversammlung forderte außerdem »innovative Wege« zur Finanzierung sowie eine stärkere Zusammenarbeit mit dem privaten Sektor vor allem bei Infrastrukturprojekten. Angesichts der gravierenden finanziellen Schieflage vieler LDC müßten Entschuldungsprogramme aufgestockt werden, hieß es.

Laut dem UNCTAD-Bericht sollte auch die antizyklische Finanzpolitik zum Ausgleich schwankender Preise neu diskutiert werden. Betont wurde außerdem die Notwendigkeit, im Derivatehandel mit Rohstoffen eine Transaktionssteuer einzuführen und die Rohstoffpreise stärker zu stabilisieren.

Von den Industriestaaten erwartet die UN-Organisation einen größeren Technologietransfer in die ärmsten Länder. Dies sei eine »moralische Verpflichtung«, hieß es. Angemahnt wurde auch eine angemessene Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen. Denn die LDC produzierten lediglich ein Prozent der globalen Treibhausgase, seien aber von den Folgen des Klimawandels am stärksten betroffen.

* Aus: junge Welt, 30. November 2010


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